Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie, München: C.H.Beck 2018, 368 S., 44 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-70025-5, EUR 26,95
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Jakob Knab: Ich schweige nicht. Hans Scholl und die weiße Rose, Stuttgart: Theiss 2018, 264 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-3748-1, EUR 24,95
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Noch 75 Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod entstehen um die Akteure der Widerstandsgruppe Weiße Rose neue Mythen und Legenden. Dieses Mal steht Hans Scholl im Mittelpunkt, der mit Alexander Schmorell einer der Hauptprotagonisten der Weißen Rose war. Eine historisch-kritische Biografie über Hans Scholl ist seit Langem überfällig. Eine erste Biografie legte Barbara Ellermeier 2012 [1] vor. 2018 sind in kurzer Folge zwei dem Leben von Hans Scholl gewidmete Studien aus der Feder von Robert M. Zoske und Jakob Knab erschienen.
Das Werk von Robert M. Zoske, einem evangelischen Pastor, trägt den Titel "Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose" und basiert auf seiner Dissertation von 2014 [2], in der er die religiöse, intellektuelle und sexuelle Entwicklung Hans Scholls zwischen den Jahren 1937 und 1943 analysierte. Deren Hauptthesen finden sich nun hier zugespitzt wieder. Es geht Zoske um die Frage, warum Hans Scholl in den Widerstand ging, ein der Forschung seit Langem anhand des Gegensatzes von religiös-ethischen Motiven einerseits und politischen andererseits diskutierte Frage. Der Autor will diese mit hohem quellenkritischen Anspruch auf "ganz neuer Grundlage" klären (12). Dabei bezieht er eine Gegenposition zu Inge Aicher Scholl, der 1998 verstorbenen Schwester von Hans und Sophie Scholl, die seiner Meinung nach mit ihrem autoritären Deutungsanspruch die Geschichte der Weißen Rose vor allem durch eine strenge selektive Auswahl des Quellenmaterials verfälschte. [3]
Zoske seinerseits stützt sich erstens auf die Dokumente des Verfahrens gegen Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38 [4], die Inge Aicher Scholl zu ihren Lebzeiten zu vertuschen versucht hatte; denn deren Hauptanklagepunkt war der Vorwurf des Verstoßes gegen § 175, also "homosexuelle Unzucht". Das ist allerdings keine Neuentdeckung, sondern schon seit fast 20 Jahren bekannt. 2012 wurden die Verfahrensakten überdies in einer ausführlich kommentierten Dokumentation publiziert. [5] Zweitens stützt sich Zoske auf die von ihm im Jahr 2010 neu entdeckten Gedichte und Prosastücke Hans Scholls aus den Jahren 1937 bis 1939, die bisher unbeachtet, im Nachlass Inge Aicher Scholls im Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München liegen. Außerdem verwendet er die Akten des ersten und zweiten Weiße-Rose-Prozesses. Grundsätzlich will sich Zoske nur auf schriftliche Primärquellen, wie Briefe, Tagebücher, Prosatexte und Gedichte Hans Scholls stützen. Erinnerungen von Zeitzeugen aus der Nachkriegszeit sollen "nur ausnahmsweise und mit kritischer Distanz" ausgewertet werden (12). Das Buch enthält einen Dokumentenanhang, der auf mehr als 50 Seiten die Gedichte Hans Scholls bringt, sowie ferner die sechs Flugblätter der Weißen Rose und den Flugblattentwurf von Christoph Probst von 1943.
Zoske gliedert seine Biografie in fünf Kapitel, eingerahmt von einer Art Prolog mit der ausführlichen Schilderung der Hinrichtung Hans Scholls mit seinem Ausruf: "Es lebe die Freiheit!" und einem Epilog, der die Abschiedsbriefe seiner Mitstreiter bringt. Innerhalb dieses Rahmens wird der kurze Lebensweg Hans Scholls chronologisch dargestellt. Zoskes Fokus liegt dabei auf den Jugendjahren Hans Scholls. Er schöpft dessen angebliche wesentliche Charaktermerkmale, wie "Absolutheit, Sehnsuchtsverlangen und Freiheitsliebe" aus seiner pubertären und adoleszenten Phase und extrapoliert diese in seine späteren Jahre bis hin zu seinem Tod (49). Eine Persönlichkeitsentwicklung gesteht er ihm dabei nicht zu. Das wird schon auf dem Cover des Buches greifbar: Zoske verwendet ein frühes Jugendfoto Hans Scholls und benutzt als Titel des Buches das Zitat "Flamme sein!" Dieses war das Lebensmotto Hans Scholls in der Phase der HJ bzw. Bündischen Jugend. Es geht zurück auf Stefan George und Friedrich Nietzsche. Beides, Bild und Zitat, reflektieren Scholls Haltung in seiner jugendlichen Aufbruchsphase, nicht aber die seiner späteren Widerstandszeit. Diese frühen flirrenden Verhaltensweisen Hans Scholls bilden, verstärkt durch die angebliche Homosexualität, den Grundtenor der gesamten Argumentationslinie Zoskes. Die Lektüre des Buches ist mühsam und manchmal verwirrend, da Zoske, um seine Thesen zu belegen, häufig die Chronologie unterbricht und mit Zeitsprüngen arbeitet. Drei Hauptthesen sind dabei zu identifizieren:
Erstens: Hans Scholls Widerstandskampf habe sich auf seinen protestantischen Glauben gegründet, der ihm vor allem durch seine pietistisch-tiefreligiöse Mutter vermittelt wurde. Dies spiegeln laut Zoske Hans Scholls zahlreiche naturmystische und religiöse Gedichte aus den Jahren 1937/39 wider. Zoske sieht bei Hans Scholl keine religiöse Wende im Jahr 1941 unter dem Einfluss des katholischen Ulmer Freundes Otl Aicher und des katholischen Hochlandkreises mit Carl Muth und Theodor Haecker, wie das seit Inge Aicher Scholl die vorherrschende Meinung ist. Er zeigt vielmehr in seiner erfinderischen Lust, Neues zu entdecken, wie Hans Scholl auf der Suche nach einer geistigen Distanz zum Nationalsozialismus und nach einer Neuorientierung hin zur Gegnerschaft in den Jahren 1938 bis 1941 vor allem von protestantischen Schriftstellern, Philosophen, Religionsphilosophen und Theologen, wie den von der Bündischen Jugend verehrten Stefan George, Gerhard Hauptmann, Friedrich Nietzsche oder Friedrich Schleiermacher und Martin Luther inspiriert wurde. Allerdings vergisst er dabei zu erwähnen, dass die beiden letzteren in den bisher veröffentlichten Briefen Hans Scholls nicht vorkommen und beide angeblichen Ideengeber Widerstand gegen die weltliche Macht scharf verurteilten. Für Zoske kommt es um die Jahreswende 1941 lediglich zu "einer Glaubenserneuerung" Hans Scholls und schließlich im Widerstandskampf um die Freiheit zu seinem Märtyrertod im Februar 1943 (137). In der Forschung gibt es bislang keine klare Deutung von Hans Scholls Religiosität. Zoskes Feststellung, er "suchte keine Konfession, sondern das Wesen des Christentums. [...] In seiner christlich-politischen Zielstrebigkeit ist Hans Scholl eine irisierende Ikone der Freiheit, ein brennendes und strahlendes Licht" (221f.), ändert an diesem Zustand nichts.
Zweitens behauptet Zoske, Hans Scholls Bereitschaft zum Widerstand resultiere stark aus seiner Sozialisation durch die deutsche autonome Jungenschaft vom 1.11.1929 (dj.1.11), einem radikalen elitären Zweig der Bündischen Jugend mit ihrem Führer Eberhard Köbel, genannt Tusk. Die Wirkmächtigkeit der dj.1.11 für den Widerstand der Weißen Rose sei von Inge Aicher-Scholl marginalisiert worden. Er jedoch überzeichnet die Bedeutung dieses jugendbündischen Einflusses, indem er im zweiten Kapitel die gesamte HJ-Zeit Hans Scholls von 1933 bis 1937 pauschal zur jugendbündischen umdeutet, wobei sich die Darstellung auf die Jahre 1936/37 konzentriert, in denen der 18- bzw. 19-jährige Hans Scholl als nationalsozialistischer Jungzugführer bis Mai 1937 illegal eine eigene Gruppe mit neun Jungen im Alter von 14 bis 18 Jahren nach den Traditionen der dj1.11 leitete. Mithilfe der bisher unveröffentlichten und nicht ausgewerteten Korrespondenz Hans Scholls mit einigen dieser Jungen und mit seinem Freund Ernst Reden aus dem Jahr 1937, die sich in den Verfahrensakten von 1937/38 finden, gelingt es Zoske zu zeigen, dass Hans Scholls Weltbild noch bis Ende 1937 stark nationalsozialistisch und zugleich von den Vorstellungen der dj.1.11 geprägt war. Das ist neu. Allerdings ist Zoskes Interpretation dieser Korrespondenz sprunghaft und teilweise verwirrend. Für das Persönlichkeitsprofil Hans Scholls wäre es wichtig gewesen, die komplexen Einflüsse der Hitlerjugend einerseits sowie der dj.1.11 andererseits systematischer und differenzierter zu erfassen. Da dies unterblieben ist, können die weltanschaulichen und politischen Prägekräfte, die die späteren Positionen Hans Scholls beeinflusst haben sollen, nicht eindeutig zugeordnet werden. Zoske konzediert zwar Prägungen durch den Nationalsozialismus in den Jahren 1933 bis 1937, will in Scholl aber vor allem einen nationalkonservativen Revolutionär der dj.1.11 mit heroischen, den Krieg verherrlichenden Zügen sehen.
Die dritte und zentrale These Zoskes besagt, Hans Scholls angebliche Homosexualität habe eine der Haupttriebfedern für seine spätere Widerstandshaltung gebildet. [6] In der Tat war es 1937 zur Verhaftung Hans Scholls und 1938 zu einem Gerichtsverfahren gegen ihn wegen Verstößen gegen § 175 und wegen "Bündischer Umtriebe" gekommen. Doch wurde er freigesprochen. Für Zoske aber markierten diese Ereignisse die entscheidende Wende in Hans Scholls Leben vom begeisterten HJ-Führer hin zum entschlossenen Gegner des NS-Regimes. Die angebliche homo- bzw. bisexuelle Veranlagung Hans Scholls wird von Zoske so zugespitzt, als ob sie die meisten Beziehungen in seinem Umfeld beeinflusst hätte, obwohl die Quellen diesen Befund nicht belegen. Fälschlicherweise wird zum Beispiel die enge Zusammenarbeit Hans Scholls mit Alexander Schmorell bei der Vorbereitung und Durchführung der Widerstandsaktionen homoerotisch aufgeladen. Diese Unterstellung ist vollkommen absurd, denn Alexander Schmorell unterhielt in dieser Zeit eine Liebesbeziehung mit Angelika Knoop, geb. Probst. Dies belegt eine Vielzahl von Liebesbriefen, aus denen Zoske zitiert, jedoch ohne die Adressatin zu nennen, noch die Briefedition anzugeben, aus denen er seine Textpassagen entnimmt. Ein Beispiel: In einem vorweihnachtlichen Brief Alexander Schmorells aus dem Jahr 1941 an seine Freundin Angelika Knoop, in dem es um den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe in einer Beziehung geht, berichtet er auch von einem vertraulichen Gespräch mit Hans Scholl. [7] Zoske unterschlägt indes die Adressatin und deutet die Ausführungen Alexander Schmorells, die nur an Angelika gerichtet waren, als Beleg für das von ihm suggerierte homoerotische Verhältnis zu Hans Scholl. Zusätzlich bringt er in diesem Zusammenhang ein weiteres aus dem Kontext gerissenes Briefzitat, das die Beziehung zwischen Hans Scholl und Alexander Schmorell in seinem Sinne belegen soll. Es handelt sich um eine Textstelle aus einem Brief Hans Scholls an Professor Huber von der Ostfront im Sommer 1942, in dem er im Zusammenhang mit Alexander Schmorells russischen Sprachkenntnissen schreibt: "Besonders wertvoll ist mir mein russischer Freund." [8] Auch hier ignoriert Zoske den Zusammenhang und missbraucht das Zitat als Beleg für seine These. Ebenso abwegig ist die mit ähnlichen Methoden untermauerte Behauptung Zoskes, es habe bereits im Sommer 1941 für Hans Scholl "nur noch eine persönliche Vertrauenskonstante" gegeben - das sei sein "einziger Freund", nämlich Alexander Schmorell gewesen (143). Tatsächlich hat sich das Vertrauensverhältnis zwischen den beiden jungen Männern, die sich erst Anfang Juni 1941 kennengelernt haben, sehr langsam entwickelt. Außerdem waren beide in Freundeskreise eingebunden, mit denen sie auch weiterhin enge Kontakte pflegten, wie ihre jeweiligen Briefe belegen. Das Zitat, Alexander Schmorell sei Hans Scholls "einziger Freund" gewesen, stammt aus den Gestapoverhören Hans Scholls von 1943. [9] Eine quellenkritische Berücksichtigung der Vernehmungssituation und des Genres "Verhörprotokoll" sowie eine präzise chronologische Einordnung sucht der Leser vergebens. Dazu verstärkt Zoske diese Aussage noch durch die Ergänzung, "der engste, ja, der einzige Freund" (155). Dies sind nur einige Beispiele von vielen, bei denen Zoske mit Primärquellen gewissenlos umgeht. Er entkontextualisiert Zitate, reißt sie aus den inhaltlichen und chronologischen Zusammenhängen und kombiniert sie beliebig neu. Diese Verfahrensweise ist wissenschaftlich unsauber und erzeugt ein verzerrtes Bild. Abgesehen davon verstellt er sich mit dieser Art der Deutung den Blick auf andere wichtige Faktoren, wie zum Beispiel die militärisch-politischen Ereignisse, die die beiden Akteure langsam in den Widerstand führten.
Es stellt sich die Frage, inwieweit die drei Thesen Zoskes für das Verständnis der Widerstandstätigkeit Hans Scholls weiterführend sind. In den ersten vier Flugblättern sieht Zoske Hans Scholl als "Streiter in einem apokalyptischen und eschatologischen Kampf, einem Ringen auf Leben und Tod", der die christlich-abendländische Intelligenz mit der Beschwörung von apokalyptischen Bildern zur Umkehr und zum passiven Widerstand aufruft (167). Diese geschichtstheologische Deutung der Kriegssituation, besonders im vierten Flugblatt, geht, und das ist allgemeiner Konsens, auf die beiden geistigen Mentoren der Geschwister Scholl, Carl Muth und Theodor Haecker zurück. Zoske hingegen spielt die Bedeutung dieser Ideengeber weit über Gebühr herunter. Dagegen wird Thomas Mann, der von den USA aus Radioreden an die deutschen Hörer verfasste, von Zoske als alleiniges Vorbild für alle sechs Flugblätter hochstilisiert. Diese einseitige Darstellung stützt die These Zoskes von der protestantisch motivierten Widerstandshaltung Hans Scholls, waren doch sowohl Theodor Haecker als auch Carl Muth katholische Philosophen bzw. Publizisten. Bei der Suche nach den Motiven für die Widerstandsaktionen im Winter 1942/43 strapaziert Zoske diese protestantische religiöse Komponente in absurder Weise noch weiter. Er behauptet, dass der Auslöser für das fünfte Flugblatt eine religiöse Krise Hans Scholls an der Ostfront aufgrund des rassenideologischen Vernichtungskrieges gewesen sei, wobei er sich auf ein unvollständig wiedergegebenes und damit sinnentstelltes Zitat stützt. [10] Hans Scholls "evangelischer, weitgehend elitärer Glaube habe sich auch politisch" radikalisiert (177). Er habe sich nunmehr als "Werkzeug Gottes" verstanden und sei bereit gewesen, sein Leben einzusetzen für die Utopie eines Reichs, das "frei von Krieg und Unrecht" ist (184). Nach der Rückkehr aus Russland kam laut Zoske ein zweiter Beweggrund für Hans Scholls weitere Flugblattaktionen hinzu: sein "Wesen des virilen Unruhegeistes" (185), womit einmal mehr die Homosexualitäts-These bemüht wird.
Zoskes enthistorisierende und entpolitisierende Argumentation bricht bei der Darstellung des fünften und sechsten Flugblattes im Winter 1942/43 endgültig ein. Es unterlaufen ihm mehrere gravierende Fehler. Beim fünften Flugblatt fehlt der neue Titel des Flugblattes und der neue Adressat und er verwechselt völlig widersinnig das sechste mit dem fünften Flugblatt bezüglich seiner Verbreitung. Hier, wie auch bei den früheren Flugblättern stellt er keinen Zusammenhang mit den historischen bzw. militärisch-politischen Ereignissen und den Widerstandsaktionen her und kann daher auch nicht ihre unterschiedlichen politischen Auslöser und Funktionen erkennen. In Wirklichkeit verfolgte Hans Scholl mit seinen Freunden sehr aufmerksam einerseits die nationalsozialistische Propaganda und andererseits die Berichte der BBC hinsichtlich des Kriegsverlaufs und der Kriegs-und- Friedenszielkonzeptionen der Westalliierten, was besonders stark in den Text des fünften Flugblattes einfloss. Dies wird von Zoske nicht thematisiert. Das aussagestarke politische Flugblatt, das Christoph Probst im Auftrag von Hans Scholl entwarf, mit der Absicht die deutsche Bevölkerung auf ein Zusammengehen mit den Westalliierten vorzubereiten, wird von Zoske nur gleichsam nebenbei erwähnt. Es wird außerdem von Zoske als einziger "konkreter Beleg" für den Beitrag Christoph Probsts eingestuft, der als Widerstandskämpfer der Weißen Rose damit unangemessen herabgewürdigt wird (200). Aus Hans Scholls detaillierter Schlüsselaussage vor der Gestapo, welche politischen Beweggründe ihn veranlassten, das fünfte Flugblatt mit seinen Freunden zu verfassen, wird der Verweis auf die militärische Übermacht der Westalliierten ebenso unterschlagen, wie seine Sorge um die Gestaltung eines Nachkriegsdeutschlands angesichts der verbrecherischen deutschen Besatzungspolitik.
Aus all dem ergibt sich ein schwer nachvollziehbares, konstruiertes Persönlichkeitsbild Hans Scholls. Der komplexen Persönlichkeit Hans Scholls wird Zoske damit nicht gerecht.
Zum 100. Geburtstag Hans Scholls erschien Ende Juli 2018 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft eine zweite Biografie mit dem Titel "Ich schweige nicht. Hans Scholl und die Weiße Rose". Der Autor, Jakob Knab, ist katholischer Theologe und ehemaliger Studiendirektor eines bayerischen Gymnasiums. Knab setzte sich schon seit Jahren mit den Motiven und Zielen der studentischen Widerstandsaktionen der Weißen Rose auseinander. Den Ansatz, den er in zwei Aufsätzen 2005 und 2012 über Hans Scholls widerständiges Denken und Handeln entwickelte, führt er nun in seiner neuen Scholl-Biografie weiter: Die Haupttriebfeder sei Scholls christlicher Glaube, sein Handeln sei ein "Aufstand des Gewissens" gewesen (7). Auf die in zwölf Kapitel gegliederte eigentliche Biografie folgt ein abschließendes Kapitel mit einem kurzen Abriss über die "Erinnerungskultur und Rezeptionsgeschichte der Weißen Rose." Knab stützt sich hauptsächlich auf die Briefe Hans Scholls und seiner Schwester Sophie in der von Inge Jens 1984 herausgebrachten Briefedition. Es handelt sich dabei allerdings nur um einen Bruchteil der im Institut für Zeitgeschichte liegenden umfangreichen Korrespondenz Hans Scholls mit seiner Familie und seinen Freunden. Ferner verwendet er Zeitzeugenberichte aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Akten des Stuttgarter Sondergerichtsprozesses von 1937/38 sowie die Akten des ersten und zweiten Weiße-Rose-Prozesses von 1943.
Auf den ersten Blick ist diese Biografie eine konventionelle Erzählung, in der sich Knab kaum mit der bisherigen Literatur zu seinem Thema auseinandersetzt und die insgesamt auch keine neuen Erkenntnisse über Hans Scholl enthält: Es geht, wie schon mehrmals beschrieben, um den Weg des protestantisch erzogenen Hans Scholls vom begeisterten HJ-Fähnleinführer zum entschlossenen Widerstandskämpfer, der durch seine Verhaftung und Anklage wegen Verstoß gegen § 175 und "Bündischer Umtriebe" 1937/38 einen ersten Wendepunkt in seinem Leben erlebte, der ihn langsam zu einer Neuorientierung führte. Durch den großen Einfluss seines katholischen Ulmer Freundes Otl Aicher und der geistigen Mentoren Karl Muth und Theodor Haecker des katholischen Hochlandkreises habe er eine Bekehrung zum vertieften christlichen Glauben Ende des Jahres 1941 erfahren, der erst als der entscheidende Wendepunkt Hans Scholls hin zum Widerstandskämpfer gesehen wird. Knab zeigt, wie der hochintelligente und schon damals charismatische Hans Scholl in den Jahren 1938 bis 1941 als Suchender um Fragen nach der menschlichen Existenz, nach dem Sinn und der Wahrheit sich intensiv mit Literatur, Philosophie, Religionsphilosophie und Naturwissenschaften beschäftigte und dazu einen vielfältigen Lektürekanon bewältigte, und zwar von Schriftstellern wie Stefan George und Rainer Maria Rilke, aber auch wie Georges Bernanos, Paul Claudel, Schriftsteller des Renouveau Catholique. Auch dies ist schon mehrmals beschrieben worden. Aber Knab zeigt diese geistige Auseinandersetzung Hans Scholls besonders ausführlich und eindringlich auf.
Knab will auch ausdrücklich keine neuen "Enthüllungen" vorlegen (8). Vielmehr geht es ihm um eine neue Deutung der Persönlichkeit Hans Scholls auf der Grundlage von dessen christlichem Selbstverständnisses. Knab führt aus: Hans Scholls Leitmotiv sei die Gestalt Johannes' des Täufers als "des einsamen Rufers in der Wüste", der in den Flugblättern das deutsche Volk aufrief: "Kehret um! Ändert euren Sinn!" (8)
Diese einseitige, religiös hoch aufgeladene Sicht von Hans Scholl führt zu gravierenden Umdeutungen: Die erste findet sich bereits im Titel: "Ich schweige nicht." Er bezieht sich auf das Ende des vierten Flugblattes der Weißen Rose, doch dort heißt es: "Wir schweigen nicht. Wir sind Euer böses Gewissen." Hans Scholl war jedoch während aller Phasen der Widerstandaktionen umgeben von seinen Mitstreitern, engen Freunden und geistigen Mentoren und nicht, wie Knab behauptet, "der einsame Rufer in der Wüste." Es trifft auch nicht zu, dass allein Hans Scholl der "geistige Kopf und die treibende Kraft" der Widerstandsaktionen war (125). Wir wissen, dass Alexander Schmorell der Co-Autor der ersten vier Flugblätter, und Hans Scholl bei den weiteren Flugblättern nicht der alleinige Verfasser war.
In der Darstellung der ersten vier Flugblätter wird die Autorenschaft Alexander Schmorells zu Unrecht stark marginalisiert. Knab räumt ihm auf 17 Seiten gerade mal rund 10 Zeilen ein. In Wirklichkeit war es so, dass Hans Scholl und Alexander Schmorell sich die Themen aufgeteilt haben. Hans Scholl übernahm die eher theologisch-religiöse und staatsphilosophische Argumentation und Alexander Schmorell die politische, aber auch ethisch-idealistische Passagen. Gleichzeitig wird die metaphysisch-religiöse Argumentation Hans Scholls, die zweifellos auf Karl Muth und vor allen Dingen Theodor Haecker zurückgeht, stark überstrapaziert. Knab legt sogar Scholl bei seinen Aufrufen zum passiven Widerstand und zur "Umkehr" in diesen Flugblättern einen "aufbegehrend-prophetischen Ton" und eine "biblisch-prophetische Mahnung" in den Mund (127, 132). Diese Entpolitisierung der Rolle Hans Scholls setzt sich fort in der Darstellung des wohl politischsten Flugblattes, das er mit Professor Kurt Huber verfasst hat. Dieses fünfte Flugblatt enthält kaum religiöse Bezüge, dennoch stellt Knab diese auch hier in den Vordergrund unter Missachtung des eigentlichen Kontextes. Damit wird er Hans Scholls komplexer Persönlichkeit nicht gerecht. Es ist unbestritten, dass dessen christliche Gesinnung und sein Gewissen eine wichtige Triebfeder seines Handelns waren. Doch war er vielschichtiger, eben auch ein eminent politischer Kopf. Er war es, der Christoph Probst beauftragte, ein Flugblatt zu verfassen, in dem die deutsche Bevölkerung auf den Einmarsch der Westalliierten vorbereitet werden sollte. Dieser Auftrag und auch der Inhalt des Flugblattes bleibt bei Knab unerwähnt, und somit auch die Person Christoph Probsts insgesamt ausgeblendet - obwohl dieser sich kurz vor seiner Hinrichtung katholisch hatte taufen lassen.
Der zunehmende politische Schwerpunkt bei Hans Scholl zeigt sich deutlich in seinen Gestapoverhören. Knab zitiert aus diesen Verhören doch leider stark verkürzt und geradezu sinnentstellend, insbesondere bei der Schlüsselaussage, in der sich Hans Scholl zur militärisch-politischen Lage Deutschlands äußerte, wodurch die Perspektive, die Hans Scholl bezüglich der Beendigung des Krieges und der Nachkriegsordnung entwickelte, verzerrt wird.
Knab geht es in erster Linie darum, seine These von einem allein religiös motivierten Hans Scholl zu belegen. Das gipfelt in absurden Umdeutungen eigentlich bekannter Vorgänge: Seine Deutungsversuche des Flugblattabwurfs der Geschwister Scholl in der Münchner Universität am 18. Februar 1943 bekräftigt Knab zweimal mit einem Zitat aus den Tagebuchnotizen Hans Scholls in Russland, das dieser in einem völlig anderen inhaltlichen Zusammenhang niedergeschrieben hatte. Scholls Vision "ein Feuer zu entfachen" und es "von Hand zu Hand weiterzugeben" bezog sich nämlich nicht auf seine Widerstandstätigkeiten oder einem vermeintlichen Opfergang, den Knab in dem Geschehen am 18. Februar suggerieren will, sondern auf ein Erlebnis Hans Scholls eines russisch-orthodoxen Gottesdienstes an der Ostfront im August 1942 (177, 185).
Aus dem Zusammenhang gerissene und umgedeutete Zitate, zweifelhafte Zuordnungen und chronologische Ungenauigkeiten kommen leider nicht selten in Knabs Buch vor. Dazu kommt: Alles, was seine Hauptthese nicht belegt, wird entweder marginalisiert oder ausgeblendet. Schwerwiegender als diese Mängel wiegt jedoch eine einseitige Interpretation der Person Hans Scholls als eines biblisch religiösen Hauptprotagonisten der Weißen Rose. Alle diese Beobachtungen ergeben keine historisch kritische Biografie, sondern vielmehr eine angestrengte hagiografische Erzählung.
Die beiden neuen Scholl-Biografien sind von Theologen geschrieben, allerdings aus unterschiedlicher Perspektive. Der Katholik Knab arbeitet besonders die katholischen Einflüsse der Umgebung Hans Scholls heraus, die Ende 1941 zu einer "religiösen Wende" geführt hätten. Als Beleg führt er die katholische Taufe von Inge Scholl nach dem Krieg an, mit der diese angeblich den Wunsch ihrer Geschwister nach einer katholischen Taufe vor ihrer Hinrichtung nachträglich erfüllen wollte (201). Zoske hingegen sieht Hans Scholl tief im protestantischen Glauben verwurzelt. Die katholischen Einflüsse des Hochlandkreises mit Haecker und Muth werden nicht nur geleugnet, sondern auch durch einen Umgang mit Quellen, den man nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen kann, eliminiert. Außerdem fehlt die Person und der geistige und religiöse Einfluss des jungen regimekritischen Ulmer Katholiken Otl Aicher auf Hans Scholl. Er war es, der ihm und seinen Geschwistern vor allem die französische katholische literarische Erneuerungsbewegung des Renouveau Catholique nahebrachte.
Beide Autoren definieren die Wendepunkte in Hans Scholls kurzem Leben völlig unterschiedlich: Bei Zoske sind es die Jahre 1937/38, bei Knab das Jahr 1941. Die entscheidende Zäsur in Scholls kurzem Leben sieht Zoske allein in der Demütigung, als Homosexueller angeklagt zu sein. Die Kriegsverbrechen und der Kriegsverlauf spielen bei Zoske keine Rolle für Hans Scholls Widerstandsmotivationen. Dagegen billigt Knab dem Kriegsgeschehen durchaus eine Bedeutung zu, die allerdings hinter den religiösen Beweggründen zurückbleibt.
Der größte Unterschied beider Autoren liegt im Umgang mit dem Thema Homosexualität. Zoske ist quasi fixiert darauf, den Hauptantrieb für die Widerstandstätigkeit in Hans Scholls angeblicher Homosexualität zu sehen. Knab widerlegt in seinem später erschienenen Buch diese zentrale These Zoskes überzeugend mit dem Argument zahlreicher geglückter Beziehungen Hans Scholls zu jungen Frauen (52).
Bei beiden Autoren stellt man eine unzulässige Marginalisierung der übrigen Mitglieder der Weißen Rose fest. Die freundschaftlichen Beziehungen, ihre gegenseitige Beeinflussung und die Zusammenarbeit Hans Scholls mit Alexander Schmorell, Christoph Probst, Willi Graf und Professor Kurt Huber werden viel zu wenig differenziert herausgearbeitet. Deren weltanschauliche und politisch unterschiedliche Positionen werden ignoriert. Dagegen wird Sophie Scholl, von der man weiß, dass sie keinen Anteil an den Formulierungen der Flugblätter hatte, eine durch Quellen nicht belegte Mitwirkung suggeriert. Diese von beiden Autoren betonte Dominanz Hans Scholls gibt im Grunde einen überholten Forschungsstand wieder. Diese eindimensionale Interpretation der Geschichte der Weißen Rose, wie sie Inge Aicher Scholl 1952 mit ihrem Buch "Die Weiße Rose" betrieben hatte, ist seit der Auswertung der Gestapoakten Anfang der 1990er-Jahre und der Veröffentlichung der Briefe Alexander Schmorells und Christoph Probst 2011 widerlegt.
Beide Bücher, vor allem das von Zoske, lassen nicht nur den aktuellen Forschungsstand vermissen, sondern erschrecken durch einen unkritischen, schlampigen und manipulativen Umgang mit den Primärquellen. Gestapoverhöre und Zeitzeugenberichte werden ohne quellenkritische Hinterfragung verwendet. Beide Autoren bleiben mit dieser Arbeitsweise hinter ihrem selbst postulierten wissenschaftlichen Anspruch zurück.
Als Resümee kann man festhalten, dass beide Biografien Züge aufweisen, wie sie in der frühen Nachkriegszeit das offizielle Bild der Weißen Rose prägten: Idealisierung, Romantisierung, Enthistorisierung und Entpolitisierung. [11] In unserer Zeit der Umbrüche und Unsicherheiten eignet sich anscheinend Hans Scholl nach wie vor als Projektionsfläche für Emotionen und Wunschvorstellungen. Das Bild "des einsamen Rufers in der Wüste" (Knab) oder des "Streiters in einem apokalyptischen und eschatologischen Kampf" (Zoske) fällt anscheinend auch noch in unserer Gegenwart auf fruchtbaren Boden.
Anmerkungen:
[1] Barbara Ellermeier: Hans Scholl. Biographie, Hamburg 2012.
[2] Robert M. Zoske: Sehnsucht nach dem Lichte - Zur religiösen Entwicklung von Hans Scholl. Unveröffentlichte Gedichte, Briefe und Texte, München 2014.
[3] Siehe Inge Scholl: Die Weiße Rose, hier zit. nach der neuesten und erweiterten Ausgabe, Frankfurt am Main 1993.
[4] NWHStAD, Ger. Rep. 17, Bd. 292-295.
[5] Vgl. Eckard Holler: Die Ulmer "Trabanten". Hans Scholl zwischen Hitlerjugend und dj.1.11 (= puls 22, Dokumentationsschrift der Jugendbewegung), Stuttgart 1999; sowie Armin Ziegler: Geschwister Scholl - Legenden, Fakten, offene Fragen. Kritische Auseinandersetzungen mit Inge Scholls Buch "Die Weiße Rose" als Quelle für Geschichtswissen. Ein Beitrag zur Weiße-Rose-Forschung (unveröffentlichtes Manuskript, Schönaich 2001, 10-22); außerdem Sönke Zankel: Mit Flugblättern gegen Hitler. Der Widerstandskreis um Hans Scholl und Alexander Schmorell, Köln / Weimar / Wien 2008, bes. 53-58; Ulrich Herrmann: Vom HJ-Führer zur Weißen Rose. Hans Scholl vor dem Stuttgarter Sondergericht 1937/38. Mit einem Beitrag von Eckard Holler über die Ulmer "Trabanten", Weinheim / Basel 2012.
[6] Siehe Zoske: Flamme sein!, 183: "Doch das schmerzvolle Liebesleid war zugleich eine Triebkraft seines Tuns."
[7] Brief Alexander Schmorells an Angelika Knoop, 20. Dezember 1941, in: Christiane Moll (Hg.): Alexander Schmorell. Christoph Probst, Gesammelte Briefe, München 2011, 447-450.
[8] Brief Hans Scholls aus Russland an Prof. Kurt Huber, 17. August 1942, in: Inge Jens (Hg.): Hans Scholl und Sophie Scholl. Briefe und Aufzeichnungen, Frankfurt am Main 1993, 107.
[9] Verhör Hans Scholls, 18. Februar 1943, BArch, ZC, 13267, Bd. 2, 5.
[10] Vgl. Hans Scholls Tagebucheintrag aus Russland vom 31. Juli 1942, in: Inge Jens (Hg.): Hans Scholl und Sophie Scholl, 114. Der letzte Satz, der verdeutlicht, dass es nicht um eine Krise Hans Scholls ging, wurde von Zoske gekürzt.
[11] Vgl. Peter Steinbach / Johannes Tuchel: Von 'Helden' und 'halben Heiligen'... Darstellungen und Wahrnehmungen der Weißen Rose 1943 bis 1948, in: Michael Kissener / Bernhard Schäfers (Hgg.): "Weitertragen". Studien zur "Weißen Rose". Festschrift für Anneliese Knoop-Graf zum 80. Geburtstag, Konstanz 2001, 97-118.
Christiane Moll