Katharina Hülscher: Das Statutenbuch des Stiftes Xanten (= Die Stiftskirche des heiligen Viktor zu Xanten. Neue Folge.; Bd. 1), Münster: Aschendorff 2018, 710 S., ISBN 978-3-402-13254-8, EUR 86,00
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Das Xantener Viktorstift gehörte im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu den bedeutendsten Stiftskirchen im Rheinland und darüber hinaus. Entsprechend prominent war ihr Kapitel besetzt. Hier trafen sich Männer, die aus angesehenen Familien stammten, über herausragende Beziehungen sowohl nach Rom als auch zum Klever Herzogshaus verfügten und das politische, kulturelle und religiöse Leben ihrer Zeit am Niederrhein mitzubestimmen suchten: Neben dem Papstfamiliaren Johannes Ingenwinkel, der in Rom eine eindrucksvolle Karriere machen konnte, sind hier etwa mit Konrad Heresbach und Stephan Winandus Pighius zwei der bedeutendsten Humanisten des Rhein-Maasraums zu nennen. Nicht fehlen darf in dieser Reihe einflussreicher Xantener Kanoniker der Frühhumanist Arnold Heymerick, der aus einer angesehenen Klever Dienstmannenfamilie stammte, zunächst an der römischen Kurie Karriere machte und schließlich bis zum Tischgenossen Papst Pius' II. aufstieg. In der Folge konnte er einige Pfründen erwerben, unter anderem seit 1459 die Dekanatspfründe im Xantener Viktorstift, wo er seit 1464 residierte.
Seit der sukzessiv erfolgten Verdrängung des Propstes aus der Leitung des Xantener Stiftes, war der Dekan der wichtigste Amtsträger. Als solcher leitete er die Kapitelsitzungen und besaß die Disziplinargewalt über die Angehörigen des Stifts. Allerdings entwickelten sich hier - analog zur Verdrängung des Propstes aus der Stiftsleitung - wiederholt Konflikte mit dem Kapitel, das die Befugnisse des Dekans immer wieder zu beschneiden suchte. Insbesondere in Zeiten schwacher Dekane hat daher aufgrund Xantener Spezifika der Portar faktisch den Vorrang im Stift gehabt.
Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass neben der Repräsentation nach außen - hier sind insbesondere die Viktortrachten 1464 und 1487 sowie der Triumphzug anlässlich der Überreichung der goldenen Rose an Herzog Johann II. 1489 zu nennen - die Regelung des inneren Lebens im Stift von besonderer Bedeutung für Arnold waren. Dies zeigt auch seine umfangreiche literarische Hinterlassenschaft - neben seinen beiden größeren Werken, dem Registrum sophologicum und dem Repertorium decani weitere 31 kleinere Abhandlungen und Briefe, in denen er sich als Vertreter eines römischen Frühhumanismus zu erkennen gibt.
Während ein Großteil der von Arnold verfassten Texte bereits in (Teil-)editionen vorliegt, so etwa durch Dieter Scheler und Friedrich Wilhelm Oediger besorgt, hat sich jüngst Katharina Hülscher in ihrer an der Ruhr-Universität Bochum vorgelegten Dissertation mit dem Repertorium decani auseinandergesetzt. Diese Arbeit liegt nun unter dem Titel "Das Statutenbuch des Stiftes Xanten" in gedruckter Form vor.
Der eigentlichen Edition (204-670) ist ein ausführlicher Kommentar vorangestellt (15-203). Die Verfasserin erläutert hier zunächst ihr editorisches Vorgehen (15-18) sowie die Quellen- und Forschungslage (19-30), bevor sie Arnold Heymerick biographisch in den Blick nimmt (31-57). Anschließend skizziert sie die von Arnold angesprochenen Missstände im Xantener Viktorstift (58-113), vergleicht das Repertorium unter primär begriffsgeschichtlichen Gesichtspunkten mit Statutenbüchern anderer Stifte des Niederrheins (114-147) und bindet das Repertorium an die Regula canonicorum sowie die Institutio canonicorum zurück (148-174). Schließlich folgt eine Handschriftenbeschreibung (175-198) vor der abschließenden Betrachtung (199-203).
Hülscher liest das Repertorium aus dem seit längerem bewährten Blickwinkel von "Norm und Wirklichkeit" stiftischen Lebens im Mittelalter. Für entsprechende Fragestellungen eignen sich Statuten geistlicher Gemeinschaften in besondere Weise, da hier aus der Perspektive einer angestrebten Norm auch Schlüsse über die als defizitär empfundenen tatsächlichen Gegebenheiten zu ziehen sind. Entsprechend zeichnet Hülscher den in Xanten geführten Diskurs über die Normen des inneren Lebens im Viktorstift auf der Grundlage des Repertorium nach. Dabei hat sie stets auch die besondere Gemengelage im Xantener Kapitel im Blick und fragt diesbezüglich etwa nach der Autorität, mit der Arnold seine Forderungen durchzusetzen vermochte. Zwar habe, so Hülscher, das Repertorium in der Folgezeit nur wenig Wirkung erzielt, doch sei dieser Umstand primär in der Schwäche der nachfolgenden Dekane begründet.
Insbesondere in den Teilen, die sich auf die Situation im Viktorstift beziehen, ist der Band durchaus gefällig. So fasst Hülscher die Biographie Arnolds auf der Grundlage der Vorarbeiten gut zusammen. Darüber hinaus versteht sie es, ein lebendiges Bild der von Arnold monierten Missstände im Viktorstift zu entwerfen. Auch ihre Edition des Textes ist solide. Bisweilen wirken einige Ansätze etwas bemüht, so ist etwa fraglich, inwiefern ein Vergleich des Repertorium mit der Regula canonicorum und der Instiitutio canonicorum (Kapitel 5) tatsächlich weiterführt. Darüber hinaus wäre eine Anbindung an größere Forschungsdiskurse wünschenswert gewesen. Irritierend ist ferner eine immer wieder festzustellende sprachliche Unschärfe, die sich nicht nur in teils ungelenken Formulierungen (z. B. S. 50 "Er äußerte sich kritisch, bisweilen auch sehr ironisch, über seine Niederrheiner Mitbürger" oder S. 63 "Das Verfassen des Liber Ruber und des Liber Albus, entstanden im 12.-15. Jahrhundert, ordnete das vorhandene Material zwar in einer übersichtlichen Reihenfolge, es darf jedoch bezweifelt werden, dass die Kanoniker sich die Mühe machten, alle für den Alltag relevanten Bücher einzeln bei aufkommenden Fragen nach Antworten zu durchforsten"), sondern auch in begrifflichen Ungenauigkeiten zeigt (so etwa die Tabelle auf S. 60).
Inhaltlich dürften dagegen die zahlreichen Schlussfolgerungen Hülschers problematisch sein, für die sie keine Belege angibt (z. B. auf Seite 62: "Ich bin jedoch der Meinung, dass die Reduzierung der Einleitung allein auf die Rhetorik zu kurz gegriffen wäre. Ich gehe davon aus, ..." oder auf Seite 55: "Ich denke jedoch, dass ihn wirkliche Angst um sie und sich selbst umtrieb. Er fürchtete sich tatsächlich vor dem Urteil Gottes am Jüngsten Gericht").
Trotz der hier skizzierten Schwächen legt Hülscher mit dem Band eine Arbeit vor, die hinsichtlich des inneren Lebens im Viktorstift von Bedeutung sein dürfte. Dazu trägt insbesondere die Edition des Textes bei, aber auch die kenntnisreiche Schilderung der Xantener Verhältnisse durch die Autorin. Das dürfte zukünftigen Arbeiten, die das Viktorstift an der Schwelle zur Neuzeit zum Thema haben, zu Gute kommen. Dieses Verdienst der Autorin ist umso größer einzuschätzen als entsprechende Fragestellungen bisher für Xanten nur im Ansatz bearbeitet worden sind - obwohl aus dieser Zeit Quellen zur Stiftsgeschichte in außergewöhnlich dichtem Umfang überliefert sind. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist auch die Neubelebung der Reihe "Die Stiftskirche des Heiligen Viktor" zu begrüßen, als deren erster Band in der Neuen Folge der hier besprochene erschienen ist.
Mareike Roder