Uwe Albrecht: Bilder aus dem Tierleben. Philip Leopold Martin (1815-1885) und die Popularisierung der Naturkunde im 19. Jahrhundert (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum-Verlag. Reihe: Geschichtswissenschaft; Bd. 34), Marburg: Tectum 2018, XXVI + 554 S., 111 Abb., ISBN 978-3-8288-4039-3, EUR 59,95
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Im Mittelpunkt der Dissertationsschrift von Uwe Albrecht steht der Tierpräparator Philipp Leopold Martin, der insbesondere für die Stuttgarter und Berliner Naturkundemuseen beziehungsweise deren Vorläufer Taxidermien und Dermoplastiken in Tiergruppen zusammenstellte. Ziel des Autors ist es, "Martins Leben und Werk in seiner Gänze der Vergangenheit" zu entreißen (396). Dieses Leben stehe exemplarisch für die Wissenspopularisierung, die die Naturkunde im 19. Jahrhundert erfuhr, und die für die Überkreuzungen von Laien- und Expertenwissen genauso verantwortlich zeichnete wie für die Öffnung von Zoologischen Gärten und Museen für breitere Bevölkerungsschichten. Sein Ansatz ist ein wissenschaftshistorischer und er versucht, über Netzwerke innerhalb und außerhalb der praktischen Naturkunde, den beständigen Fluss von Kommunikation und Rezeption einzufangen, den er als charakteristisch für das populäre Wissenschaftsmodell im 19. Jahrhundert betrachtet. Dabei geht er in seiner von der Biografie Martins ausgehenden Perspektive der Frage nach, was die "Popularisierer" der Naturkunde bewogen haben könnte, sich anderen Objekten, anderen Orten und anderen Präsentationen ihrer Gegenstände zuzuwenden. Die Diskussionen um die richtige Ausstellung der Tiere und der Frage danach, wer zu diesen Ausstellungen sehen sollte, war tatsächlich zentral für die Museumsreformbewegung, als deren Aushängeschild der Autor Martin präsentiert.
Die Arbeit ist in drei große Teilen geteilt, ein biografischer erster Teil führt in die Person Martins, sein Leben und Wirken ein, und arbeitet hier mit einer traditionell biografischen Betrachtung, während ein zweiter, thematischer Teil verschiedene Aspekte seiner Tätigkeit, etwa das Taxidermieren, erklärt und in den von Martin mit angestoßenen Diskursen um Reform und Präsentation verortet. Der dritte Teil, der etwas unglücklich mit der Überschrift "Ergebnisse" betitelt ist, versucht, diese beiden Perspektiven zusammenzuführen und in die Martin umgebenden Netzwerke einzubinden. Ein abschließendes Kapitel zeichnet die Nachwirkungen Martins Werks in naturkundlichen Ausstellungen nach, in dem der Autor große Linien bis über die Jahrtausendwende zu ziehen versucht.
Albrecht skizziert Martin als einen Mann mit großen Ideen und eigenwilligem Charakter, der von einer schulischen Ausbildung bei den Herrnhutern quasi autodidaktisch das Werk des Tierpräparators erlernt, der Station am Zoologischen Museum in Berlin macht, um dann in Stuttgart als Präparator des Naturalienkabinetts zu landen und sich schließlich auf die "urweltlichen Tiere" und deren plastische Nachbildung zu spezialisieren und zunehmend publizierend tätig zu werden. Er zeichnet ihn auch als jemanden, der sich zu Höherem berufen fühlte und sich nicht mit den hierarchischen Dienstverhältnissen arrangieren konnte. Auch wenn der Autor mit dieser quellendichten Beschreibung das Leben Martins kleinteilig vorführt, hätte vielleicht ein weniger detailreicher biografischer Abriss dem Buch gutgetan.
Der zweite, thematische, Teil bettet Martins Tätigkeiten in die Bereiche der Entwicklung von Taxidermierung und Demoplastik, der Aufstellung in Tiergruppen und Habitat- bzw. Semi-Habitat-Dioramen, der Konzeption von Ausstellungen, der Nachbildung von ausgestorbenen Tierarten sowie der Bildungsfunktion von naturkundlichen Einrichtungen ein, insbesondere in die Debatte um die Museumsreform. Martins Position sowohl als Pionier und "Altmeister" (190) wie auch als Rezipient wird vor allem anhand von Selbstzeugnissen eingefangen. Zweierlei ist jedoch auffällig. Zum einen wird der Versuch der "naturgetreuen" Nachbildung von Tieren und Martins Ansichten, wie dies richtig zu geschehen habe, sehr wenig auf die gesellschaftsbildende und eher auf die ästhetische Funktion hin befragt. Eine gesellschaftliche Kontextualisierung findet sich überhaupt erst im dritten Teil und hat hier eher den Anschein eines abzuhakenden Appendix. Wie über die Panoramen, dramatischen Tiergruppen und naturhistorischen Illustrationen jeweils auch bestimmte gesellschaftliche Abbilder geschaffen und Tier-Mensch-Verhältnisse essenzialisiert wurden, hätte eine grundlegendere Analyse verdient. Zum anderen verliert sich die Erzählung im Versuch, transnationale Phänomene der Tierdarstellung - insbesondere wird der Vergleich mit der Habitat-Konstruktion Carl Akelays oder der paläontologischen Rekonstruktion Richard Owens aufgerufen - adäquat zu erfassen. Albrechts Vorgehen, zunächst recht enzyklopädisch bzw. handbuchartig in seinen jeweiligen Gegenstand einzuführen und dann Martins Position und Stellung zu umreißen, wirkt zudem bisweilen eklektisch und unnötig repetitiv. Dies gilt auch für den dritten Teil, in dem der Autor eine weitere Vertiefung der biografischen Skizze vornimmt und im Hinblick auf die Rezeption von Martins Ideen insbesondere zu Dermoplastiken und tiergeografischer Aufstellung illustriert. Statt eine Analyse zu liefern, werden hier beispielsweise bereits genannte Netzwerke und Inspirationen vertieft, ohne jedoch auf der Argumentationsebene wirklich entscheidend Neues auszuführen. Überzeugend ist allerdings die Überprüfung von Martins Wirkmacht über Rezensionen in wissenschaftlichen und populären Journalen. Insbesondere über Martins bekannte Mammutnachbildung und deren mediale Inszenierung hätte die Rezensentin hier jedoch gerne mehr erfahren. Denn der Band ist insbesondere hinsichtlich dieses Tieres reich bebildert. Allerdings dienen die Bilder scheinbar allein der Illustration: Porträts der vorgestellten Protagonisten wechseln sich mit Tierdarstellungen und Raumplänen ab. Bezug genommen wird jedoch auf die bildlichen Darstellungen an keiner Stelle.
Aus Sicht der Tiergeschichte hätte man sich zudem angesichts des Titels mehr erhofft. Martins Faszination für das Tierreich fing offenkundig schon in den frühen Jugendjahren an, jedoch bleibt diese Beziehung merkwürdig farblos. Die Tiere verbleiben in einem Objektstatus. Das ist bedauerlich, denn die sorgsam erfassten Quellen, insbesondere die zu Martins Nachbildungen des Mammuts, der Suche nach Authentizität und Darstellung von "Lebensweise" (289), hätten eine weniger deskriptive und an einer klassischen Biografie verhaftet bleibende Darstellung verdient. Den Akteurs-Status, den auch die Material Culture Studies den Objekten zusprechen, der vielleicht auch den von ihm adäquat beschriebenen "Dinosaurierboom" (248) um die Jahrhundertwende erklärt hätte, fängt Albrecht jedenfalls nicht ein. Das vermeintliche Einfrieren von präparierten Tieren "in Raum und Zeit" (426) hätte so vielleicht auch genauer historisiert werden können. Letztendlich bleibt die Arbeit damit bei einer empirischen Ausführung der theoretischen Anstöße von Susanne Köstering oder Lynn Nyhart [1] stecken, ohne das kulturhistorische Potential zu nutzen, das in der Betrachtung vom Gegenstand aus, der Inszenierung und Performanz von toten Tieren in der Mensch-Tier-Interaktion gelegen hätte.
Anmerkung:
[1] Lynn K. Nyhart: Modern Nature. The Rise of the Biological Perspective in Germany, Chicago 2009; Susanne Köstering: Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871-1914, Wien 2003, vgl. die Rezension von Nils Freytag in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 9 [15.09.2003], URL: http://www.sehepunkte.de/2003/09/2139.html.
Mieke Roscher