Uwe Albrecht (Hg.): Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur in Schleswig Holstein. 1. Hansestadt Lübeck, St. Annen-Museum, Kiel: Verlag Ludwig 2005, 664 S., ISBN 978-3-933598-75-2, EUR 49,00
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Umfangreiche Corpuswerke sind im heutigen Wissenschaftsbetrieb etwas aus der Mode gekommen. Zumeist vergehen viele Jahre von der Projektskizze bis zur Publikationsreife, schon gar, wenn ein größerer geografischer Bereich abzudecken ist. Dabei kann am Sinn einer umfangreichen Vorstellung und Diskussion der zum Teil nur schlecht oder gar nicht publizierten Objekte kein Zweifel bestehen. Dies belegt auch der hier zu besprechende erste Band des "Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein" eindrücklich.
Das Gesamtwerk ist auf insgesamt fünf Bände angelegt und soll das Gebiet der ehemaligen Herzogtümer Schleswig und Holstein sowie des heute zu Dänemark gehörenden Südtondern umfassen. Das Gebiet ist mit Bedacht gewählt, hat sich der Bestand mit mehr als 1400 Werken in einer für Mitteleuropa wohl beispiellosen Dichte erhalten. Erfasst wurden neben den Holzbildwerken und Tafelmalereien auch wenig beachtete Ausstattungskomplexe wie Truhen und Schränke, soweit sie künstlerisch gestaltet sind. Ausgeklammert blieb unter anderem die Steinskulptur. Dies erscheint plausibel, auch wenn man sich aus kunsthistorischer Perspektive eine Einbeziehung dieser Objekte gewünscht hätte, bleibt das Verständnis der künstlerischen Situation in Lübeck ohne diese Werke doch streckenweise fragmentarisch.
Der erste Band behandelt den Bestand des Lübecker St. Annenmuseums, dem bald der zweite zu den übrigen Werken in der Hansestadt folgen soll. Überraschenderweise gelang es den Bearbeitern auch bei diesen vergleichsweise gut erschlossenen Objekten bislang unpublizierte Werke zu entdecken, darunter die Zwischenwange des frühgotischen Domchorgestühls vom Ende des 13. Jahrhunderts (Kat.-Nr. 4).
Der Katalog, dem ein einführender Beitrag von Hildegard Vogeler zur Geschichte der Sammlung vorangestellt ist, nimmt den Hauptteil des Buches ein. Als Glücksfall erweist sich, dass oft nicht nur die Provenienz bekannt ist, sondern auch der genaue Standort innerhalb der Kirche noch bestimmt werden kann. So lässt sich die Ausstattungsgeschichte der wichtigen Lübecker Kirchen zum Teil bis in Einzelheiten rekonstruieren. Bemerkenswert ist auch, dass einzelne Werke offenbar fortdauernde Wertschätzung genossen, denn insbesondere für einige Retabel sind Renovierungen belegt, wie z. B. am Flügelretabel der Bruderschaft der Schneidergesellen von 1519 aus der Burgkirche (Kat.-Nr. 161), das 1660 und um 1700 in Stand gesetzt wurde.
Bei der Vorstellung der einzelnen Objekte werteten die Bearbeiter unpublizierte Restaurierungsberichte aus. In einigen Fällen wurden zusätzlich dendrochronologische Untersuchungen durchgeführt, mit überraschenden Ergebnissen. So kann nun die Entstehung zweier Reliefs mit der Kreuzabnahme und dem Pfingstwunder (Kat.-Nr. 1), die zuvor erheblich später datiert waren, auf um 1232 eingegrenzt werden. Dies führt vor Augen, wie unsicher manche Datierung der Skulptur des 13. Jahrhunderts in diesem Raum ist.
Die Mehrzahl der Objekte ist zum Teil durch mehrere Abbildungen von verschiedenen Seiten oder Details vertreten. Bedauerlich ist dabei, dass nicht alle Objekte illustriert sind und einige auf Grund des Buchformats recht klein abgebildet sind. So hätte man sich beispielsweise für das großformatige Kruzifix aus der Marienkirche von ca. 1270/80 (Kat.-Nr. 2) eine großzügigere Abbildung gewünscht.
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Bestandskatalog mit fast 250 Nummern aus einem Zeitraum von etwa drei Jahrhunderten in vielfältiger Weise zur Diskussion auffordert. Eine Besprechung in der hier gebotenen Kürze ermöglicht es nicht, in größerer Breite auf einzelne Objekte einzugehen. Stattdessen stellt sich die Frage, welche Fragestellungen sich für die Erforschung der spätmittelalterlichen Kunst und Kultur in Lübeck aus dieser Publikation ergeben.
Für das 14. Jahrhundert ist vor allem die qualitätvolle Ausstattung der Jakobikirche zu erwähnen, die von den Bearbeitern, ausgehend von der Weihe des Hochaltars im Jahr 1334, komplett in die Zeit um 1330-40 datiert wird. Blickt man jedoch auf ein Werk wie die stehende Muttergottes (Kat.-Nr. 12), die in ihrer Haltung wie in den Grundmotiven der Gewandgliederung auf die so genannte Wundertätige Muttergottes im Magdeburger Dom von ca. 1270/80 zurückgeht, wenn sie auch deutlich schlanker ausgebildet ist, so ist eine frühere Datierung plausibler. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung Magdeburgs als Kunstzentrum verstärkt zu diskutieren, das auch für andere Ausstattungsprojekte dieser Zeit, wie die Zisterzienserklosterkirche in Doberan, das Impuls gebende Kunstzentrum gewesen sein könnte.
Im Folgenden soll exemplarisch auf die Werke der Jahrzehnte vor der Reformation eingegangen werden, als die Kunst in der Hansestadt eine beispiellose Blüte erlebte. Dies lässt sich auch am Katalog ablesen, entstanden doch fast 80 Prozent der vorgestellten Werke in der Zeit zwischen 1450 und 1530. Die Situation erscheint typisch für eine Handelsstadt. Zahlreiche Kunstwerke wurden importiert, auswärtige Künstler ließen sich dort nieder, und immer wieder lassen sich Einflüsse aus den verschiedensten Richtungen nachweisen.
Komplementär zu den Handelsbeziehungen waren seit dem 14. Jahrhundert die Kontakte mit den Niederlanden und Nordfrankreich besonders intensiv. Neben den berühmten Steinskulpturen des frühen 15. Jahrhunderts dürfte beispielsweise der so genannte Grönauer Altar (Kat.-Nr. 26) um 1420 in einer südniederländischen Werkstatt entstanden sein, deren Produkte sich auch andernorts nachweisen lassen. Es fand ein regelmäßiger Import niederländischer Werke statt, wie zum Beispiel dem Greveradenretabel des Hans Memling von 1491 (Kat.-Nr. 85) oder von Antwerpener Schnitzwerken (Kat.-Nrn. 169-173). Besonderes Interesse darf hier die Entdeckung von Resten eines Christkindschreins aus Mecheln (Kat.-Nr. 177) beanspruchen, vergleichbar wohl dem besser erhaltenen aus dem ehem. Zisterzienserinnen-Kloster zum Hl. Kreuz in Rostock. Zugleich war Lübeck offenbar so attraktiv, dass es auch Künstler aus den Niederlanden anzog. Zu ihnen zählt Jacob van Utrecht (Kat.-Nr. 163), der um 1517/18 nach Lübeck einwanderte und sich dort zu einem der gefragtesten Maler der Lübecker Oberschicht in den Jahren vor der Reformation entwickelte.
Die Beziehungen zu anderen Kunstzentren sind vielfältig und ergänzen das Bild. Aus Köln gelangte beispielsweise eine stehende Muttergottes von Meister Tilman von ca. 1480-90 in die Lübecker Burgkirche (Kat.-Nr. 111). Darüber hinaus etablierte vor 1522 der Maler Hans von Köln eine bislang wenig erforschte Werkstatt in Lübeck, aus der unter anderem das Flügelretabel der Antoniusbruderschaft aus der Burgkirche von 1520-22 (Kat.-Nr. 164) stammt. Entscheidend für den Erfolg scheint auch hier die Orientierung an niederländischen Vorbildern gewesen zu sein.
Parallel dazu lassen sich Kontakte zu anderen Regionen nachweisen. So scheint der so genannte Rosenkranzaltar aus dem Heiligen-Geist-Hospital von ca. 1525 (Kat.-Nr. 166) mit dem südniedersächsischen Kunstzentrum Hildesheim in Verbindung zu stehen, wo das Johannesretabel in St. Michael Ähnlichkeiten mit dem Lübecker Werk zeigt. Ergänzend dazu sehen die Bearbeiter jedoch bei den aufwändigen Fasstechniken Einflüsse aus Brüssel oder Mecheln wirksam, was vielleicht für eine Entstehung in Lübeck sprechen könnte.
Gerade im Bereich der Skulptur wird aber deutlich, dass der Horizont der Künstler deutlich weiter zu ziehen ist. Für den Bildschnitzer des Flügelretabels mit der Kreuzigung Christi aus der Katharinenkirche von ca. 1515-1520 (Kat.-Nr. 160) wird mit Verweis auf Hans Wydyz ein Kontakt mit oberrheinischer Kunst vermutet, der jedoch an den übrigen Bildwerken nicht konsequent weiter zu verfolgen ist. Mehrere Arbeiten verraten die Kenntnis der Kunst Tilman Riemenschneiders. So könnte der am Flügelretabel der Georgsbruderschaft aus der Burgkirche von ca. 1510-1515 (Kat.-Nr. 158) tätige Schnitzer möglicherweise in der Werkstatt Riemenschneiders tätig gewesen sein. Das Flügelretabel der Bruderschaft der Schneidergesellen von 1519 (Kat-Nr. 161) mit einer großformatigen Darstellung der Magdalena im Zentrum des Schreins fordert geradezu den Vergleich mit Riemenschneiders Münnerstädter Darstellung heraus. Doch nimmt man angesichts der gravierenden Unterschiede die von den Bearbeitern vermutete Wirkung des fränkischen Beispiels nicht ohne Vorbehalt zur Kenntnis.
Auch bei anderen Künstlern dieser Zeit geht man von Kontakten mit süddeutscher Kunst aus. So vermuten die Autoren bei Benedikt Dreyer aus biografischen Gründen eine Vermittlung süddeutscher "Stil- und Bildformeln" während seines Aufenthaltes in Lüneburg. Eine Figur wie der hl. Sebastian am Retabel der Antoniusbruderschaft aus der Burgkirche von 1520-22 (Kat.-Nr. 164) mit dem Zusammenspiel der geschwungenen Körperhaltung und dem bewegten Gewand scheint aber kaum ohne ein genaues Studium süddeutscher Bildwerke dieser Zeit denkbar. Zudem wird die Frage der zu vermutenden Auseinandersetzung mit rheinischer, niederländischer und nordfranzösischer Kunst offen gelassen. Hier ergibt sich eine wichtige Aufgabe für die Forschung, bei der es gilt, die künstlerische Orientierung an den führenden süddeutschen Künstlern über rein formgeschichtliche Analysen hinausgehend zu befragen. Ihre Bildwerke sprachen offenbar in besonderer Weise das Frömmigkeitsempfinden der Zeit an und waren auch für die besonders innovativen Lübecker Bildschnitzer der Zeit um 1500 vorbildhaft.
Insgesamt liefert der vorliegende erste Band des Corpuswerkes einen viel versprechenden Auftakt, der der Erforschung der mittelalterlichen Bildkünste in Norddeutschland und im Ostseeraum sicher einen nachhaltigen Impuls geben wird.
Gerhard Lutz