Arne Hoffrichter: Verwaltung, Politik, Geheimdienste. Das Notaufnahmelager Uelzen-Bohldamm im Prozess der Zuwanderung aus SBZ und DDR 1945-1963 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; 297), Göttingen: Wallstein 2018, 403 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3141-9, EUR 34,90
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Bettina Effner: Der Westen als Alternative. DDR-Zuwanderer in der Bundesrepublik und in West-Berlin 1972 bis 1989/90, Berlin: Ch. Links Verlag 2020
Jeannette van Laak: Einrichten im Übergang. Das Aufnahmelager Gießen (1946-1990), Frankfurt/M.: Campus 2017
Regina Wick: Die Mauer muss weg - Die DDR soll bleiben. Die Deutschlandpolitik der Grünen von 1979 bis 1990, Stuttgart: W. Kohlhammer 2012
Arne Hoffrichter beschreibt weitgehend chronologisch die Geschichte des Lagers Uelzen-Bohldamm - neben Berlin-Marienfelde und Gießen das dritte Notaufnahmelager, in denen Flüchtlinge aus der DDR die Aufnahme in der Bundesrepublik beantragen mussten.
Schon ab Mitte 1945 versuchte die britische Militärregierung, den Zuzug in ihre Besatzungszone zu kontrollieren. Um den Zustrom in geordnete Bahnen zu lenken, verfügte sie, dass die Menschen sich in einem Lager melden mussten. Dazu errichtete die zuständige deutsche Verwaltung im Oktober 1945 das Barackenlager Uelzen-Bohldamm in der Nähe der Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), das anfangs 1.500 Menschen aufnehmen konnte. Hoffrichter beschreibt detailliert die Aufnahme der Vertriebenen und macht diese Herkulesaufgabe der ersten Nachkriegsmonate in ihrem vollen Umfang plastisch.
Die Vertriebenen wurden abgelöst durch die Menschen, die in immer größerer Zahl aus der SBZ und der DDR flohen. Aufgrund des anhaltenden Zustroms und der weiter geltenden Lagerpflicht wurde aus dem Provisorium eine feste Institution mit einer Vielzahl von Verwaltungsstellen, die die Ankommenden betreuten und untersuchten. Die Kapazität des Lagers wurde bis auf 8.000 Plätze im Jahr 1952 gesteigert. Für den Umgang mit den Flüchtlingen aus der SBZ/DDR setzte Uelzen-Bohldamm die Maßstäbe, die die Aufnahmepolitik der Bundesrepublik bis 1990 prägten. Niedersächsische Flüchtlingspolitiker, allen voran Flüchtlingsminister Heinrich Albertz, gestalteten das Überprüfungsverfahren aus, das die Ankommenden zu durchlaufen hatten, beispielsweise durch die Einführung von Aufnahmeausschüssen, die die Entscheidung über die Aufnahme trafen. Und sie zwangen durch spektakuläre Aktionen wie die zeitweise Schließung des Lagers die anderen westdeutschen Länder zu Zugeständnissen bei der Aufnahme der aus Uelzen-Bohldamm weitergeleiteten Flüchtlinge. Am 11. Juli 1948 einigten sich die Länder in der sogenannten Uelzener Entschließung auf feste Aufnahmekontingente. Das war ein großer Fortschritt, wenngleich so das Problem der Abgelehnten eskalierte, sobald die Zahl der Zuflucht Suchenden anstieg. Denn die Abgelehnten bildeten ohnehin ein Problem im Raum um Uelzen, da die wenigsten trotz Aushändigung einer Bahnkarte bis an die Grenze zurück in die SBZ gingen, die Masse also ohne Hilfe und ohne Weiterleitung einfach am Ort verblieb. Erst zwei Jahre später beschlossen die Bundesländer Aufnahmequoten, mit denen flexibler auf die schwankenden Zuzugszahlen reagiert werden konnte.
Die beiden großen Einschnitte für die Flucht aus der DDR stellten auch Zäsuren für Uelzen-Bohldamm dar. Im Mai 1952 schloss die DDR die innerdeutsche Grenze, ein Verlassen war nur noch innerhalb Berlins relativ problemlos möglich. Das Lager stand nun nicht mehr an vorderster Front im Kalten Krieg, sondern bekam eindeutige Fälle wie solche der Familienzusammenführung von Berlin-Marienfelde aus zugewiesen. Der Mauerbau am 13. August 1961 ließ die Zahl der Flüchtlinge dramatisch sinken. Drei Notaufnahmelager waren nun nicht mehr notwendig. Da Uelzen gegenüber Gießen einen schlechteren baulichen Zustand aufwies, wurde das "Bohldammlager" 1962 geschlossen. Hoffrichter entnimmt seinen Quellen, dass ausschlaggebend für die Entscheidung die guten Möglichkeiten waren, das Notaufnahmearchiv in Gießen unterzubringen. Sollte die Tatsache, dass in Gießen für die Flüchtlinge und die verschiedenen Dienststellen Neubauten errichtet worden waren, während in Uelzen noch Baracken standen, keine Rolle gespielt haben?
Hoffrichter hat punktuell Akten des Notaufnahmeverfahrens sowie des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes auswerten können, die aufgrund des Datenschutzes und restriktiver Sperrfristen für die Historiografie bislang nur schwer zugänglich sind. Auf dieser Grundlage gelingt es ihm, interessante Details der Geschichte des Notaufnahmelagers aufzufächern: So beschreibt er die Querelen um die Besetzung der Aufnahmeausschüsse, die anfangs mit Beamten aus der niedersächsischen Flüchtlingsverwaltung, schließlich aber mit Vertretern der politischen Parteien besetzt wurden, sowie die Probleme, die Ausschüsse quantitativ überhaupt adäquat zu besetzen, so dass die Verfahren in ausreichender Anzahl zum Abschluss gebracht werden konnten. Er errechnet, dass die Ausschüsse 19 Verfahren pro Tag verhandelten, sich für jeden Antrag also durchschnittlich 40 Minuten Zeit nahmen. Außerdem wertet der Autor intensiv die Personalunterlagen der führenden Beamten von Uelzen-Bohldamm aus, wodurch er weiterführende Informationen über die Zustände der Lagerverwaltung erarbeiten kann - aber auch Beschönigungen hinsichtlich der Karrieren im 'Dritten Reich'.
Die Detailinformationen zur Lagerverwaltung und zu den internen Entscheidungsprozessen lassen aber nur bedingt darüber hinwegsehen, dass die Arbeit im Grundsätzlichen wenig Neues bietet. So basieren einzelne Kapitel primär auf der einschlägigen Literatur. Das gilt auch für den Abschnitt zur Arbeit der Geheimdienste im Lager. Das ist für die prominente Ankündigung dieses Themas im Titel der Arbeit etwas mager.
Auch unternimmt Hoffrichter keinen Versuch, sein Thema in einen übergeordneten Forschungskontext einzuordnen, so wie es Jeannette van Laak mit ihrer Arbeit zum Notaufnahmelager Gießen gelungen ist [1]. Dagegen wirkt die vorliegende Arbeit uninspiriert. Selbst die einleitend angekündigte Verortung der Arbeit in der deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte bleibt ohne Resonanz, auch wenn sie formelhaft immer wieder aufgriffen wird. Da die Arbeit im Kern um Entscheidungen und Abläufe im Notaufnahmelager kreist, wären andere Anknüpfungspunkte möglicherweise gewinnbringender gewesen.
Mit der Arbeit über dieses "Wahllokal und [diesen] Auszählungsort der 'Abstimmung mit den Füßen'", wie Hoffrichter das Uelzen-Bohldamm in Anknüpfung an die zeitgenössische Wendung treffend charakterisiert (257), sind wir über die Funktionsweisen und Eigenarten auch des dritten Notaufnahmelagers gut informiert. Was aussteht, sind Untersuchungen, die die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Aufnahme der Zuwanderer vertieft in den Blick nehmen.
Anmerkung:
[1] Jeannette van Laak: Einrichten im Übergang. Das Notaufnahmelager Gießen (1946-1990), Frankfurt/M. / New York 2017.
Helge Heidemeyer