Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018, 313 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-421-04830-1, EUR 26,00
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Christopher Clark: Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2018
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Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz, München: DVA 2008
Eigentlich sollte die Dimension der Zeit zum "Grundbesteck" einer jeglichen historischen Analyse gehören. Gleichwohl blieb es an tiefergehenden Reflexionen darüber, verglichen etwa mit den Debatten der letzten Jahrzehnte um die "spatial", "cultural" oder "emotional turns", recht ruhig bzw. man betrachtete dies als nicht weiter zu hinterfragende Selbstverständlichkeit. Erst in den letzten Jahren kann man aufgrund einer intensiveren Diskussion auch von einem "temporal turn" sprechen, und genau hier setzt die neue Studie des australisch-britischen Historikers Christopher Clark an. In guter angelsächsischer Manier ist dieses Buch, das im Unterschied zu seinen beiden Bestsellern zur preußischen Geschichte und zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges einen wesentlich geringeren Umfang aufweist, als Essay geschrieben bzw. als eine Verbindung von vier Essays, die auch für sich allein stehen könnten.
Alle von Clark untersuchten Akteure versuchten sich auf je verschiedene Weise nicht nur in den Zeitläuften zu verorten und damit ihr künftiges Bild nach ihrem Gusto zu formen, sondern die Zeit selbst als Mittel zur Etablierung und Festigung ihrer Herrschaft dienstbar zu machen.
Der Reigen beginnt mit dem "Großen Kurfürsten" Friedrich Wilhelm - bekannt vor allem als derjenige Herrscher, der den Aufstieg Brandenburg-Preußens maßgeblich mitgestaltet hatte. Die von ihm im Zeichen der "Necessitas" betriebene Krisenbewältigung wollte der Kurfürst gegenüber den mit dem "Libertas"-Motiv argumentierenden Ständen eben nicht nur als Begründung eines temporären Ausnahmezustandes verstanden wissen, sondern die von ihm als dauerhaft gedachten grundlegenden Veränderungen im politischen System galten der Absicherung gegenüber künftigen Bedrohungen. Daraus entsprang auch das Bemühen, seinen Platz in der Geschichte beschreiben zu lassen - in Samuel von Pufendorf fand er seinen kongenialen Historiografen, in dessen Werk die Rolle des "Staates" folgerichtig eine zentrale Rolle einnehmen sollte. Doch bei aller Betonung des Aufbruches zu neuen Ufern, die dieser Herrscher wagte, seiner "zukunftsorientierten Geschichtlichkeit" (54), blieb er in gewisser Hinsicht auf eine gewisse Art doch ein "Traditionalist", worauf die jüngere Preußen-Forschung vor allem mit Blick auf seine Dynastiepolitik verwiesen hat.
Friedrich der Große hingegen, den Clark prononciert in die Tradition des Altertums stellt und für den demzufolge auch die antike Geschichtsauffassung mit ihrer Zyklentheorie einen wichtigen Orientierungspunkt bildete, brachte ein anderes Verhältnis zu seiner Zeit auf. Als ein aktiv am aufgeklärten Diskurs teilhabender Mann war natürlich auch sein Geschichtsverständnis vom Fortschrittsglauben der Spätaufklärung geprägt. Doch verkörperte für ihn Geschichte zugleich das Wirken unabänderlicher Gesetze, sie folge also einem Kreislauf und sei als "ein zeitloses Magazin nützlicher Beispiele" zu verstehen, dessen sich ein zur Reflexion fähiger Herrscher zu bedienen habe (113).
Und ein Alleinstellungsmerkmal wies Friedrich unter seinen Standesgenossen ohnehin auf: Als "roi historien", als äußerst produktiver "Historikerkönig" war er selbst schriftstellerisch tätig, sodass wir über sein Geschichtsverständnis von all den in diesem Buch behandelten Protagonisten am besten Bescheid zu wissen meinen. Doch auch über seine wahren Motive? Diese Frage wird in der Tat seit Längerem kontrovers diskutiert in dem Sinne, ob seine historiografischen Schriften eine eher propagandistische Funktion hatten, der Selbstreflexion oder der Etablierung eines bestimmten Bildes für die Nachwelt dienten. Christopher Clark folgt mit seiner Sicht jenen Interpretationen, die vor allem das Trachten des Königs als maßgeblich ansehen, sein Bild in der Nachwelt in markanter Weise mitgestalten zu wollen. Bedenkenswert erscheint auch die Begründung Clarks für das Übergehen der ständepolitischen Auseinandersetzungen in den historischen Schriften dieses Königs, in die die vor Friedrich II. regierenden brandenburgisch-preußischen Herrscher verwickelt waren. Friedrich habe damit "seine Schilderung der Vergangenheit an die Prioritäten der eigenen Gegenwart" angepasst, in der für den sozialkonservativ argumentierenden Monarchen nicht die Auseinandersetzung mit den adligen Ständen, sondern eher die Sorge um das "Überleben" dieses Standes im Vordergrund stand (108).
Entgegen so mancher früher gezeichneten Kontinuitätslinie von Friedrich dem Großen zu Bismarck sieht Clark Letzteren als "vom Strom der Geschichte" getriebenen "Steuermann", der aber gleichwohl "nicht mitten aus den Wirren der Geschichte heraus" agierte, sondern der "über dem Geschehen" zu stehen schien (136). Bismarck selbst gebrauchte allerdings eher die Metapher des Schachspielers - sehr lesenswert erscheint hier der Exkurs über den Schach-Diskurs im 19. Jahrhundert. Für Bismarck bildete das Revolutions-Erlebnis von 1848/49 sicher auch einen Schock, aber - und das unterschied ihn von anderen Konservativen seiner Zeit und hier urteilte eben der politische "Schachspieler" - er rechnete künftig mit den durch die Revolution freigesetzten Kräften und versuchte sie in seine Politik einzubinden. Diese Flexibilität spiegelte sich sowohl in der Innen- wie in der Außenpolitik des preußischen Ministerpräsidenten und deutschen Reichskanzlers wider. Auch gegenüber den Zeitläuften brachte er ein eher pragmatisches Verständnis auf: Für ihn blieb Geschichte fließend, vom Wechselspiel der Kräfte abhängig und frei von irgendwelchen teleologischen Funktionen.
Dass die im vierten Kapitel behandelte nationalsozialistische Elite sehr viele Bemühungen unternahm, die Geschichte für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, vor allem um das gänzlich Neue, "Revolutionäre" ihres Gesellschaftsmodells ideell zu flankieren, hat bereits eine Vielzahl von Studien belegt. Christopher Clark legt die Sonde aber noch an eine andere Seite an: Der radikal inszenierte Bruch erfolgte nicht nur mit dem alten System von Weimar, sondern er diente zugleich der Bewältigung des von großen Bevölkerungsteilen als traumatisch erfahrenen Epochenwandels von 1918/19. Lesenswert erscheinen Clarks Bemerkungen über die Rolle der unmittelbar nach der Machtergreifung angelegten "Revolutionsmuseen", deren Intention darin bestand, die Besucher mit der Aktualität des nationalsozialistischen Wandels zu konfrontieren und sie dafür einzunehmen. Erhellend erscheinen auch seine Vergleiche zum Zeit-Modell des faschistischen Italiens, das in seiner Fortschritts-Konzeption eher Ähnlichkeiten zum sowjetischen Stalinismus als zum Nationalsozialismus aufwies, für den "die Vorstellung der Geschichte als unaufhaltsame Vorwärtsbewegung des Wandels längst keinen so großen Reiz" hatte und der eher einen "Ausstieg" aus dem geläufigen historischen Prozess proklamierte (206).
Die stupende Belesenheit des Autors, der in diesem Buch auch immer wieder geschichtstheoretische Diskurse der jüngeren Zeit einbindet, imponiert. Es sind ja nicht vornehmlich neue Fakten, die Clark in seinem Buch präsentiert. Bekanntlich besteht an Biografien und anderen Forschungsarbeiten zu den hier behandelten Protagonisten kein Mangel. Die große Stärke seiner Studie liegt darin, dass er die von ihm behandelten Akteure der Macht aus neuen Perspektiven betrachtet und bekannte Tatsachen zu neuen, teilweise überraschenden Interpretationen bündelt. Nicht die Analyse des Aufstiegs dieser Personen bzw. Akteursgruppen und des Ausbaus ihrer politischen Stellung steht im Mittelpunkt dieser luziden Darstellung, sondern die Mittel ihrer Legitimation, wozu eben auch die Instrumentalisierung der Zeit gehörte. Es handelt sich damit um eine im besten Sinne des Wortes vornehmlich geistesgeschichtliche Studie. Dabei steht sowohl die Selbstwahrnehmung der Protagonisten im historischen Prozess im Fokus als auch die zeitgenössische Außensicht und die Perspektive der Nachlebenden. Dabei wird deutlich, dass sich alle hier behandelten Personen als Motor und Getriebene gleichermaßen ansahen. Sie bewegten sich damit also zumeist innerhalb eines Spielraumes, der mit den Worten eines Bismarck-Biografen vielleicht als "Freiheit in der Gebundenheit" beschrieben werden könnte.
Und wie schon in seinem Buch über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges treten auch hier die aktuellen Bezüge in teilweise frappierender, mitunter auch beklemmender Weise vor Augen: Auch für viele der heutigen politischen Akteure in verschiedenen Teilen der Welt bildet die Rückbesinnung auf vermeintlich verloren gegangene Zeiten einen Kern ihrer politischen Botschaft. Somit lässt sich Christopher Clarks Buch auch als ein erhellendes Lehrstück über den Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit als Teil einer jeglichen politischen Auseinandersetzung lesen.
Frank Göse