Sarah Noethlichs: Wenn Zahlen erzählen. Ludwig von Anjou und seine Rechnungsbücher von 1370 bis 1379 (= Beihefte der Francia; Bd. 86), Ostfildern: Thorbecke 2018, 318 S., ISBN 978-3-7995-7477-8, EUR 45,00
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Der Rezensent hat die Ehre, den letzten Band der renommierten Reihe "Beihefte der Francia" zu besprechen; ungleich größer ist freilich die Ehre, diesen letzten Band verfasst zu haben. In ihrer Untersuchung erweitert Noethlichs unsere Kenntnisse über einen der im Schatten stehenden Brüder König Karls V. von Frankreich, nämlich Ludwig (1339-1384), der als Apanage das Anjou zugeteilt bekam. Nach der Einleitung folgt ein Kapitel zur Person Ludwigs, bevor dann in den folgenden drei Kapiteln die erhaltenen Rechnungsbücher Ludwigs für seine Apanage Anjou im Fokus stehen. Dabei widmet sich Kapitel 3 den Rechnungsbüchern selbst, danach werden die Einnahmen und die Ausgaben gesondert vorgestellt. Als Vergleichsprobe untersucht Noethlichs ein Rechnungsjahr aus dem Languedoc (Kapitel 6, 221-222), wo Ludwig königlicher Stellvertreter war. An das Resümee schließen sich zehn tabellarische Aufstellungen an, die die Chronologie der Zeit Ludwigs von Anjou, vor allem aber inhaltliche Aspekte der Rechnungsbücher zum Gegenstand haben.
Die Einleitung führt sehr allgemein in die Forschung und die Quellen zu Ludwig ein, sodass die Einleitung eher den Charakter einer allgemeinen Quellenkunde zu gedruckten und ungedruckten Quellen zu dieser Person bekommt. In dem Teil der Einleitung, der Ziel und Aufbau der Arbeit zum Gegenstand hat, wird die zentrale Frage gestellt: "Inwieweit kann man sich einem mittelalterlichen Menschen vorwiegend durch Zahlen nähern?" (9) Darauf folgend wird der Aufbau beschrieben, vor allem aber ausgeführt, was nicht Gegenstand der Arbeit werden konnte, darunter die Biografie, Prosopografie des Umfeldes Ludwigs, soziale Mobilität, politische Konsequenzen der finanziellen Realität, Finanzverwaltung, Hofforschung, Alltagsgeschichte (11-15). Diese Gewichtung entspricht nicht den Leseerwartungen des Rezensenten, das sei vorweg genommen; etwa die Frage nach der Finanzverwaltung oder nach dem Hof wäre mir wichtiger erschienen. Im Resümee (223-227) entfällt konsequenterweise etwa die Hälfte des Textes auf die Antwort auf die Frage "Welche menschlichen Züge zeigen sich anhand der Biografie und der Untersuchung der Rechnungsbücher hinter den Zahlen?" (225) Die Schlussfolgerungen, die dort vorgetragen werden, sind nicht alle unmittelbar aus den Rechnungsbüchern abzuleiten. Doch zurück zum chronologischen Fortschreiten der Arbeit.
Das zweite Kapitel ist gleichfalls allgemein gehalten und bietet - angesichts der knappen bisherigen Forschung notwendigerweise - den Versuch einer knappen Biografie des Protagonisten. Im dritten Kapitel rücken die erhaltenen Rechnungsbücher in den Fokus. Erhalten sind vier Rechnungsbücher aus den Jahren 1375-1380 (mit der Lücke des Rechnungsjahrs 1378/1379) aus dem Anjou und eines aus dem Languedoc (Rechnungsjahr 1370/1371). Die Rechnungsbücher sind Archivgut der Archives nationales, das Rechnungsbuch aus dem Languedoc liegt in der Bibliothèque nationale de France.
Die kodikologische Beschreibung der - heute zusammengebundenen - Rechnungsbücher fällt sehr knapp aus; Abbildungen gibt es keine. Das ist umso bedauerlicher, als keines der im Fokus stehenden Stücke online zugänglich ist. Die Untersuchung der einzelnen Rechnungsbücher legt den Schwerpunkt auf inhaltliche Aspekte. Zu Beginn der Ausführungen zum ersten Rechnungsbuch wird beschrieben, wie bei der Anlage der Rechnungsbücher "elf unterschiedliche Rubriken" (63) eingeführt wurden. Diese finden sich im weiteren Fortgang der Beschreibung aber nicht wieder. Gemäß der Leseerwartung des Rezensenten hätte der Finanzverwaltung und insbesondere den Schritten der Rechnungslegung mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden können - gerade unter Hinzuziehung von Ergebnissen über die kapetingische Finanzverwaltung einer Apanage, wie sie unlängst von Gaël Chenard untersucht worden ist. [1]
In den folgenden Kapiteln 4 und 5 werden die unterschiedlichen Gruppen von Einnahmen und Ausgaben gesondert vorgestellt. Sehr detailliert wird man durch die einzelnen Posten der Rechnungsbücher geführt, wobei immer wieder abstrakte Erörterungen eingestreut werden, die an der entsprechenden Stelle ein wenig überraschen. So wird bei den allgemeinen Ausführungen über die Einnahmen u.a. erwähnt, dass die Eingeweide Ludwigs von Anjou 1384 in diejenige Kirche verbracht wurden, an der zehn Jahre zuvor ein Sohn seines Kanzlers kurzzeitig Dekan war (84). Grundsätzliche Erwägungen zu den Steuereinnehmern werden auf den Seiten 70-74 gestreut; dass der herzogliche Schatzmeister in Paris residierte, wird gleichfalls im Zusammenhang mit der Beschreibung von Einnahmen und Ausgaben festgestellt (76, 107; weitere Beispiele vgl. 171 oder 196 zur Wappengestaltung, 203 zu Dimensionen eines Teppichs). Möglicherweise wäre ein weiteres Kapitel, das dergleichen Belange, die mitzuteilen nicht in der causa scribendi der Rechnungsbücher inbegriffen waren, die aber gleichwohl erhoben werden können, für die Struktur des Buches förderlich gewesen. Hier stellt sich die bereits angesprochene Frage nach der Relevanz von Studien auch früherer Zeiten wieder ein: Die Fokussierung auf Paris ist bereits für den Inhaber der Apanage während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bekannt. [2] Vor diesem Hintergrund hätten die bevorzugten Aufenthaltsorte noch umfassender diskutiert werden können: Chenards Beobachtungen verlängernd will es doch so scheinen, dass vergleichsweise häufige Aufenthalte Ludwigs in seinen Herrschaftsgebieten vor allem von Kriegsnöten diktierte Abwesenheiten von seiner eigentlichen Residenz in Paris waren.
Hin und wieder mag der Leser sich wünschen, dass mehr Zeit gewesen wäre, um Befunde noch weiter zu kontextualisieren oder erneut über die Gewichtung nachzudenken. Wenn beispielsweise aus den Ausgabenlisten hervorgeht, dass ein Goldschmied bezahlt wurde, muss das nicht gleich heißen, dass dieser auch 'Angestellter' des Herzogs war (86, 226). Bei den Ausgaben wird zu jedem Rechnungsjahr auf den größten Ausgabenposten, die Überweisung an den Herzog, verwiesen. Welche Belange damit bezahlt wurden, hätte etwas ausführlicher erwogen werden können. Einige etwas idealistische Vorannahmen brechen sich Bahn: Wenn Ludwig seine Finanzverwaltung intensiv kontrollierte, sorgte das tatsächlich "für Zufriedenheit innerhalb der Bevölkerung" (190; ähnlich 40)? Hin und wieder finden sich psychologisierende Wertungen. "Dass die politisch hochbrisanten Eskapaden des Zweitgeborenen der Dynastie der Valois nicht essenziell geschadet haben, unterstreicht deren prädominante Stellung im französischen Adel" (225, 225-227 weitere Beispiele). Das erscheint nur schwerlich aus der Finanzverwaltung abzuleiten und wäre im Lichte von Forschungen etwa von Georg Jostkleigrewe zur Société politique zu betrachten. [3] Einige kleinere sprachliche Unebenheiten hätten gleichfalls vermieden werden können.
Eine Dissertation parallel zum schulischen Arbeits- und Familienleben zu schreiben, ist alles andere als trivial. Der Autorin gebührt hier großer Respekt. Blendet man diesen Hintergrund aus und betrachtet das Buch allein aus wissenschaftlicher Warte, ist die Freude angesichts der weiter oben genannten Kritikpunkte allerdings etwas verhalten. Die genannten Monita sollen jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass eine wichtige Figur der französischen Geschichte des Spätmittelalters nun besser bekannt und wichtiges Material erstmals vorgestellt und in ausführlichen Transkriptionen zugänglich ist.
Anmerkungen:
[1] Gaël Chenard: L'administration d'Alphonse de Poitiers (1241-1271) (= Bibliothèque d'Histoire Médiévale; Bd. 18), Paris 2017. Rezension bei den sehepunkten: http://www.sehepunkte.de/2018/09/30990.html.
[2] Chenard: L'administration (wie Anm. 1), 45-55 und häufiger.
[3] Stellvertretend, aber zur Drucklegung der hier besprochenen Arbeit noch nicht verfügbar: Georg Jostkleigrewe: Monarchischer Staat und 'Société politique'. Politische Interaktion und staatliche Verdichtung im spätmittelalterlichen Frankreich (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 56), Ostfildern 2018.
Andreas Kistner