Rezension über:

Annette Weinke: Law, History, and Justice. Debating German State Crimes in the Long Twentieth Century. Translated from the German by Nicholas Evangelos Levis, New York / Oxford: Berghahn Books 2018, viii + 331 S., ISBN 978-1-78920-105-5, GBP 100,00
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Rezension von:
Frieder Günther
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Frieder Günther: Rezension von: Annette Weinke: Law, History, and Justice. Debating German State Crimes in the Long Twentieth Century. Translated from the German by Nicholas Evangelos Levis, New York / Oxford: Berghahn Books 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 7/8 [15.07.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/07/32953.html


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Annette Weinke: Law, History, and Justice

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Deutschland hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Staatsverbrechen begangen, die das bis dahin Vorstellbare in vieler Hinsicht übertrafen. Daher entwickelten sich nach den beiden Weltkriegen internationale Debatten, wie solche Verbrechen durch die Schaffung eines humanitären Völkerstrafrechts angemessen geahndet werden könnten. Im Mittelpunkt von Annette Weinkes Buch, das vor drei Jahren auf Deutsch erschienen ist und nun in englischer Sprache vorliegt, stehen solche von außen kommenden Initiativen und die von ihnen ausgehenden deutschen Reaktionen. Weinke kann dabei zeigen, dass es bis in die 1990er Jahre eine starke Tendenz in Deutschland gab, Interventionen von außen abzuwehren und Debatten im nationalen Rahmen und auf der Basis des innerstaatlichen Rechts zu führen.

Den bereits während des Ersten Weltkriegs von alliierter Seite erhobenen Schuldvorwürfen begegneten die Deutschen mit einer breiten Abwehrfront, denn nach der Niederlage ging es für sie um ein Stück nationale Ehrenrettung. Schon hier verband sich die Ablehnung einer völkerrechtlichen Bestrafung der Kriegsverbrecher mit einem erbitterten Kampf um die historische Deutung von Kriegsursachen und Kriegsschuld.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schien es zunächst, als stehe das Völkerstrafrecht vor dem Durchbruch. Solche Hoffnungen wurden aber rasch enttäuscht. Die Ankläger bei den Prozessen vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg konnten auf Vorarbeiten von Wissenschaftlern, die vor der nationalsozialistischen Verfolgung geflohen und in die USA emigriert waren, zurückgreifen. Diese hatten versucht, die nationalsozialistischen Massenverbrechen zu erklären und zu deuten und zugleich Konzepte zu entwickeln, die eine völkerrechtliche Ahndung ermöglichten. Die Nürnberger Verteidigung entwickelte sich daraufhin zu einem Laboratorium für juristische und historische Gegenargumente, die später in Deutschland als Rechtfertigungsstrategien beim Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eine zentrale Bedeutung gewinnen sollten. Wie fragwürdig diese waren, zeigt Weinke anhand der exkulpierenden Legende, im Frühjahr 1941 habe es einen geheimen Führerbefehl zur "Endlösung der Judenfrage" gegeben. Diese Behauptung fiel erstmals in Nürnberg und wurde von der Zeitgeschichtsforschung dankbar aufgegriffen, ohne dass sie einer angemessenen Quellenkritik unterzogen worden wäre. Im Einklang mit juristischen Konstruktionen trug sie dazu bei, dass sich die Deutschen bald nach Kriegsende als eine "Opfergemeinschaft" verstehen konnten.

Auch während der 1960er Jahre, als sich laut Weinke ein "vulgär-funktionalistischer Blick" auf den Nationalsozialismus ausbreitete, wurden Einflüsse, die sich aus dem Eichmann-Prozess in Jerusalem und dessen Deutung durch Hannah Arendt hätten ergeben können, erfolgreich abgewehrt. Weinke weist nach, dass die landläufige Annahme unzutreffend ist, die Deutschen hätten ab 1949 einen vorbildlichen und linearen Prozess der Läuterung durchlaufen und sich rasch zum Vorreiter einer Institutionalisierung des humanitären Völkerrechts entwickelt. Die westdeutsche Annäherung an die transnationalen Diskurse über das Völkerstrafrecht zog sich über mehr als 40 Jahre hin, provozierte Gegenkräfte und beinhaltete Brüche und gegenläufige Entwicklungen. Dass die Bundesrepublik 1954 der UN-Genozidkonvention beitrat, geschah laut Weinke weniger aus einem historischen Schuldgefühl, sondern vor allem um eine rechtliche Handhabe zur Verurteilung von Vertreibungen in Osteuropa zu erlangen.

Nach 1990, als es um die Ahndung von Staatsverbrechen der DDR ging, stießen Anregungen aus dem Ausland, die von dem neuen Forschungsfeld der "Transitional Justice" ausgingen, in Deutschland zwar auf einen fruchtbareren Boden, dennoch blieben die Wiedervereinigungsdebatten weiterhin stark dem nationalen Rahmen verhaftet. So erfolgte die Verurteilung von Tätern der SED-Diktatur allein auf der Grundlage von innerstaatlichem Recht, Initiativen für eine Generalamnestie, die es in Lateinamerika gegeben hatte, hatten keine Chance auf Erfolg. Die Enquete-Kommissionen zur SED-Diktatur zielten laut Weinke eher auf die Etablierung eines offiziellen Geschichtsbildes als - wie in anderen Wahrheitskommissionen des Auslandes - auf Dialog und Versöhnung zwischen Tätern und Opfern.

Die Grundlinien dieser Erzählung sind weitgehend bekannt. Die Stärke von Weinkes Studie liegt in ihren diskursiven Tiefenbohrungen. So kann sie beispielsweise in Raphael Lemkins, Hannah Arendts oder Samuel Huntingtons Debattenbeiträgen manch überraschenden Gedanken und manch unerwartete Querverbindung aufzeigen. Insofern handelt sich bei dem Band um eine überzeugende Diskursgeschichte, die zum weiteren Nachdenken anregt. Dem Leser wird vor Augen geführt, dass das Völkerrecht und die Menschenrechte nicht einfach gelten, sondern ihre Anwendung und Interpretation in hohem Maß umstritten ist. Zudem kann Weinke auf plausible Weise die enge Verflechtung von juristischen und historischen Debatten aufzeigen, die wiederum auf den Erinnerungsdiskurs zurückwirkten und von diesem beeinflusst wurden. Andererseits bleiben die Kriterien der Auswahl ihrer thematischen Schwerpunkte zuweilen etwas im Dunkeln. Warum ausgerechnet der Völkerrechtler Hermann Jahrreiß als zentraler Ideengeber der Nürnberger Verteidigung dargestellt oder die Vertreibungsdebatte nach dem Zweiten Weltkrieg nur am Rande behandelt wird, die ja ebenfalls einen maßgeblichen Anteil daran hatte, dass sich die Deutschen nicht nur dem Kreis der Täter, sondern auch dem der Opfer zuordnen konnten, wird nicht näher begründet.

Dass nun eine Übersetzung des Buches erschienen ist, ist ausdrücklich zu begrüßen, da es so in dem immer größer werdenden internationalen Forschungsfeld zur Geschichte der Menschenrechte und des Völkerrechts breit rezipiert werden kann. Die Übersetzung ins Englische durch Nicholas Evangelos Levis ist tadellos.

Frieder Günther