Seth A. Johnston: How NATO Adapts. Strategy and Organization in the Atlantic Alliance since 1950, Baltimore / London: The Johns Hopkins University Press 2017, XIII + 252 S., ISBN 978-1-4214-2198-8, USD 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Nicolas Badalassi / Sarah Snyder (eds.): The CSCE and the End of the Cold War. Diplomacy, Societies and Human Rights, 1972-1990, New York / Oxford: Berghahn Books 2019
Oliver Bange: Sicherheit und Staat. Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990, Berlin: Ch. Links Verlag 2017
Uwe Hartmann: Die NATO. Menschen und Mächte in der transatlantischen Allianz , Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag 2021
William H. Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989, New York: Columbia University Press 2018
Moritz Pöllath: Eine Rolle für die NATO out-of-area? Das Bündnis in der Phase der Dekolonisierung 1949-1961, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2017
Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): The INF Treaty of 1987. A Reappraisal, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Alan Allport: Demobbed. Coming Home After the Second World War, New Haven / London: Yale University Press 2009
Dagmar Bussiek: Dem Frieden verpflichtet. Wolf Graf von Baudissin (1907-1993) - Die Biografie, Baden-Baden: NOMOS 2021
Dieses Buch befasst sich nicht mit dem "NAT", dem North Atlantic Treaty, seiner Geschichte, seinen politischen Anfängen, den Beitritten vieler Nationen seit seiner Unterzeichnung 1949. Dieser Band befasst sich mit dem "O" in NATO; er versteht sich als eine Organisationsgeschichte. Näherhin versteht er sich als eine organisations- oder politikwissenschaftliche Untersuchung darüber, wie es einer solchen Großorganisation immer wieder gelingt, durch Umstrukturierungen und Adaptation Veränderungen in ihrem Umfeld zu überleben.
Seth A. Johnston, Major und Dozent in West Point, hat dazu mehrere wesentliche Situationen ("critical junctures") identifiziert, in denen solche Veränderungen im Apparat des Bündnisses notwendig wurden, insbesondere die Schaffung eines bündniseigenen Militärapparats während der Koreakrise, dann der Strategiewechsel von massive retaliation zu flexible response in den 1960er Jahren, und natürlich die Neuformierung der Bündnisorganisation nach dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre. Diese Auswahl entspricht der gängigen Epochenbildung in der Geschichtsschreibung zum Nordatlantischen Bündnis.
Ein Blick in die Bibliografie und das Quellenverzeichnis lässt erkennen, dass sich Johnston ausschließlich auf englischsprachige Texte stützt. Weder hat er französische Archive oder Literatur benutzt noch deutsche. Dabei haben Autorinnen und Autoren wie Helga Haftendorn und Norbert Wiggershaus (letzterer mit einem ganzen Forschungsprojekt zur Frühgeschichte der NATO) ja auf äußerst breiter Quellenbasis viele Befunde schon publiziert. Johnstons Erörterungen zum Temporary Council Committee und der Entstehung des Annual Review-Prozesses hätten von einer Kenntnis der Arbeiten Helmut Hammerichs sehr profitiert. Man weiß als Rezensent nicht recht, was man mehr bedauern soll: die Bereitschaft amerikanischer Fachkollegen, europäische Literatur schlicht zu ignorieren, oder die Zurückhaltung europäischer Forschungsinstitutionen, die Früchte ihrer Arbeit auch in englischen Übersetzungen vorzulegen.
Auch die englischsprachige Literatur ist nicht im vollen Umfang berücksichtigt. So hat das Lyman Lemnitzer Center vor Jahren einen Band herausgebracht, der die internen Konflikte im Bündnis facettenreich analysiert (NATO and the Warsaw Pact. Intrabloc conflicts, ed. by Mary Ann Heiss and S. Victor Papacosma, Kent, OH 2008); man sucht ihn hier vergebens.
Johnston ist Politikwissenschaftler; das erklärt vielleicht, warum er ab und zu einem Fehler erliegt, den professionelle Historiker zu vermeiden gelernt haben (sollten): Die Aussagen von Zeitzeugen wie Ismay oder Gruenther übernimmt er gelegentlich recht unkritisch (etwa 65 f.). Dieser einseitigen Quellenauswertung entspricht die Einseitigkeit der Wertung: Auffallend häufig verweist Johnston auf die Verdienste von Charles Spofford, des amerikanischen Council Deputy der frühen 1950er Jahre. Ohne dessen Rolle insgesamt verneinen zu wollen: So zentral war er nun vielleicht auch nicht, sonst wäre ihm nach seiner Zeit bei der NATO eine steilere Karriere beschieden gewesen. Andererseits diskutiert Johnston die Entspannungspolitik, erwähnt dabei aber "Willi [!] Brandt" gerade einmal - deutlicher kann man seine US-amerikanisch verengte Perspektive nicht dokumentieren. Das Grundproblem der NATO, die Frage der Sicherheit vor und mit Deutschland, spricht der Band durchaus an (40); die Analyse ist dann aber doch recht holzschnittartig und vereinfachend. Hierzu gibt es eben mehr Literatur, als der Autor kennt.
Für die Umgestaltung der Allianz nach dem Ende des Kalten Krieges sieht Johnston drei Hauptverantwortliche: den deutschen Oberst Klaus Wittmann vom International Military Staff sowie die beiden NATO-Generalsekretäre Manfred Wörner und, nach dessen Tod, Willy Claes (6, ähnlich 135, 147) - auch diese Liste mag eklektisch wirken.
Am Ende sieht der Autor die von ihm gewählte Methodik bestätigt: Die Analyse organisatorischer Veränderungen über critical junctures ist geeignet, solche Prozesse zu erklären. Jeweils etwa fünf Jahre hat es gedauert, bis aus einem Anstoß, verstärkt durch das Scheitern eines ersten Lösungsansatzes, am Ende eine erfolgreiche Neugestaltung wird. Ohne hier quellengestützt arbeiten zu können, äußert Johnston doch die vorsichtige Annahme, dass das auch für die weitere Umgestaltung der NATO, etwa durch den Terrorangriff auf die USA vom 11. September 2001 und den danach folgenden Afghanistaneinsatz, gelten könne. Übrigens ist Johnston einer der wenigen Autoren, die klar erkannt haben, dass die Ausrufung des Bündnisfalls eine Initiative der Europäer war, die auf diesem Weg ihren Anspruch auf politische Konsultation durch Washington anmelden wollten. Dass eine solche Umgestaltung ihre Zeit braucht, muss dabei kein Schaden sein: In einem auf Konsens angelegten Bündnis ermöglicht ein solches schrittweises Vorgehen die Beteiligung und letztlich Zustimmung aller Partner. Das reduziert auch die immer wieder aufkommenden Tendenzen der USA, am Bündnis vorbei "coalitions of the willing" zu schaffen. Am Ende erwiesen sich die verlässlichen Strukturen der Allianz als tragfähiger.
Johnston hat ein kluges, in seiner Systematik überzeugendes politikwissenschaftliches Buch vorgelegt, in dem er Zusammenhänge und Strukturen aufzeigt. Dass ihm dabei der geschichtswissenschaftliche Forschungsstand teilweise verborgen geblieben ist, stört allerdings den Gesamteindruck.
Winfried Heinemann