Aleksandr Vladimirovič Pačkalov: Srednevekovye goroda ninego Povol'ja i severnogo Kavkaza, Moskva: Knorus 2018, 180 S., ISBN 978-5-4365-2415-3
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Dieses Buch öffnet ein Fenster zu Debatten unter Archäologen, Numismatikern und Historikern über eine Städteregion, die allgemein als entlegen gilt. Vielleicht zu Unrecht, denn hier an der unteren Wolga finden sich die Überreste zahlreicher Städte im Kreuzungsgebiet mit einem wichtigen Zweig der Seidenstraßen. Darunter befindet sich eine der weltweit größten der damaligen Zeit, Sarai, die einstige Hauptstadt des westlichen Zweiges des Mongolenreiches, auch Goldene Horde genannt. Die Ruinenfelder messen nach Quadratkilometern und Münzfunde zählen Millionen. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Goldenen Horde ist dringend geboten, nicht zuletzt, da in deren Historiographie in den letzten Jahren zumindest in Deutschland Ruhe eingetreten ist. Das gilt besonders für die Städtegeschichte, deren letzte deutschsprachige Publikationen Übersetzungen von Werken des 2000 verstorbenen Doyens der Archäologie der unteren Wolga, Fedorov-Davydov sind. [1] Die hier zusammengefassten archäologischen Studien wurden bis in jüngste Zeit fortgesetzt, so dass Pačkalov einen Überblick über den Stand der neuesten Forschungen gewähren kann. Zu den Stärken des Buches gehört dabei, dass die Diskussion systematisch nach geographischen Regionen abgehandelt wird - abgedeckt werden der Nordkaukasus, der Ural-Fluss und untere Don - und getrennt nach historisch bezeugten Städten und archäologischen Fundstätten. Dies und in Kapiteln organisierte thematische Schwerpunkte erleichtern den Zugang für Fachfremde, die Debatten um die Zuordnung zudem in kondensierter Form in einem weiteren Kapitel verfolgen können.
Hervorzuheben sind Argumente für die größere Kontinuität der Städte in den Niederungen der Wolga und des Urals. Für Diskontinuitäten waren z.T. administrative Erwägungen ausschlaggebend, so die Oberhoheit des Großkhans und seiner Verwalter in den alten Städten, weshalb die Goldene Horde ihre eigenen Gründungen vorantrieb. Während Globalgeschichte und Überblicksliteratur die Unbeständigkeit der nomadischen Herrschaftsformationen für die Zerstörungen und mangelnde Überlieferung oder fehlende archäologische (Be-)Funde verantwortlich machen, verweist Pačkalov verstärkt auf einzelne Umweltfaktoren, wie die Überschwemmungen des 14. Jahrhunderts.
Nützlich sind die detaillierten und zusammengefassten numismatischen, archäologischen und kartografischen Beobachtungen zur Lokalisierung der Städte der Chasaren, Oghusen und der Goldenen Horde, die aufgrund eines Mangels an eigenen Schriftquellen oft wenig eindeutig ausfällt. Der Autor bemüht sich um eine eigene Einschätzung bei gebotener Distanz.
Die oft und vor allem von Fachfremden als getrennte Städte ausgewiesenen Sarai-Batu und Sarai-Berke können nicht klar voneinander getrennt werden. Den Aufzeichnungen italienischer Reisender und heutigen Schätzungen zufolge war Sarai in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts viermal so groß wie Kairo, die Bevölkerung erreichte etwa 75.000. Auch im 15. Jahrhundert nach den oft als Endpunkt der städtischen Entwicklung dargestellten Verwüstungen Timur Lenks 1395 blieb das selitrennoe gorodishche oder Neu-Sarai, das neue Sarai ein wichtiger, wenn auch nicht mehr ganz so großer Handelsplatz, wozu bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts und damit Niedergang und Zerstörung der Großen Horde durch den Krimkhan und Moskau Nachrichten und entsprechende Münzfunde auftreten.
Den Nachrichten über Wissenschaften, Religion und Kultur in Sarai zufolge gab es 13 Hauptmoscheen und eine große Zahl kleinerer in der Stadt. Im 18. und 19. Jh. fanden Reisende die Ruinen dreier großer Moscheen im Ruinenfeld des Selitrennoe gorodišče; die umfangreichen Grabungen des 20. Jahrhunderts wiesen diese ebenfalls aus. Schon Khan Uzbek soll eine Medrese für die Wissenschaften gegründet und eine große Zahl Gelehrter und Geistlicher nach Sarai geholt haben. Nachrichten über Bibliotheken, auch größere, sind erhalten. Zahlreiche Gelehrte führten den Namen Sarai als Pseudonym (tahallus). Nach einer Auflistung der Persönlichkeiten vergleicht Ibn Arabšach (Ibn 'Arabshāḥ) Sarai aufgrund der so erreichten Blüte des gelehrten und geistigen Lebens vorteilhaft mit Ägypten; der von Toktamyš aus Täbris nach Sarai verschleppte Poet Kamol Chudžandi (Kamoli Chudschandi) vergleicht hingegen in einem Gedicht Sarai mit einem Gefängnis.
Pačkalov vertritt insbesondere aufgrund numismatischer Befunde die Meinung, dass nicht das oft genannte Carev gorodišče [hiernach: Carev g. ], sondern das 110 Kilometer von Astrachan gelegene Selitrennoe g. das von Khan Uzbek um 1330 gegründete Neu-Sarai darstellt. Das Carev g. bei Wolgograd war demnach die ältere Oghusenstadt Ukek, das von Batu oder Berke gegründete Alt-Sarai hingegen wird nun von vielen Forschern im Krasnojarskoe g. im Wolgadelta gesehen. Dies passt im Übrigen zum Befund für die Hauptstadt der Chasaren, Itil, die im Wolgadelta oft gesucht aber nicht gefunden wurde, weil sie, wie Pačkalov schreibt, möglicherweise der Erhöhung des Meeresspiegels der Kaspik im 14. Jahrhundert anheimfiel. Bis 1330 gibt es für Sarai nur wenig Münzfunde bzw. -prägungen, die in dieser frühen Periode von anderen, und mithin wirtschaftlich zunächst wichtigeren Städten der Region übertroffen werden.
Pačkalov sammelt die Nachweise für den Anstieg des Meeresspiegels der Kaspik sowie erhöhten Flusspegels der Wolga im Jahrzehnt um 1330. Gab es dafür bis vor kurzem nur verstreute Hinweise von Reisenden, so hat die Archäologie in den letzten Jahrzehnten in den Ruinen der Mündungsstädte der Wolga und des Ural Zerstörungshorizonte mit umfangreichen Lagen von Keramikabrieb gefunden, die von Meeres- oder Flussablagerungen und Muschelbewuchs überdeckt sind. Der steile Anstieg der Bevölkerung und wirtschaftlichen Bedeutung Neu-Sarais in den 1330ern, das überall mindestens 13 Meter über dem heutigen Flusspegel, mithin 6 Meter über dem erhöhten der 1330er liegt, dürfte daher mit Migrationen aufgrund seiner überschwemmungssicheren Lage verbunden sein.
Gülistan findet sich in Aufzeichnungen und Münzfunden aus den 1340er-1360er Jahren, die in dieser Zeit diejenigen aus Sarai übertreffen; es wurde bei unsicherer Lokalisierung von Khan Janibek gegründet. Die Ausgrabungen im Carev g. weisen es in eben diesen Jahren als wichtiges politisches und kulturelles Zentrum aus, das danach zugleich mit Gülistan an Bedeutung verliert. Dort wurde eine glasierte Kachel mit einem Fragment des populären Gedichts "Gülistan" Saadis gefunden, auf das die namensgleichen Gründungen in der muslimischen Welt zurückzuführen sind.
Eine Schwäche ist der lehrbuchhafte Aufbau, der mit nicht referenzierten Literaturempfehlungen zu jedem Unterkapitel einhergeht. Zum Teil ausgeglichen wird dies, indem die Literatur in der Reihenfolge ihrer Heranziehung oder Erwähnung im Text aufgelistet wurde. Der Autor greift auf eine große Breite ausländischer und russischer Autoren zurück, von zentralasiatischen bis hin zu englisch- und italienischsprachigen. Als Einstieg für Fachfremde empfiehlt sich zusätzlich das einschlägige Kapitel von E. Zilivinskaja und D. Vasil'ev in der parallel in Kasan erschienenen Sammlung: Die Goldenen Horde in der Weltgeschichte. [2] Hier wird das Thema Stadtgeschichte und Archäologie systematisch eingeführt, Zeichnungen vermitteln Einblicke in Stadtgrundrisse und öffentliche Wasserversorgungssysteme und die neuesten Ergebnisse werden leichter zugänglich präsentiert. Die Fläche Sarais (Selitrennoe g. ) wird nun auf 15 Quadratkilometer geschätzt, wobei zahlreiche Nekropolen mit Mausoleen aus Ziegelstein sich bis weit in die Steppe erstreckten. Diese im Verhältnis zu zeitgenössischen nahöstlichen und europäischen Städten riesenhaften Ausmaße, die schon die Zeitgenossen erstaunten, erklären sich durch die Abwesenheit von Stadtbefestigungen und durch ausgedehnte Villenviertel, die sich ihrerseits privat nur mit Zäunen schützten. Leerstehende Flächen, Weiden oder sonstige agrarwirtschaftlich genutzte Flächen wurden hingegen im Stadtbereich nicht gefunden. Einige Stadtteile waren dagegen am Straßenrand dicht bebaut und das Zentrum, wie gesagt, ebenfalls verdichtet und von öffentlichen Bauten wie Moscheen, öffentlichen Bädern - diese dienten der Elite auch als Kommunikationsräume - Gericht, geistlichen Seminaren (Medresen), Pilgerhotels und zugehörigen, gepflasterten öffentlichen Plätzen mit Wasserbecken geprägt. Darin erweisen sich die besonderen Züge der Städte der Goldenen Horde, die auf Erlass des jeweiligen Khans im Schutze des Weltreichs erbaut wurden und nach ein bis zwei Jahrhunderten so schnell wieder verschwanden, wie sie aufblühten: Erst in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der 1360er und 1370er Jahre bemühte man sich um Befestigungen, die jedoch nicht zuletzt aufgrund der verfügbaren Baumaterialien wenig effektiven Schutz boten.
Offenbar wurden an der unteren Wolga noch keine neueren Verfahren zur zerstörungsfreien Ortung (Geomagnetik) verwendet, die unter anderem im zentralmongolischen Orchontal eine Vielfalt von bislang selbst Einheimischen unbekannten Siedlungsstrukturen an den Tag gebracht haben. [3] Die bislang ausgegrabenen, umfangreichen Flächen im Selitrennoe g. umfassen 30.000 Quadratmeter [4]; sie lassen übrigens bislang nur Aussagen über das 14. Jahrhundert zu, weniger über das 13. Jahrhundert. Die Beziehungen der Reiternomaden zu den städtischen und anderen sesshaften Siedlungen stehen mit diesen und weiteren Studien über andere Steppenregionen zur Neuverhandlung. [5] Hier fügen sich Pačkalovs Studien und Übersichten zwanglos in die Debatte ein und füllen eine Leerstelle.
Anmerkungen:
[1] German A. Fedorov-Davydov: Städte der Goldenen Horde an der unteren Wolga. Unter Mitarbeit von A. von Schebek, München 1984; Ders. (ed.): The Silk Road and the Cities of the Golden Horde, Berkeley, CA 2001.
[2] E. D. Zilivinskaja / Dmitrij V. Vasil'ev: Goroda Zolotoj Ordy [Die Städte der Goldenen Horde], in: Rafael Chakimov / Mary Favero (eds.), Zolotaja Orda v mirovoi istorii [Die Goldene Horde in der Weltgeschichte], Kazan 2017, 630-660.
[3] B. Ahrens / J. Bemmann / R. Klinger / F. Lehmann / L. Munkhbayar / M. Oczipka / H. Piezonka / B. Schütt: Geoarchaeology in the Steppe - A new multidisciplinary project investigating the interaction of man and environment in the Orkhon valley, in: Archeologijn Sudlal (VI) XXVI Fasc. 16 (2008), 311-327.
[4] Bei einer geschätzten Gesamtfläche von 15 Quadratkilometern, s.o.
[5] David Durand-Guédy: Introduction. Location of Rule in a Context of Turko-Mongol Domination, in: Ders. (ed.): Turko-Mongol Rulers, Cities and City Life, Leiden 2013, 1-2.
Christoph Witzenrath