András Forgách: Akte geschlossen. Meine Mutter, die Spionin, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2019, 349 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-397272-6, EUR 24,00
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Spionageergebnisse wurden im Kalten Krieg hauptsächlich durch technische Mittel und durch die Auswertung offen zugänglicher Informationen gewonnen. Gleichwohl widmet sich der größere Teil der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema (ganz zu schweigen von der einschlägigen Romanproduktion) noch immer der Aufklärung durch menschliche Quellen - Agenten, Spione, Spitzel, Informanten und wie sie in der Fachsprache ansonsten bezeichnet werden mögen. Urmotive persönlichen Handelns - Liebe und Hass, Vertrauen und Verrat, ideologische Überzeugung und deren Ablehnung - verknüpfen sich mit dem großen politischen Ganzen, mit der Frage, wie die Welt international oder innergesellschaftlich geordnet sein sollte. Unverkennbar auch, wie unspektakulär, geerdet, banal sich gegenüber derlei höchsten Zielen die praktische Tätigkeit des Spionierens in der Realität oft dargestellt hat.
Diese Beobachtung vorausgeschickt, entzieht sich András Forgáchs neues Buch genau genommen der Besprechung in einem geschichtswissenschaftlichen Forum. Denn der bekannte ungarische Schriftsteller betreibt hier kein akademisches Geschäft. Er erzählt die Geschichte seiner Mutter, geboren 1922, gestorben 1985, und, abweichend vom Titel, zu guten Teilen auch seines Vaters (1920-1986), die sich beide als überzeugte, ja hundertzwanzigprozentige Kommunisten in den Dienst des ungarischen Geheimdienstes gestellt haben. Seit 1975 wurde die Mutter, als Bruria Avi-Shaul in Palästina aufgewachsen und als Jüdin dennoch radikale Antizionistin, von diesem "operativ bearbeitet" (Deckname "Frau Pápai"). Damit trat sie in gewisser Weise das Erbe ihres Mannes an, der seit den 1950er Jahren in Verbindung mit dem Geheimdienst stand, auch in seiner Zeit als Korrespondent des offiziellen ungarischen Pressedienstes in London von 1960 bis 1964 (wohin man ihn als Dank für seine Linientreue 1956 entsandt hatte). Überhaupt waren die Eltern des Autors, die 1947 nach Ungarn immigrierten, durchaus weitgereist: die Mutter hatte an der Amerikanischen Universität in Beirut eine Ausbildung als Krankenschwester gemacht, der Vater war als Journalist nach Ägypten, Syrien, Irak und Libyen gegangen.
Grundlage des Buches ist die einschlägige Berichterstattung der Mutter in den Akten des ungarischen Dienstes, [1] immer wieder in den Fußnoten zitiert, im Text aber mit den Freiheiten eines Autors literarisch überformt und collagenhaft dargestellt. Akte geschlossen ist damit eine ausschnitthafte Biographie der Eltern, gestaltet mit den Mitteln des Schriftstellers, die sich deren Spitzeltätigkeit zuwendet. Die Schilderung reflektiert zugleich autobiographisch die Verarbeitung dieses spät erlangten Wissens seitens des Autors. Indem sich beide Ebenen verschränken, erhält das Werk seinen historiographischen Wert als Quelle selbst. Es schließt an ähnliche literarische Adaptionen ungeahnter familiärer Verquickungen mit den Staatssicherheitsdiensten Osteuropas an. [2]
Zwei Leitmotive sind bestimmend in Forgáchs Mosaik: Dass seine Mutter nicht davor zurückschreckte, auch über die Lebensumstände ihrer flügge gewordenen Kinder zu berichten, ist das erste, und damit der Schmerz, der die Erzählung nicht laut bestimmt, aber der besonders im letzten Abschnitt in den Mittelpunkt rückt. Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, warum gerade der Bruch dieses Vertrauensverhältnisses so tief geht (mit Forgáchs Worten: "Als würden sich von einer Minute zur nächsten die Gesetze von Perspektive und Gravitation ändern können", 243). Der schreibende Sohn schafft hier die literarische Wanderung entlang des schmalen Grates, unverstellt über diese Verstörung zu berichten, ohne in einer Umkehrung zum "Verräter" an den Eltern, an der Mutter selbst zu werden.
Es ist nämlich nicht falsch beobachtet, wenn die Rezensentin des Deutschlandfunks festhält, es handle sich auch um "ein Buch der radikalen Zuwendung, der nachgetragenen Liebe", [3] was übrigens ganz nebenher in den beinahe zärtlichen Abbildungen von Bruria Forgách (8, 348 f.) sichtbar wird. Die sezierende Auseinandersetzung mündet jedoch unbestechlich in eine Zuweisung von Verantwortung: Die Mutter "übertrat ihr ganzes Leben lang Grenzen, zeitweise radikal und mutig, doch letztendlich auf eine moralisch nicht zu verteidigende Weise", und zwar im Privaten wie im Politischen: Ungefragt wurden Freunde und Familienangehörige in ihre Spitzelei hineingezogen, und dieses Verhalten hielt "eine korrupte und kleinbürgerliche bürokratische Diktatur am Leben, die die imperialen Interessen der Sowjetunion bedient und die eigenen Bürger der Freiheit beraubte" (318).
András Forgách, und das ist das zweite Leitmotiv des Buches, wendet viel Aufwand daran, das Warum der Spitzelei seiner Mutter zu erklären. So fremd ihm ihre säkulare Gläubigkeit an den Kommunismus ist, so aufschlussreich rekonstruiert er diese Haltung aus den Akten wie aus der Erinnerung. Mit "allzu großer Linientreue" (39) ist die Lebenswelt der Eltern eingangs noch sehr neutral umschrieben, aber bezeichnender Weise ist das eine Feststellung aus den Akten des Geheimdienstes selbst. Im Kalten Krieg gab es für den Vater nur einen "einzigen unabänderlichen Stützpfeiler", nämlich den der "unerschütterlichen Treue gegenüber der aktuellen Position der großen Sowjetunion" (334). Als "Eckstein ihres gemeinsamen Glaubens" galt seiner Mutter und ihm: Stalin (64). Es gibt viele Zitate ähnlicher Art in dem Buch, aus denen sich Verwunderung und Distanz des Sohnes gegenüber der unwandelbaren Hingabe der Eltern an das sowjetkommunistische Ideal erschließen.
Dieser ideologische Anker, ja dieser geradezu lebenserhaltende Antrieb der Mutter, wird flankiert von ihrem Antizionismus. Eine spezifisch linke jüdische Ablehnung des jüdischen Staates ist bei Bruria Forgách derart ausgeprägt, dass einmal mehr sogar der ungarische Geheimdienst irritiert ist; die Debatten um Israel werden, so erinnert der Sohn, in der Familie in einer Heftigkeit ausgetragen, "die die Religionskriege des Mittelalters in den Schatten stellte" (126). Erklären tut sich der Autor die politische Disposition weitgehend im Charakter der Mutter: Selbstlosigkeit und Selbstaufopferung; seelische Unordnung und permanente Hochspannung; Zerstreutheit bis zum Chaos; "seit ihrer Kindheit aufgesogene, [...] allzu simple Erklärungen für gesellschaftliche Ungerechtigkeiten"; letztendlich - der Begriff fällt nicht, aber drängt sich auf - eine Art Unbehaustheit, die sie für "Vertrauen gegenüber fremden Herren" empfänglich machte (327).
Die Akte "Frau Pápai" ist nach dieser Bilanz des Sohnes nur bei isolierter Betrachtung, als familiäre Spurensuche, geschlossen. Der Einzelfall eines Spitzeldienstes ist hier nur scheinbar unspektakulär oder gar banal. Die gesellschaftlichen Folgen solcher ideologieabhängigen Lebensläufe, dieser Beschädigungen von Seelen in den realsozialistischen Regimen wirken nach und werden weiter diskutiert. [4] Fraglich bleibt, ob sich hinter der Tragödie wirklich das Satyrspiel verbirgt, wie Forgách irgendwann beinahe versöhnlich meint. Aber vielleicht lassen sich nur mit einer derartigen Hoffnung die Einsichten um die eigenen Eltern und den kaum auflösbaren Widerspruch ihres Lebens einordnen: "Als Genossen zu jüdisch, als Juden zu kommunistisch, als Kommunisten zu ungarisch, als Ungarn zu fremd" (331).
Anmerkungen:
[1] Nach der Auflösung der Geheimpolizei Államvédelmi Hatóság (ÁVH) wurden dessen Aufgaben sowie die Spionageabwehr, die militärische Abwehr und die Auslandsspionage seit 1962 in der III. Hauptverwaltung des ungarischen Innenministeriums (BM III Föcsoportfönökség) organisiert. Bruria Forgách war hier für die Verwaltung III/I (Auslandsaufklärung), nicht für die III/III (Bekämpfung der inneren Opposition) registriert. Vgl. auch Krisztián Ungváry / Gabor Tabajdi: Ungarn, in: Łukasz Kamiński / Krzysztof Persak / Jens Gieseke (Hgg.): Handbuch der kommunistischen Geheimdienste in Osteuropa 1944-1991, Göttingen 2008, 481-554, hier 488-493.
[2] Vgl. Hans Joachim Schädlich: Die Sache mit B., zuerst in: Kursbuch 109 (1992), 81-89, sowie Susanne Schädlich: Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich, München 2009. Für eine frühere Parallele in der ungarischen Literatur vgl. Péter Esterházy: Verbesserte Ausgabe, Berlin 2003, als Auseinandersetzung mit der Spitzeltätigkeit des Vaters für die Verwaltung III/III.
[3] So Julia Schröder: Die Geheimnisse der Frau Pápai, in: https://www.deutschlandfunk.de/andras-forgach-akte-geschlossen-meine-mutter-die-spionin.700.de.html?dram:article_id=444631 vom 26.03.2019 [abgerufen am 06.08.2019].
[4] Vgl. die Debatte mit zahlreichen Rezensionen und Leserbriefen in der Tagespresse um das Buch von Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass, Stuttgart 2019.
Armin Wagner