Rezension über:

Jessika Nowak / Jan Rüdiger (Hgg.): Zwischen Basel und Marseille: Das Burgund der Rudolfinger (9.-11.Jahrhundert ) De Bâle à Marseille: l'espace bourguignon à l’époque rodolphienne (IXe-XIe siècles) (= ITINERA; 46/2019), Basel: Schwabe 2019, 173 S., 6 Kt., ISBN 978-3-7965-3918-3, EUR 48,00
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Rezension von:
Johannes Luther
Historisches Seminar, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Claudia Zey
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Luther: Rezension von: Jessika Nowak / Jan Rüdiger (Hgg.): Zwischen Basel und Marseille: Das Burgund der Rudolfinger (9.-11.Jahrhundert ) De Bâle à Marseille: l'espace bourguignon à l’époque rodolphienne (IXe-XIe siècles), Basel: Schwabe 2019, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 10 [15.10.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/10/33610.html


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Jessika Nowak / Jan Rüdiger (Hgg.): Zwischen Basel und Marseille: Das Burgund der Rudolfinger (9.-11.Jahrhundert ) De Bâle à Marseille: l'espace bourguignon à l’époque rodolphienne (IXe-XIe siècles)

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Das burgundische Königreich der Rudolfinger, das zwischen 888 und 1032 bestand und sich zeitweise von Basel bis ans Mittelmeer erstreckte, wurde von der Mediävistik lange übergangen. Die 1907 erschienene Monographie von René Poupardin galt über 100 Jahre lang als Standardwerk [1], bevor es von François Demotz' Dissertation über das "letzte der karolingischen Reiche" abgelöst wurde. [2] Demotz zählt zu einer neuen Generation von Mediävistinnen und Mediävisten, die sich in den letzten Jahren intensiver mit dem Reich der Rudolfinger auseinandergesetzt und bereits zahlreiche, zumeist in französischer Sprache verfasste, Publikationen zu diesem Thema veröffentlicht haben. [3]

Der vorliegende, von Jessika Nowak und Jan Rüdiger herausgegebene Sammelband möchte nun einen "état de la question" (7) dieser Forschungen anstreben und zu weiteren Arbeiten anregen. Der Band versammelt etablierte und sich etablierende Exponenten der Burgundforschung aus Frankreich, Deutschland, Italien sowie der Schweiz. Er stellt insofern ein Novum dar, als die Texte - bis auf zwei Ausnahmen - nicht im französischen Original, sondern in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurden. Man mag hier nach der Sinnhaftigkeit fragen, da auch die Arbeit von deutschen Burgundforschenden zum größten Teil über die Rezeption französischer Beiträge funktioniert, was die Kenntnis der originalsprachlichen Texte zwingend voraussetzt. Andererseits erreicht der Band damit vielleicht deutschsprachige Forschende, die zu eigenen Arbeiten zu diesem Raum angeregt werden können.

Die Beiträge bieten in der Summe unterschiedliche, von nationalen Forschungstraditionen geprägte Zugänge zur Geschichte des Königreichs Burgund. Wie die Herausgeberin und der Herausgeber in der Einleitung darlegen, ist das Bild vom Reich der Rudolfinger von zwei Negativa geprägt: Erstens einer scheinbar fehlenden, eindeutigen Identität, die Burgund für die im 19. und 20. Jahrhundert vorherrschende Nationalgeschichte nur bedingt anschlussfähig machte. Und zweitens einer, vor allem in der deutschen Reichsgeschichtsforschung verbreiteten Vorstellung von den Rudolfingern als schwache Könige - besonders im Vergleich zu den Herrschern im benachbarten ottonisch-salischen Reich, in dem Burgund nach dem Erlöschen der königlichen Dynastie auch aufgehen sollte. Zurecht mahnen Rüdiger und Nowak, das hochmittelalterliche Königtum generell nicht zu überhöhen und das rudolfingische Königtum, das immerhin fast 150 Jahre Bestand hatte, nicht zu unterschätzen. Gleichwohl sollte man den Einfluss der hier kritisierten Reichsgeschichte nicht zu gering einschätzen. Dass die Rudolfingerdynastie in direkter Abfolge 1032 erloschen ist und Burgund dann an das Reich überging, ist schlicht nicht wegzudiskutieren. Immerhin war der Salier Heinrich III. selbst ein Großneffe des letzten Rudolfingers Rudolf III. und führte das burgundische Königtum somit auf eine gewisse Weise weiter.

Die versammelten Beiträge können in vier thematische Blöcke unterteilt werden. François Demotz, Laurent Ripart und Guido Castelnuovo konzentrieren sich in ihren Ausführungen auf die Entwicklung der rudolfingischen Königsherrschaft. Einen großen Bogen schlägt Demotz, der die Geschichte des Rudolfingerreichs als stetige Anpassung der politischen Strukturen bei gleichzeitigem Fortbestand der königlichen Dynastie beschreibt. Überzeugend kann er den Weg von einer schlichten, eher an Fürsten erinnernden Herrschaftsausübung der ersten Rudolfinger in der Tradition der ostfränkischen Karolinger bis hin zu Rudolf III. nachzeichnen, der seine Herrschaft schliesslich auf den burgundischen, von westfränkischen Reformideen geprägten Episkopat und einige mächtige Adelsfamilien stützte, die im Laufe des 11. Jahrhunderts eine neue räumliche Ordnung herausbildeten. Ripart zeichnet das "Patchwork" (155) dieser Herrschaften im Alpenraum nach, das schließlich die rudolfingische Königsherrschaft ablöste. Sein Beitrag zur Territorialisierung der quasiautonomen Fürstenherrschaften bis zum Anfang des 12. Jahrhunderts bietet eine gute Klammer zu Demotz' Ausführungen. Castelnuovo fokussiert indes auf die letzte Burgundreise der aus dem Haus der Rudolfinger stammenden Kaiserin Adelheid von 998/99, die Abt Odilo von Cluny in seinem Epitaphium domine Adelheide auguste nachgezeichnet hat. Die hagiographische Quelle zeigt einerseits, wie Adelheid in Burgund als politische Friedenstifterin auftreten konnte, andererseits aber auch, wie die burgundische Königsherrschaft langsam zugunsten der principes ins Hintertreffen geriet.

Als zweiter Block können die Beiträge von Jean-Claude Rebetez und Andrea Hauff zusammengefasst werden, welche die burgundische Kirchenprovinz Besançon in den Blick nehmen und exemplarisch aufzeigen, wie eine genaue Re-Lektüre der Quellen sicher geglaubte Vorstellungen relativieren kann. Rebetez untersucht die Beziehungen zwischen dem Metropoliten von Besançon und seinem Suffragan in Basel. Die fehlenden Belege in den Quellen zeigen, wie schwach diese Verbindung sogar in der Zeit des einflussreichen Erzbischofs Hugo I. (1031-1066) gewesen sein müssen. Ebenfalls nur schlecht belegt ist die Rolle des von Hauff untersuchten Erzbischofs Dietrich von Besançon, der zwar als bedeutender Prälat aus der Zeit Rudolfs I. wahrgenommen wird, im Machtkampf zwischen diesem und König Zwentibold entgegen der bisherigen Forschungsmeinung aber keiner eindeutigen Seite zugeordnet werden kann.

In einem dritten Block nehmen Pierre Vey und Florian Mazel die Provence in den Blick, die zeitweise einen Teil des Rudolfingerreiches bildete. Diese wurde außerhalb der französischen Forschung bis dato stark vernachlässigt. Vey setzt sich mit der Frage auseinander, wie der vielleicht aus dem Viennois stammende Graf Arlulf, der um 950 in Marseille installiert wurde, von der Veränderung der Herrschaftsverhältnisse in Burgund und der Provence profitieren konnte. Mazel kann in seinen breiter gefassten Ausführungen über die Mächte und Grundherrschaften in der Provence vom 10. und 11. Jahrhundert deutlich machen, wie sich dieser Raum schrittweise zu einem königsfernen Fürstentum entwickelte. Er plädiert dabei für eine Abkehr von dem lange in Frankreich vorherrschenden Modell einer "mutuation de l'an mil", also dem Paradigma eines grundlegenden, um das Jahr 1000 festzumachenden Wandels aus der Antike überkommener sozialer Strukturen hin zu einem feudalen System von Burgherrschaften. Mag der Wandel im Königreich Burgund und der Provence im 11. Jahrhundert vor allem auf politischer Ebene tiefgreifend gewesen sein, so zeigt Mazel, dass sich die gesellschaftlichen Entwicklungen in diesem Raum nur schrittweise vollzogen.

Ebenfalls auf die "mutuation de l'an mil" rekurriert der ansonsten für sich alleine stehende Beitrag von Nicolas Carrier über die Frage, wie sich der Begriff der Unfreiheit im Mittelalter entwickelte. Anhand von Quellen aus dem Königreich Burgund gelingt es ihm, die gängige Vorstellung von einer Entwicklung von spätantiker Sklaverei zu mittelalterlicher Leibeigenschaft zu dekonstruieren und zu relativieren.

Das Sammelwerk präsentiert Burgund als ein durch seine europäische Zwischenlage vielfältig geprägtes Königreich. War das Rudolfingerreich in den vergangenen Jahrhunderten unter den Vorzeichen monolithischer Nationalgeschichten nur wenig attraktiv, lädt es heute zu einer Betrachtung aus vergleichenden Perspektiven ein. Wie der hier besprochene Band zeigt, kann die Beschäftigung mit Burgund gerade für eine international ausgerichtete Geschichtswissenschaft also nur gewinnbringend sein.


Anmerkungen:

[1] René Poupardin: Le royaume de Bourgogne (888-1038). Étude sur les origines du royaume d'Arles, Paris 1907 [ND: Genf 1974] (=Bibliothèque de l'Ecole des Hautes Etudes. Sciences Historiques et Philologiques; 163).

[2] François Demotz: La Bourgogne, dernier des royaumes carolingiens (855-1056). Roi, pouvoirs et élites autour du Léman, Lausanne 2008 (=Mémoires et documents publiés par la Société d'Histoire de la Suisse Romande; 9).

[3] Als jüngste Publikationen genannt seien hier der Sammelband Anne Wagner / Nicole Brocard (éds.): Les Royaumes de Bourgogne jusqu'en 1032 à travers la culture et la religion, Besançon, 2-4 octobre 2014, Turnhout 2018 (Culture et sociétés médiévales; 30) und das zweiteilige Themenheft La Bourgogne au premier Moyen Âge (VIe-Xe s.): approches spatiales et institutionnelles, in: BUCEMA 21.2, 07.02.2018 und 22.2, 23.01.2019 http://journals.openedition.org/cem/14840 [Stand: 10.09.2019] genannt.

Johannes Luther