Sviatoslav Dmitriev: The Birth of the Athenian Community. From Solon to Cleisthenes, London / New York: Routledge 2018, XIV + 392 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-1-138-08351-6, GBP 120,00
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In seiner gleichermaßen ideenreichen wie kühnen Monographie nimmt sich Sviatoslav Dmitriev vor, die traditionelle Sichtweise der althistorischen Forschung über die Entwicklung der demokratischen Bürgergemeinschaft Athens zwischen Solon und Kleisthenes zu hinterfragen, indem er herkömmliche Denk- und Deutungsmuster aufzubrechen und einen neuen Interpretationsbeitrag anzubieten trachtet. Denn ihm zufolge führe eine unreflektierte retrospektive Anwendung späterer Begriffe und moderner Konzepte (wie desjenigen der Bürgerschaft) bei der Untersuchung des 6. Jh.s v.Chr. zu grundlegenden Fehlinterpretationen, was sich insbesondere an dem irreführenden Verständnis der solonischen politeia als Bürgerrecht und der sich daran anschließenden Vorstellung von Solon als Begründer der Demokratie zeige. Die in der Forschung fest etablierte bipolare Gegenüberstellung von athenischen Bürgern und Nicht-Bürgern reduziere die Komplexität der soziohistorischen Verhältnisse in Athen und bedürfe deshalb einer grundsätzlichen Revidierung. Diese nimmt Dmitriev vor, indem er die Komplexität des mehrdimensionalen sozialen Gefüges Athens anhand der Untersuchung der drei unterschiedlichen, sich aber teilweise überdeckenden, sozialen Gruppen aufzeigt - des Verwandtschaftsverbandes der astoi, der Rechtsgemeinschaft der politai und der politischen Gemeinschaft der demotai.
Der erste Teil des Buches (Kap. 1 u. 2) widmet sich dem athenischen Verwandtschaftsverband (kinship community) und thematisiert vornehmlich die Auswirkungen der solonischen Reformen auf dessen Struktur, Organisation und Prinzipien. Die Kernaussage dieses Teils lautet: Solon habe den athenischen Verwandtschaftsverband organisiert und dadurch homogenisiert, dass er legitime Abstammung zu einer zwingenden, konstanten Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der athenischen kinship community machte. Demgemäß seien anders als bislang angenommen unter astoi nicht schlicht "Bürger" zu verstehen, sondern die Mitglieder einer engeren Personengruppe, die sich durch gemeinsame Abstammung verbunden fühlten. Um als astos zu gelten, sei seit Solon die rechtmäßige Geburt aus einer durch engye/engyesis geschlossenen Ehe einer aste mit einem astos vonnöten gewesen. Nur legitime Nachkommen (gnesioi) hätten den väterlichen Status erben, sein Erbe (patroia) antreten dürfen und aufgrund ihres exklusiven Rechts der enktesis Zugang zu den Phratrien und gene gehabt. Dagegen seien außereheliche Kinder (nothoi) von der anchisteia ausgeschlossen gewesen. Die solonischen Gesetze, die dem Verfasser zufolge genauso wie Drakons Gesetzgebung ausschließlich die Belange der astoi beträfen, hätten einheitliche Regeln für das Funktionieren des athenischen Verwandtschaftsverbandes geschaffen, die soziale und rechtliche (nicht aber die politische) Gleichheit ihrer Mitglieder durchgesetzt und damit zur Stärkung der Homogenität und der privilegierten Stellung der astoi gegenüber anderen Bevölkerungsteilen im vorklassischen Athen beigetragen. Dementsprechend zielten die Reformen Drakons und Solons laut Dmitriev (und entgegen der gängigen Meinung) nicht darauf ab, die Macht und Rolle athenischer Familienverbände zu schwächen, sondern diese umgekehrt sogar zu stärken.
Im Fokus des zweiten Teils (Kap. 3 u. 4) steht die athenische Rechtsgemeinschaft (legal community), deren Mitglieder als politai bezeichnet worden seien. Wie Dmitriev im vorhergehenden Teil herausgestellt hat, habe Solon die soziale und rechtliche Gleichheit der astoi mit seinen Reformen zwar gefestigt, dennoch sei der Verwandtschaftsverband der astoi nicht gänzlich deckungsgleich mit der Rechtsgemeinschaft der politai gewesen. Denn einerseits galten die astoi seit Solon als von Natur aus politai (politai by nature in der Nomenklatur des Verfassers bzw. astypolitai), andererseits gehörten zur athenischen Rechtsgemeinschaft darüber hinaus auch die demopoietoi (von Dmitriev auch als politai by decree bezeichnet). Bei dieser Gruppe von Menschen handelt es sich wiederum um Personen, die ihren polites-Status und ihre Privilegien nicht qua Geburt, sondern durch Verleihung erhalten haben. Obwohl sie - wie die astoi - politai gewesen seien und das Recht der enktesis besaßen, durften sie dem Verwandtschaftsverband nicht beitreten und erhielten keinen Zugang zu den Phratrien oder gene. Ausgeschlossen von den Organisationen der kinship community hatten sie dennoch den gleichen (bzw. einen sehr ähnlichen) rechtlichen Status und Privilegien: Sie konnten u.a. unbewegliches Vermögen besitzen, das Rechtssystem genießen und ihre öffentlichen Angelegenheiten selber tätigen, legitime Nachkommen in einer durch engye geschlossenen Ehe mit athenischen astai zeugen, an dem Sozial- und Wirtschaftsleben Athens unbeschränkt teilhaben und durften an der Volksversammlung teilnehmen und abstimmen und als Geschworene im Gericht fungieren, da diese Tätigkeiten dem Verfasser zufolge von den alten Griechen nicht als politisches Recht wahrgenommen gewesen seien. Insgesamt zeigt Dmitriev, dass die politai im vorklassischen Athen keine (politisch) homogene Gruppe bildeten, weshalb Solon - der wohl nicht die Etablierung politischer Gleichheit aller Athener bezwecken wollte - nicht als Förderer der Bürgerrechte gelten könne.
Vor diesem Hintergrund argumentiert der Verfasser, dass es im Athen durchaus möglich gewesen sei, ein astos bzw. polites zu sein, ohne politische Rechte zu besitzen, wie der Fall der Kinder, Frauen, älteren Männer, atimoi oder Mitglieder der beiden unteren solonischen Vermögensklassen (der Zeugiten und Theten) verdeutliche. Die Gemeinschaft der die politischen Rechte innehabenden demotai wird im dritten Teil des Buches untersucht (Kapitel 5 und 6). Hier legt Dmitriev dar, wie die Reformen des Kleisthenes die Entstehung der politischen Ordnung des demokratischen Athen vorantrieben, indem diese allen erwachsenen astoi gleiche politische Rechte zuerkannten und damit ihre Identifizierung mit den Demen als demotai förderten. Eine legitime Abstammung sei eine Voraussetzung für die Registrierung in den Demen und zugleich die Bedingung für den Besitz und die Ausübung der politischen Rechte gewesen. Entgegen der auf Aristoteles zurückgehenden und von vielen modernen Forschern vertretenen Ansicht, wonach Kleisthenes die Politik zum Wohle des athenischen Volkes reformieren wollte, deutet Dmitriev die kleisthenischen Reformen als eine weitere Maßnahme, den gesamten Verwandtschaftsverband der astoi zu homogenisieren und von den übrigen Bevölkerungsgruppen deutlicher abzugrenzen. Darauf hätten dem Verfasser zufolge ebenfalls die im Verlauf der athenischen Geschichte gelegentlich durchgeführten diapsephismoi abgezielt. Denn mit den vermehrten Verleihungen der politeia an Fremde sowie mit zeitweiligen Beschränkungen bzw. Ausweitungen des Kreises jener, die nicht zu den astoi gehörten und trotzdem politische Rechte ausübten, sei es mit der Zeit zu einer allmählichen Verschmelzung und Gleichsetzung der politeia mit dem Besitz politischer Rechte gekommen. Um sicherzustellen, dass nur rechtmäßige Athener (gnesioi) politische Rechte innehaben und die Privilegien der politeia by nature genießen, wurde in den Jahren 510, 445/4, 403/2 und 346/5 v. Chr. die Abstammung einzelner Athener überprüft und aufgrund dessen über deren Mitgliedschaft oder Ausschluss aus dem Kreis der astoi (politai by nature) entschieden. Da ohnehin ursprünglich und über einen längeren Zeitraum hinweg nur astoi politische Rechte besessen hätten, sei die athenische Demokratie - so das Fazit des Verfassers - im Grunde eine kinship democracy gewesen.
Den Band beschließen sechs Appendices, in denen einige relevante Einzelprobleme detaillierter vorgestellt und diskutiert werden. Ferner wird eine umfangreiche Bibliographie geliefert, die bemerkenswerter- und erfreulicherweise auch viele nicht-englischsprachige Titel aufführt. Außerdem finden sich drei Indices: Einer der Inschriften und Papyri, ein weiterer zu den antiken Texten und ein dritter zu den Namen und Sachen. Diese Indices bestechen durch ihren guten Aufbau und erweisen sich damit als nutzerfreundlich und hilfreich.
Die komplexe und nuancierte Interpretation Dmitrievs ist zugegebenermaßen insofern anregend und verlockend, als sie tatsächlich einige Probleme auszuräumen scheint. Gleichzeitig erschafft sie jedoch auch neue Probleme und ist darüber hinaus mit kleinen methodologischen Schwächen behaftet. Dazu kann vornehmlich der wohl nicht immer kritische Umgang mit den spätklassischen Quellen gezählt werden, welche unreflektiert zur Erklärung älterer Sachverhalte verwendet werden, wohingegen zeitgenössische (wenngleich spärliche) Belege kaum Beachtung finden. Die mangelnde Berücksichtigung grundlegender zeitgenössischer Zeugnisse wie der Elegien Solons hat zur Folge, dass wichtige Beweggründe für Solons Reformen (wirtschaftliche Krise und soziale Spannungen) gänzlich herunterspielt werden - freilich zugunsten der von Dmitriev verfolgten These. Die bei attischen Rednern tradierten "solonischen" Gesetze werden vom Verfasser allesamt stets als authentisch solonisch betrachtet, was angesichts des heutigen Forschungsstandes als eher fragwürdig angesehen werden muss. Darüber hinaus bleibt die Zeitdimension zuweilen verschwommen, sodass man bei der Lektüre gelegentlich unsicher ist, ob sich die Auslegung des Verfassers nur auf das solonische Athen oder aber auch auf das 5. oder auch 4. Jh. bezieht. Obwohl die Studie Athen gewidmet ist, stellt der Verfasser mitunter auch knappe Vergleiche mit anderen griechischen Poleis, die zwar interessant sind, aber dennoch die Übertragung der athenischen Sachverhältnisse auf alle griechischen Gemeinwesen nicht rechtfertigen können (der Verfasser bedient sich nämlich nicht selten des Ausdrucks "in Athens and other ancient Greek cities").
Ohne hier auf alle relevanten Subtilitäten der Argumentation Dmitrievs eingehen zu können, seien nur einige brisante Punkte erwähnt. So stellt der Verfasser bei der Untersuchung der Verleihungen der politeia im ausgehenden 5. Jh. und beginnenden 4. Jh. beispielsweise fest, dass es keinerlei Anhaltspunkte dafür gäbe, dass mit der Verleihung der politeia politische Rechte und konsequenterweise auch die Aufnahme die Demenliste einhergegangen seien (172). Denn die Demenzugehörigkeit, wie Dmitriev zeigen will, besäßen nur rechtmäßige Nachkommen der astoi (politai by nature), wogegen die übrigen Personen mit einem Demos nur "affiliiert" (affiliated) gewesen sein dürften bzw. müssten (234, 284). Dem entgegen kann jedoch etwa der Fall Pasions angeführt werden, der dem Demos Acharnai angehörte, was das für ihn inschriftlich belegte Demotikon Acharneus unverkennbar zum Ausdruck bringt (vgl. etwa IG II² 1609). Demgemäß scheint die Gegenüberstellung der Demenmitgliedschaft und -affiliation im Falle der politai kaum triftig zu sein. Auch die These, den demopoietoi (politai by decree) sei der Zugang zu den politischen Ämtern in der klassischen Zeit verwehrt gewesen (135, 173, 198, 237), vermag nicht völlig zu überzeugen, denn sie blieben zwar von einigen (von bestimmten gene besetzten) Priesterämtern und vom Amt der neun Archonten ausgeschlossen, wohl aber nicht von allen anderen Ämtern. Dass viele politai by decree etwa das Strategenamt bekleidet haben, räumt der Verfasser selbst ein (172, 239). Und zu guter Letzt: Hätten die Griechen die Teilnahme an der Volksversammlung und die Betätigung als Richter, wie der Verfasser mehrfach betont [1], nicht zu den politischen Rechten gezählt, stellt sich die Frage, warum athenische politides bzw. astai davon ausgeschlossen waren? Wenn nicht als politische Handlung, wie wurden diese Betätigungen überhaupt verstanden? Darauf vermag der Verfasser leider keine Antwort zu geben.
Die hier knapp angedeuteten Kritikpunkte sollen die positiven Aspekte allerdings nicht in den Schatten stellen. Das besondere Verdienst dieses Buches ist es, die starre und schematische Betrachtung der athenischen Bevölkerung durch das Prisma der Bürgerrechte stichhaltig zu hinterfragen und eine frische, unorthodoxe Perspektive auf die Zusammensetzung der athenischen Gesellschaft zu bieten. Insgesamt liegt also mit Dmitrievs Buch eine gedankenreiche wie kontroverse Studie vor, welche - auch wenn ihre Argumentation nicht durchweg zu überzeugen vermag - eine breite, auch kritische, Beachtung und Diskussion verdient.
Anmerkung:
[1] Seine Hypothese fußt auf einer keineswegs unbestreitbaren Lesart von Aristot. Pol. 1275a22-23. Zu dieser Passage (mit einer überzeugenderen Deutung als die Dmitrievs) siehe P. Fröhlich, La citoyenneté grecque entre Aristote et les modernes, Cahiers du Centre Gustave Glotz 27, 2016, 91-136, insb. 107-108 (mit Diskussion und weiteren Literaturhinweisen).
Rafal Matuszewski