Corinna Kuhr-Korolev / Ulrike Schmiegelt-Rietig / Elena Zubkova: Raub und Rettung. Russische Museen im Zweiten Weltkrieg (= Studien zu kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 383 S., 125 s/w-Abb., 6 Kt., ISBN 978-3-412-50188-4, EUR 45,00
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Die vorliegende Monographie ist das Resultat eines Forschungsprojekts zur Geschichte sowjetischer Museen im Bereich der "Heeresgruppe Nord", die von der VolkswagenStiftung gefördert wurde und unter der wissenschaftlichen Leitung von Wolfgang Eichwede (Universität Bremen) stand. Anhand der Leningrader Vorortschlösser Carskoe Selo, Pavlovsk, Peterhof und Gatčina sowie der altrussischen Hanse- und Museumsstädte Pskov und Novgorod rekonstruieren eine russische Autorin und zwei deutsche Autorinnen mit großer Detailkenntnis die verlustreichen Folgen der "Herrschaft der Wehrmacht" [1] für die Kunstsammlungen Nordwestrusslands.
Der moralische Anspruch der Publikation, der am Anfang der neuen Reihe "Studien zu kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern" formuliert wird, ist nicht zu übersehen: Das Buch soll ein Bewusstsein für den deutschen Kulturraub in der Sowjetunion schaffen und ist außerdem von der vorsichtigen Hoffnung getragen, den russischen Museen ihre Identität "wenigstens in Bruchstücken zurückzugeben" (29). Mit diesem Band liegen nun ein Abriss der stalinistischen Kulturpolitik in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit und eine Dokumentation des nationalsozialistischen Kunstraubs im kulturellen Kernland Russlands vor. Das ist ein weites Feld, dennoch fühlt sich der Leser an keiner Stelle allein gelassen. Die deutsch-russische Kooperationsarbeit ist vorzüglich lektoriert, die einzelnen Kapitel sind von überschaubarer Länge. Neugierig auf fünf Kapitel einer opulenten Publikation, die jedoch auf ein Verzeichnis der vielen genannten Ortschaften verzichtet, machen nicht zuletzt die farbigen Ikonenabbildungen in der Einleitung.
Auf einer breiten Quellenbasis können die Autorinnen die nahezu unbegrenzten Machtbefugnisse und Handlungsspielräume der deutschen Besatzungsfunktionäre detailliert nachzeichnen. Dafür dienen ihnen nicht nur einschlägige Bestände aus russischen Staatsarchiven oder Quellen aus den Archiven der Museen, die vom deutschen Kunstraub besonders betroffen waren. Nicht minder minutiös tragen die Bearbeiterinnen Dokumente über die Aufgabenteilung zwischen Einheiten und Dienststellen der Wehrmacht, des Auswärtigen Amts, der SS und des Ostministeriums beim Raub des imperialen Kunstschatzes der UdSSR zusammen. Dabei gelingt es ihnen, den Forschungsstand zur deutschen Besatzungspolitik in diesen Gebieten erheblich zu erweitern, zum Beispiel zum sogenannten militärischen Kunstschutz bei der Heeresgruppe Nord. Der weite Bogen, den die Autorinnen von der sowjetischen Museumspolitik, über die deutsche Besatzungsherrschaft bis hin zur alliierten Restitutionspraxis schlagen, erweist sich als sehr sinnvoll. Einige Längen fallen dabei nicht weiter ins Gewicht.
Die Autorinnen eröffnen zunächst ein informatives Panorama der Kulturgutverluste seit der Oktoberrevolution bis zum Tod Stalins. Dabei nehmen sie eine dezidiert russische Perspektive auf die Ereignisgeschichte ein, die ihren Horizont zuweilen einschränkt und einseitige Urteile fördert. Dies zeigt sich, um ein Beispiel zu nennen, etwa an der sowjetischen Praxis in ihrer ostdeutschen Besatzungszone nach Kriegsende. Neuere Forschungen lassen den Schluss zu, dass es sowjetischen Behörden nur in der Theorie um "Rückführungen aus sowjetisch besetzten Gebieten" ging (298 f.), während sich ein System willkürlicher Kunstaneignungen weit jenseits der Überlassung von Äquivalenten aus deutschen Museumsbeständen manifestierte [2].
In den weiteren Kapiteln geht es um die Konkurrenz verschiedener NS-Stellen bei der Akquise sowjetischer Kunstschätze, um sowjetische Maßnahmen zur Evakuierung und zum Schutz vor dem deutschen Zugriff sowie um eine Einschätzung der Restitution und der sowjetischen Kriegsverluste vor dem Hintergrund zwischenstaatlicher Restitutionspraxis nach dem Krieg. Abschließend diskutieren die Autorinnen im fünften Kapitel die lange Geschichte des Wiederaufbaus sowjetischer Sammlungen, der teilweise bis in die 1980er Jahre dauerte.
Was kann diese Studie über russischen Museen im Zweiten Weltkrieg aus der regionalgeschichtlichen Perspektive leisten? Überzeugend arbeiten die Autorinnen die Vielschichtigkeit des Gesamtkomplexes heraus, wenn auch die entgegengesetzten Interessen auf sowjetischer und deutscher Seite - Bewahrung versus Abtransport von Kunst - nicht überraschen. Neu sind die fließenden Übergänge von Kunstraub und -zerstörung, neu ist auch die Verbindung von propagandistischer Selbstdarstellung mit realen wirtschaftlichen Interessen. Wer aus der Perspektive der Akteure im Nordwesten Russlands mehr über sowjetische Museums- und nationalsozialistische Vernichtungspolitik erfahren will, dem sei das Buch als Fundgrube unbedingt empfohlen.
Anmerkungen:
[1] Jeff Rutherford / Adrian E. Wettstein: The German Army on the Eastern Front. An Inner View of the Ostheer's Experiences of War, Barnsley 2018.
[2] Frank Grelka: Beutekunst und Kunstraub. Sowjetische Restitutionspraxis in der SBZ, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), 73-103.
Frank Grelka