Rezension über:

Witold W. Mędykowski: Macht Arbeit frei? German Economic Policy and Forced Labor of Jews in the General Government, 1939-1943 (= Jews of Poland), Boston: Academic Studies Press 2018, XXXII + 418 S., ISBN 978-1-61811-596-6, USD 129,00
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Rezension von:
Frank Grelka
Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Frank Grelka: Rezension von: Witold W. Mędykowski: Macht Arbeit frei? German Economic Policy and Forced Labor of Jews in the General Government, 1939-1943, Boston: Academic Studies Press 2018, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 5 [15.05.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/05/35810.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Witold W. Mędykowski: Macht Arbeit frei?

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Witold Mędykowski, ein in Israel und Polen ausgebildeter Historiker und Politologe, ist mutmaßlich einer der besten Kenner der Archive des Genozids an den polnischen Juden. Seit beinahe zwei Jahrzehnten erforscht er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Yad Vashem in Jerusalem die Primärquellen zum Schicksal von rund drei Millionen polnischer Juden, von denen nur etwa zehn Prozent die Verfolgung und die Vernichtung durch die deutsche Besatzungsverwaltung überlebten. Das vorliegende Buch kann bereits jetzt als sein opus magnum bezeichnet werden, da es die Ergebnisse seiner minutiösen Archivrecherchen zusammenfasst und Generationen von Historikern des Holocaust ein wichtiges Nachschlagewerk sein wird.

Der Autor verspricht im Klappentext, das Buch sei die "überhaupt erste Studie, die jüdische Zwangsarbeit im Generalgouvernement (GG) in komplexer Weise darstellt". Um dieses Versprechen einzulösen, referiert er in zwei großen Abschnitten chronologisch die Geschichte der polnischen Juden seit dem Beginn der deutschen Besatzung im Herbst 1939 bis zur Ermordung der letzten überlebenden jüdischen Zwangsarbeiter im Rahmen der sogenannten "Aktion Erntefest" im November 1943. Schon in seiner Gliederung folgt das Buch der traditionellen Sichtweise der Forschung über die Shoah in Polen, die von einer Radikalisierung der nationalsozialistischen Verfolgungspraxis nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ausgeht. Insofern folgt der Autor gewissermaßen der "deutschen Schule" der Täterforschung und argumentiert in aller Regel fast ausschließlich nicht aus der Perspektive der jüdischen Opfer. Dennoch nutzt er durchaus die einschlägigen Nachlässe jüdischer Institutionen im GG, etwa die Akten der sogenannten Judenräte oder der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, die von den deutschen Besatzern dazu berufen worden waren, ihre Befehle auszuführen. Wertet man diese Quellen nur in dieser einen Dimension aus, wie zum Beispiel in Kapitel 3 ("Forced Labor in the Ghettos and Labor Detachments"), so wird zwar die genozidale Intention, die der jüdischen Zwangsarbeit deutscherseits zugrunde lag, deutlich. Andererseits erfährt der Leser jedoch erstaunlich wenig darüber, welche unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die polnisch-jüdische Gesellschaft die deutschen Forderungen zum "Arbeitseinsatz" an die jüdischen Institutionen hatten.

Traditionell folgt diese Studie dem Forschungsstand auch insofern, als sie voraussetzt, dass der sogenannte "jüdische Arbeitseinsatz" aus Sicht der Täter eine ökonomische Zweckmäßigkeit verfolgt habe. Daran lässt bereits die Einleitung keine Zweifel, die grundsätzlich von einem positivistischen Verständnis von Arbeit ausgeht und den Einsatz jüdischer Arbeiter in der deutschen Besatzungswirtschaft als eine extreme Variante der klassischen Lohnarbeit versteht: "[...] our research aims to understand the role that forced labor played in the economic policies of the German authorities in the General Government. [...] in the ghettos of the General Government there existed a particular economic system, which could be described as 'forced economy'" (VIII). Die so gemutgemaßte Wirtschaftlichkeit jüdischer Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft kann die empirisch eindrucksvolle Studie letztlich nur in einigen wenigen Ansätzen belegen. Auch konstatiert der Autor in der Zusammenfassung nur einschränkend: "Forced labor was rather used in concentration camps and at the end of the war, first of all, to achieve certain economic goals and not in order to exterminate the prisoners" (318).

In der Analyse der jüdischen Zwangsarbeit aus dem Blickwinkel der klassischen Ökonomie ist Mędykowskis Studie eher die Regel denn die Ausnahme in der Forschungsliteratur zum Thema. Allein schon der provokative Buchtitel 'Macht Arbeit frei?' jedoch regt dazu an, die Wirtschaftlichkeit der deutschen Verfolgungspraxis im Kontext des sogenannten "jüdischen Arbeitseinsatzes" zu hinterfragen. So sah bereits die Anordnung zur Umsetzung der "Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung" vom 12. Dezember 1939 vor, dass dieser Arbeitszwang einen "erzieherischen Zweck" haben sollte. Außerdem sollte er zwei Jahre oder so lange dauern, bis der erzieherische Zweck erreicht worden sei. Wenn man dazu berücksichtigt, dass die jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Regel nicht entlohnt wurden, dass sie weder über angemessene Arbeitsausrüstung noch Unterbringung verfügten und dass dieser Einsatz, das zeigen die Berichte der Überlebenden, gesundheitsgefährdend war, dann waren die Regeln klassischer Lohnarbeit seit Beginn der deutschen Besatzung bewusst außer Kraft gesetzt worden.

Auch wirft Mędykowskis wichtiger Hinweis auf die Lage sowjetischer Kriegsgefangener im Vergleich zu jüdischen Zwangsarbeitern im Generalgouvernement ein Schlaglicht auf das Spannungsfeld, in dem sich die Studie befindet. So könnte man fragen, warum die deutschen Stellen die mittellosen Soldaten der Roten Armee einfach haben verhungern lassen, während sie die jüdische Bevölkerung erst sozial marginalisierten und doch gleichzeitig in einem System nutzloser Arbeitsverhältnisse dezimierten? Es gehe darum, so hieß es auf einer Besprechung von Vertretern der deutschen Polizei und Verwaltung mit Generalgouverneur Hans Frank am 30. Mai 1940, "bei den Juden gewissermaßen den Rahm abzuschöpfen". Schließlich könne man nicht Millionen von Juden einfach verhungern lassen. Soll heißen: In den ersten beiden Jahren der Besatzung verschwendete die deutsche Verwaltung die Arbeitskraft der jüdischen Bevölkerung und erpresste - unter Androhung von Lagerarbeit - Gelder von den jüdischen Institutionen, um sich daran persönlich und institutionell zu bereichern. Warum nun diese Praxis klassischen Motiven der Lohnarbeit widersprach und dennoch der Zweckmäßigkeit des Genozids an den polnischen Juden entsprach, bleibt auch nach der dieser Studie eine offene Frage der Holocaustforschung.

Dass die Studie auf Grund des zweiten Abschnitts - über die jüdische Zwangsarbeit unter der Verwaltung der SS - zu dem Schluss kommt, gleichermaßen ideologische und ökonomische Ziele hätten ab dem Frühjahr 1942 zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den Vernichtungslagern im GG geführt, ist bereits Stand der Forschung. Wie andere Studien mit einem wirtschaftspolitischen Fokus übersieht auch dieser Band, dass "jüdische Arbeit" von Beginn an das Schlüsselkonzept des Genozids an den jüdischen Polen war. Allein erst mit der technischen Möglichkeit einer zeitlich und räumlich planbaren "Endlösung" seit 1942 kam es zu einer Übereinstimmung zwischen den politischen und militärischen Intentionen der Nationalsozialisten, das heißt dem industriellen Mord in den Vernichtungslagern mit dem parallelen Arbeitseinsatz in der Rüstungsindustrie.

Den Fachwissenschaftlern ist dieses Buch, das gerade in der ersten Hälfte von einem gründlicheren Englischlektorat hätte profitieren können, dennoch unbedingt zu empfehlen. So legt Mędykowski zwar nicht die Monografie über die Komplexität der Zwangsarbeit und deren Bedeutung für den deutschen Genozid vor, aber dennoch sucht das Buch in seiner Fülle an Primärquellen seinesgleichen. Gerade die zahlreichen Statistiken und thematischen Karten sowie die Bilder jüdischer Frauen und Männer, die zur Arbeit gezwungen wurden, sind für die weitere Forschung zum Thema von Bedeutung.

Frank Grelka