Michel Christian / Sandrine Kott / Ondřej Matějka (eds.): Planning in Cold War Europe. Competition, Cooperation, Circulations (1950s-1970s) (= Rethinking the Cold War; Vol. 2), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018, VIII + 375 S., ISBN 978-3-11-052656-1, EUR 79,95
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Nicht nur in der zeitgenössischen Wahrnehmung, sondern auch in der späteren Geschichtsschreibung hatte ein bestimmtes Bild vom Kalten Krieg große Suggestionskraft und wurde in der Historie gestützt. Danach handelte es sich um eine Auseinandersetzung zwischen Ost und West, die gleichsam in alle Poren der Gesellschaften eindrang, und sogar noch auf der Mikroebene bewusst oder unbewusst das Denken und Handeln der Menschen in Europa bestimmte. Dies findet seit einiger Zeit eine wichtige Ergänzung in quellengesättigten Untersuchungen zu den Kommunikationen über die "Blöcke" hinaus, über gemeinsame Erfahrungen, Herausforderungen und z. T. auch gemeinsame Strategien, diese zu bewältigen.
In diese, an Fahrt aufnehmenden Untersuchungen reiht sich der Sammelband ein, in dem es zentral um diese Ost-West-Beziehungen geht. Planung ist ein recht weiter Begriff - von "plasticity" ist in der Einleitung die Rede (4). Er hat - davon handelt dieser Band nicht - davon auszugehen, dass politisches oder gesellschaftliches Handeln immer einen Entwurf von Zukunft enthielt. Das ist gerade in entwickelten Industriegesellschaften mit langjährigem Vorlauf und Wirkungen von Planen selbstverständlich geworden - "modernity" ist hier das Schlagwort. Futurologie oder Zukunftsforschungen - Elke Seefried hat etwa dazu geforscht [1] - überschneiden sich hier ebenso wie die Tätigkeiten von internationalen Organisationen, sei es im UN-Verband, sei es im europäisch-gouvernementalen Rahmen oder im privaten Raum.
Dieser Band geht auf ein von einer Tagung flankiertes Projekt des Schweizer Nationalfonds zurück und dürfte daher primär von der Genfer Sozialhistorikerin Sandrine Kott veranlasst worden sein. Von den anderen Herausgebern und Autoren erfahren wir leider nichts; Hinweise gibt lediglich das kollektive Literaturverzeichnis am Ende. Der Sammelband fokussiert weitgehend auf trans- oder internationale wirtschaftliche Planungen, die naturgemäß auch soziale Folgen hatten bzw. noch häufiger, wie mehrere Kapitel betonen, politische Folgen nach sich zogen. Idealiter hätte ein freier Welthandel auf marktwirtschaftlicher Basis keiner Planung bedurft, doch hier - das wird in dem Band deutlich - wurden zunehmend internationale Rahmensetzungen dafür erforderlich. In dem Zusammenhang heißt es denn auch: "While competing against each other, the two blocs shared many ideas about planning"; diese Ideen hätten sich gegenseitig beeinflusst (5).
Die Beiträge sind im Kern chronologisch angeordnet. Francine McKenzie wie Daniel Stinsky betonen die Anknüpfung an die Zwischenkriegszeit. Erstere zeigt, wie sich britische und US-amerikanische, dann auch weltweit andere Handelsexperten schon im Krieg trafen und Pläne für eine Rekonstruktion des Welthandels entwarfen, die dann z. T. 1948 umgesetzt werden. Stinsky widmet sich der zentralen Führungsfigur, dem Schweden Gunnar Myrdal, der - schon im Krieg ganz von sozialwissenschaftlichen Planungen getrieben - 1947 Generalsekretär der UN-Wirtschaftskommission für Europa wurde. Hier gehörte auch die Sowjetunion dazu, und somit war ein intellektueller Austausch zwischen Ost und West möglich, der nach Stalins Tod intensiviert werden konnte.
Frankreich, der Staat, der in Westeuropa am stärksten auf "planification" setzte, unterhielt in den 1960er und 1970er Jahren enge Expertenkontakte zu "eastern countries", zumal zur Sowjetunion. Es gab demnach eine transnationale Wissenszirkulation, die ähnliche Lösungen für ähnliche Probleme anstrebte (Isabelle Gouarmé). Die im Titel ihres Beitrags mit einem Fragezeichen gestellte Alternative "Mandatory Planning versus Indicative Planning?" wird letztlich nicht beantwortet. Zwei UNESCO-Institutionen, der International Social Science Council (ISSC) und das European Coordination Centre for Research and Documentation in Social Sciences in Wien, sind das Thema von Katja Naumann. Es gab rivalisierende Werte, aber einen wichtigen Einfluss vor allem polnischer und anderer ostmitteleuropäischer Wissenschaftler, eine extensive Internationalisierung und internationale Kooperation. Die "Management"-Konzepte von Ost und West waren, so Sandrine Kott, gewiss gegensätzlich. Sie fanden aber in der Genfer International Labour Organisation (ILO) einen Ort der wechselseitigen Kommunikation. Sandrine Kott fragt dabei, inwieweit der West-Ost-Transfer von Wissen ergänzt wurde durch einen Einfluss auch auf die westliche Management-Kultur (139); eine klare Antwort gibt sie nicht. Der finnisch-sowjetische Austausch war besonders intensiv (Sari Autio-Sarasmo), so dass Finnland ein Mittler für westliche Technologie in die UdSSR wurde. Von Wechselseitigkeit ist hier nicht die Rede. Aus dem thematischen Rahmen fällt der tschechische christlich-marxistische Dialog der 1960er Jahre (Ondřej Matějka). Dieser zunächst innertschechische (tschechoslowakische?) Ansatz berief sich u.a. auf den französischen Philosophen Roger Garaudy oder den Psychologen Erich Fromm und wurde dann global.
Die Ostblock-Wirtschaftskoordination durch den COMECON war - das zeigt Simon Godard - "structurally unable", eine rationale Planung der sozialistischen Länder zu organisieren (208). Allein für die ČSSR zeigt Vitězslav Sommer, dass im Management vor und nach dem "Prager Frühling" von 1968 kybernetische Ansätze Gewicht bekamen. Das jugoslawische Modell der Selbstverwaltung diente häufig im Westen, so auch in der SPD, als mögliche sozialistische Orientierung, wie Benedetto Zaccaria für die Zeit um 1970 zeigt. Er spricht von einer "usefull lesson", die "mainly theoretical" geblieben sei (234). Ein schönes Beispiel für internationalen Wissenstransfer liefert Michael Hutter. Das International Institute for Applied Systems Analysis, ausgehend von Kanada, wurde wichtig für die Bekämpfung des Fichtenknospenwurms. Trotz beträchtlicher Friktionen, die auf nationale Wissenschaftstraditionen zurückgegangen seien, hätten hier ökologische Erkenntnisse ausgetauscht werden können, zumal in Bulgarien.
Die UN-Handelsorganisation UNCTAD erstrebte in den 1970er Jahren durch massiven Einfluss der Dritten Welt eine neue Welthandelsordnung (Michel Christian) zur Marktregulierung. Auch im Austausch mit der EG schuf sie ein "intellectual framework" (294), das aber bald wegen der Unzufriedenheit der Länder des globalen Südens einschlief. Jenny Andersson widmet sich einem OECD-Projekt: Interfutures (mehrfach schreibt sie von Interfuturs). Hier wurden auf Grund der Ölpreis-Krise ab 1973 und anderer Probleme primär von linken Wissenschaftlern im Westen Szenarien für die künftige Weltentwicklung für die nächsten Jahrzehnte entworfen, deren Verbindung mit anderen gleichzeitigen Ansätzen (Club of Rome) die Autorin für ein Desiderat hält.
Was bleibt? Es gibt viele innovative Quellenstudien zu Aspekten von Internationalismus, hier oft positiv als "social engineering" angesprochen. Ob es einen "stable social democratic internationalism" gab, wie Christian Michel, Sandrine Kott und Ondřej Matějka schreiben (10), sei dahingestellt. Es fand gewiss viel Transfer von Wissen nicht nur in Westeuropa, sondern auch mit dem östlichen Europa statt. Wie weit aber Wissen wiederum zurückwirkte, bleibt weiter zu untersuchen. Die versammelten Beispiele zeigen, dass solche Wechselwirkungen eher minimal waren. Darüber hinaus kann man das Planungsthema zumeist sinnvoll nicht nur für Europa erarbeiten, sondern muss dies, wie auch in diesem Band geschehen, mit dem UN-System verknüpfen. Dass die lange vergessene Papierproduktion internationaler Zusammenkünfte untersucht wird, ist verdienstvoll; nur sollte man stärker auch die Frage nach dem Einfluss auf den tatsächlichen Gang der Dinge in den Blick nehmen.
Und schließlich: mit den herausgearbeiteten Dialogen zwischen West und Ost, über die wir noch viel mehr wissen wollen, ging wohl auch stärker ein Medien- und Geheimdienstkrieg einher. So kann der Rezensent als Zeitzeuge zum Beitrag Matějkas ergänzen, dass junge Leute in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren in politischer Bildung vor dieser marxistischen Unterwanderung des nur vorgeblich menschenfreundlichen christlich-marxistischen Dialogs gewarnt wurden, während er als Historiker beisteuern kann, dass die vom Autor erwähnte Paulus-Gesellschaft nicht nur Menschen aus Osteuropa die Teilnahme ermöglichte, sondern dass auch der BND dabei aktiv Beiträge leistete. Das sind andere Dimensionen einer entstehenden entangled history zwischen Ost und West.
Anmerkung:
[1] Vgl. Elke Seefried: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980, Berlin / Boston 2015.
Jost Dülffer