Rezension über:

Martin Sabrow: Erich Honecker. Das Leben davor. 1912-1945, München: C.H.Beck 2016, 623 S., 62 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-69809-5, EUR 27,95
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Rezension von:
Dierk Hoffmann
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Dierk Hoffmann: Rezension von: Martin Sabrow: Erich Honecker. Das Leben davor. 1912-1945, München: C.H.Beck 2016, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 5 [15.05.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/05/28980.html


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Martin Sabrow: Erich Honecker

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In der DDR-Forschung haben biografische Studien nach wie vor Seltenheitswert. Bis jetzt sind nur wenige quellengesättigte Biografien erschienen, etwa zu Walter Ulbricht, Otto Grotewohl und Erich Mielke. Das gilt erst recht für Politiker aus der zweiten Reihe oder aber auch für andere Prominente aus der DDR. Außerdem liegen nur wenige gruppenbiografische Arbeiten vor. Für den Mangel an wissenschaftlich fundierten Biografien gibt es mehrere Gründe: Erstens sind, anders als bei westlichen Politikern, kaum Nachlässe mit aussagekräftigen biografischen Schriftstücken wie Briefe, Tagebücher und persönliche Aufzeichnungen zugänglich. Zweitens trat die SED-Führung nach außen stets als Kollektiv auf, sodass nur wenig über Meinungsverschiedenheiten nach außen dringen konnte. Deshalb wurde die archivalische Hinterlassenschaft der einzelnen SED-Politiker und der von ihnen geführten Apparate schon im Vorfeld sorgfältig angelegt - Konflikte sind darin kaum dokumentiert. Drittens war für Kommunisten das Offenlegen und die Deutung der eigenen Vergangenheit häufig mit persönlichen Risiken verbunden. So wurde vermutlich die Mehrzahl privater Papiere, so sie denn überhaupt existierten, aus Furcht vor einem staatspolizeilichen Eindringen in die Privatsphäre vernichtet. Dieser quellenkritische Befund führt auch dazu, dass im Fall der DDR bei biografischen Studien verstärkt auf andere Quellenüberlieferungen zurückgegriffen werden muss - etwa auf die allgemeine Überlieferung des Staatsapparates und die Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).

Martin Sabrow hat mit seiner Biografie über Erich Honecker aus der Not eine Tugend gemacht und unterzieht dessen Selbstinszenierung als kommunistischer Berufspolitiker, die 1980 in der Autobiografie "Aus meinem Leben" gipfelte, einer kritischen und quellenfundierten Betrachtung. Der vorliegende erste Teil umfasst "die Jahre davor", d.h. das Leben Honeckers bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei erliegt Sabrow jedoch nicht der Gefahr, nur eine "Jugendbiographie [...] als Legendenkritik und in einem Demaskierungsgestus" (561) zu präsentieren. Stattdessen will er Auskunft geben "über das lebensgeschichtliche Gepäck [...], das Honecker aus der Zeit vor 1945 in sein späteres Leben mitnahm" (15). Auf diese Weise sollen auch "biographische Deutungskämpfe um eine Person der Zeitgeschichte" erhellt und Einblicke in die "inneren Bindungskräfte der sozialistischen Sinnwelt" eröffnet werden. Die Quellengrundlage der Biografie ist sehr breit: Der Autor hat zahlreiche entlegene Quellen verwendet, aber auch etliche neue erschlossen.

Sabrow beschreibt zunächst sehr ausführlich die Herkunft und politische Sozialisation Erich Honeckers. So rekonstruiert er die Ahnentafel, die bis in das ausgehende 14. Jahrhundert zurückreicht. Ursprünglich im Zürcher Oberland ansässig, wanderte die Familie um 1700 ins Saargebiet ein. In der Nachbargemeinde von Honeckers Geburtsort Neunkirchen entwickelte sich bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine kleine Bastion der Arbeiterbewegung: "Wiebelskirchen galt vor 1914 als der einzige Ort an der Saar, der den Weg zum 'roten Bergarbeiterdorf' eingeschlagen hatte" (47). Honeckers Vater, der zwar politisch in der USPD engagiert, "aber nicht exponiert" (52) war, hatte vermutlich einen prägenden Einfluss auf den jungen, sich politisierenden Erich. Dieser betätigte sich seit 1926 im Kommunistischen Jugendverband (KJVD), trat 1928 in die Holzarbeitergewerkschaft und 1930 in die KPD ein. Honeckers revolutionäre Vision sei aber - so Sabrow - pragmatisch gewesen und habe "schlicht darauf [abgezielt], sich 'ein besseres Leben sichern' zu wollen" (54). Insgesamt nimmt die Schilderung des kommunistischen Arbeitermilieus im Saarland im ersten Kapitel einen breiten Raum ein, sodass die Rahmenbedingungen für die Entwicklung des jungen Parteifunktionärs deutlich werden.

Der Verfasser beschreibt Honecker als Parteisoldat, der nach einer abgebrochenen Dachdecker-Lehre über keinen ordentlichen Beruf verfügte, "der ihm außerhalb der Partei ein Einkommen hätte verschaffen können" (88). In der kommunistischen Bewegung wirkte Honecker eher angepasst; er vertrat die Sozialfaschismusdoktrin der KPD-Parteiführung vorbehaltlos. Seine später wiederholte Behauptung, er habe an der Saar schon die Einheitsfront zwischen dem kommunistischen und dem sozialdemokratischen Jugendverband geschmiedet, stellt "eine nachträgliche Verzeichnung der tatsächlichen Verhältnisse" (96) dar. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme schickte ihn die KPD ins Ruhrgebiet, um den kommunistischen Widerstand zu organisieren und illegale Flugschriften in Umlauf zu bringen. Diese Tätigkeit war für Honecker mit dem Risiko verbunden, auch persönlich in die Fänge der Gestapo zu geraten, der es im Übrigen in kurzer Zeit gelang, die kommunistischen Widerstandsstrukturen zu zerschlagen. Nur mit Glück entging er den Polizeischergen und reiste wieder in die saarländische Heimat zurück. Im anschließenden Abstimmungskampf an der Saar erhielt Honecker die Aufgabe, die Rückkehr des Saarlandes ins Reich zu verhindern: Obwohl er dabei seine Fähigkeiten als "routinierter Organisator und Redner" (196) durchaus unter Beweis stellte, votierten bei der Volksabstimmung Anfang 1935 über 90 Prozent für die Rückkehr der Saar ins Deutsche Reich und folgten damit der NS-Propaganda. Die Rolle des Drahtziehers für ein Sprengstoffattentat, das einige Jungkommunisten noch am Abend der Abstimmung unter Leitung Honeckers gegen das Verkehrsbüro der "Deutschen Front" in Neunkirchen verübten, schreibt Sabrow nach Abwägung der zur Verfügung stehenden Quellen dem Mitstreiter Herbert Wehner zu. Mit der darauf folgenden Flucht ins Exil nach Paris musste Honecker eine "dreifache Verlusterfahrung" (223) verkraften: die Niederlage der KPD in der "Saarschlacht", die Vertreibung aus der Heimat und der Abschied von der erhofften kommunistischen Machtübernahme. Sein letzter Einsatz für die Partei in Berlin, wo sich seine Arbeit im Wesentlichen auf die Selbstbehauptung der Parteiorganisation und die Weitergabe von Untergrundmaterialien aus Prag beschränkte, glich einer "hoffnungslosen Mission" (268) und endete mit der Verhaftung Ende 1935, die Sabrow sehr detailliert schildert.

Anschließend geht der Autor ausführlich auf den Prozess vor dem Volksgerichtshof ein, der Honecker zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilte, die der 24-jährige im Zuchthaus Brandenburg-Görden verbrachte. Dabei stützt sich die Darstellung auf Erinnerungen ehemaliger Mithäftlinge und überlieferte Justizunterlagen. Als Häftling verhielt sich Honecker unauffällig. Seine Rolle lässt sich offenbar nur schwer abschätzen, da er "nur selten in den Berichten von Häftlingen erwähnt wird" (325). Im letzten der insgesamt sechs Kapitel werden die Ergebnisse der Teilbiografie zusammengefasst und das "biographische Gepäck" Honeckers genauer analysiert. Sabrow betont einerseits die "zahlreichen Ungereimtheiten in Honeckers Vita" (453), die der SED-Geschichtsschreibung später zu schaffen machten. Andererseits sei Honecker selbst bei einer offiziellen Filmproduktion für das DDR-Fernsehen, in der andeutungsweise seine Flucht in den letzten Kriegswochen aus dem Zuchthaus thematisiert werden sollte, nicht bereit gewesen, "die Deutungshoheit völlig aus der Hand zu geben" (467). Insgesamt hat Sabrow eine informative, stellenweise etwas detailverliebte, aber sehr gut geschriebene Biografie vorgelegt. Der Leser darf gespannt sein auf "das Leben danach".

Dierk Hoffmann