Rezension über:

Martin Sabrow / Tilmann Siebeneichner / Peter Ulrich Weiß (Hgg.): 1989 - Eine Epochenzäsur? (= Geschichte der Gegenwart; Bd. 27), Göttingen: Wallstein 2021, 307 S., ISBN 978-3-8353-5021-2, EUR 29,90
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Rezension von:
Hermann Wentker
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Wentker: Rezension von: Martin Sabrow / Tilmann Siebeneichner / Peter Ulrich Weiß (Hgg.): 1989 - Eine Epochenzäsur?, Göttingen: Wallstein 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/36562.html


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Martin Sabrow / Tilmann Siebeneichner / Peter Ulrich Weiß (Hgg.): 1989 - Eine Epochenzäsur?

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1989 bildete zweifellos eine Epochenzäsur, da damals sowohl die Auseinandersetzung zwischen Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert als auch der Kalte Krieg ein Ende fanden. Das wird von den Herausgebern dieses aus einer Ringvorlesung hervorgegangenen Bandes nicht bestritten. Doch 30 Jahre nach dem annus mirabilis wird immer deutlicher, dass dieses Jahr auch den Auftakt zu einer Gegenwartsentwicklung darstellte, "deren Ursachen hinter 1989 zurückreichen" (7). Inwieweit sind die Autorinnen und Autoren der Beiträge dem Anspruch gerecht geworden, den historischen Systemwechsel sowohl in seinem Zäsurcharakter als auch "als Teil einer 'langen Wende'" (7) zu begreifen?

Das Buch setzt ein mit Überlegungen Martin Sabrows zum "Mythos 1989", wobei er Mythos als kulturwissenschaftliche Kategorie begreift. So sieht er die mythische Qualität der Revolution "in ihrer Harmonisierungskraft, die Unterschiede zwischen zeitgenössischen Zielvorstellungen und historischen Ereignissen einzuebnen vermochte" (15). Er hebt ab auf die unter den Bürgerrechtlern weitverbreitete Vision eines "Dritten Weges", die allerdings angesichts des Ergebnisses der Volkskammerwahlen von 1990 keine Realisierungschance mehr hatte. Seiner Meinung nach handelt es sich daher bei der Annahme, dass die friedliche Revolution lediglich Auftakt zur Wiedervereinigung gewesen sei, um einen Mythos. Das lässt allerdings außer Acht, dass friedliche Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung in einem engen kausalen Zusammenhang standen. Mythenbildung betreibe auch der Rechtspopulismus mit seinem Gerede von einer gegenwärtig nötigen "Revolution 2.0". Dass dies eine hanebüchene Vereinnahmung der friedlichen Revolution darstellt, trifft zweifellos zu. Doch begann Pegida wirklich "im Herbst 1989" (30)? Die nationalen Willensbekundungen von 1989/90 sollten nicht vorschnell als Ausdruck von Nationalismus bewertet werden.

Jan Behrends nimmt für die Sowjetunion eine klare Relativierung der Bedeutung des Jahres 1989 vor, und das nicht nur, weil diese erst 1991 unterging. Wenngleich Gorbatschow den Wandel angestoßen habe, sei er mit seinen Ideen nie mehrheitsfähig gewesen. Im Anschluss an den russischen Soziologen Juri Newada sind für Behrends langfristige Trends weitaus wichtiger. So konservierte Furcht die Strukturen des sowjetischen Systems; außerdem war "Loyalität zur Macht und ihren Vertretern und nicht Vertrauen [...] der Kitt der sowjetischen Gesellschaft" (50). In Südosteuropa gab es laut Jochen Töpfer Palastrevolten und, anders als in Mittelosteuropa, keine Bürgerrevolutionen. Den Eliten kam daher in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens eine herausragende Rolle zu. Außer in Slowenien vermochten es die politischen Eliten dort jedoch nicht, "eine nachhaltige und perspektivenorientierte Gesellschaftsordnung zu etablieren" (76). Dieter Segert, der dem Populismus in Mittelosteuropa nachgeht, sieht vier Ursachen für die dortige Fremdenfeindlichkeit: die nationale Karte, die von den Regimen in ihrer Spätzeit gespielt wurde, die Suche nach einer neuen Identität nach 1989, die Verunsicherungen aufgrund der radikalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die Diskreditierung der politischen Parteien während der Transformation. Im weiteren Verlauf geht er auf Revolutionsgewinner und -verlierer sowie auf die Ängste vor umfangreichen Veränderungen infolge der Migrationskrise ein. Mit diesem differenzierten Bild kann man seine These, dass vor allem der neoliberale, globalisierte Kapitalismus für die Untergrabung der Demokratie verantwortlich sei, nicht so recht in Einklang bringen.

André Steiner untersucht den Einfluss der wirtschaftlichen Globalisierung auf die Umbrüche in Mittelosteuropa und die DDR. Bereits ab den 1970er Jahren nahmen die Ostblockländer über ihre Verschuldung und Kapitalmarktverflechtung zwar an der wirtschaftlichen Globalisierung teil, waren davon aber nur partiell beeinflusst. Aufgrund der Liberalisierung ihrer Wirtschaftsordnungen waren sie nach "1989" weitaus stärker in den Welthandel und die Kapitalmärkte integriert als zuvor. "1989" war daher sowohl für diese Staaten als auch für die Globalisierung selbst eine klare Zäsur.

Die weiteren Beiträge befassen sich fast ausschließlich mit dem Umbruch in Deutschland. Jutta Braun liefert einen informativen Aufsatz über die Vereinigung im Sport, wo auch Wolfgang Schäuble die Erfolge der DDR retten wollte. Diese Erwartungen wurden teilweise erfüllt, größtenteils aber enttäuscht. Denn eine "Kopie des DDR-Erfolgs war und ist auch deshalb unmöglich, weil ein politisch gelenktes und repressiv abgesichertes Staatsdoping [...] in einem freiheitlich-demokratischen System undenkbar wäre" (142). Das Erbe des DDR-Natur- und Umweltschutzes im vereinten Deutschland untersucht Astrid Mignon Kirchhof. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Gruppen der unabhängigen DDR-Umweltschutzbewegung im gesamtdeutschen Parteiensystem aufgingen und bestimmte Vorstellungen der ostdeutschen Natur- und Umweltbewegung Anschluss an bundesdeutsche Entwicklungen und Projekte fanden. Offensichtlich bestand in einiger Hinsicht ein Gleichklang zwischen Ost und West auf diesem Gebiet, was auch einen Blick auf die Bundesrepublik nahegelegt hätte.

Peter Brandt kommt bei seinem lesenswerten Überblick über die Entwicklung des linken Parteienspektrums in der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung zu dem Ergebnis, dass 1989 zwar eine Zäsur, nicht aber das Ende jeglicher Hoffnung auf Sozialismus gewesen sei. Das linke Parteienspektrum ist Brandt zufolge zwar weiter in Bewegung, aber eine "nachhaltige Belebung der Sozialdemokratie zeichnet sich ebenso wenig ab wie ein folgenreicher Anstoß aus dem linken Spektrum jenseits der Parlamentsparteien" (208). Ob der relative Erfolg der SPD bei den Bundestagswahlen 2021 daran etwas ändert, bleibt abzuwarten.

Matthias Warstat widmet sich in seinem Blick auf die Berliner Theater 1989/90 sowohl der Rolle der Schauspieler in der friedlichen Revolution - insbesondere für die Großdemonstration auf dem Alexanderplatz am 4. November - als auch dem strukturellen Wandel der Theaterlandschaft nach der Wiedervereinigung, die von Fusion und Konzentration geprägt war. Dass beides zusammenhing, geht aus folgendem Satz eindeutig hervor: "Einen Staat in Frage zu stellen, wie es sich auf den Demonstrationen des Winters 1989/90 immer deutlicher abzeichnete, bedroht früher oder später auch das Staatstheater, dessen institutionelle Existenz an den Staat gebunden ist" (226).

Mit den Medien, die in einem solchen Band nicht fehlen dürfen, befassen sich Mandy Tröger und Peter Ulrich Weiß. Trögers Analyse zur Zeitungslandschaft Ostdeutschlands während der Zeit des Umbruchs stellt zunächst das Zeitungsmonopol der SED (und der Blockparteien) heraus, das ab Februar 1990 durch eine Welle von Zeitungsneugründungen infolge eines Mediengesetzes aufgebrochen wurde. Schon bald wurde jedoch der ostdeutsche Zeitungsmarkt von vier großen westdeutschen Verlagsgruppen übernommen, so dass 1989 eine Zäsur hinsichtlich der Besitzverhältnisse war. Aber die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen mit ihren Belegschaften und Lesern blieben, und die Monopolstellung der SED wurde durch eine wirtschaftliche Monopolstellung weniger bundesdeutscher Verlage ersetzt. Weiß zeigt die "Sektorialität von Zäsuren" (271) im ostdeutschen Fernsehen, etwa bei der Betrachtung von Strukturen und Personal oder des Programms. Er sieht hier durchaus Kontinuitäten und spricht von "einem partiellen Fortleben einer spezifischen Medienkultur und Beschäftigtengruppe" (271).

Anja Schröter, die den Ehegattenunterhalt in der ostdeutschen Scheidungspraxis vor und nach 1989 untersucht, konstatiert, dass sowohl vor als auch nach 1989/90 ostdeutsche Frauen an eine Doppelverdienerehe gewöhnt waren. Daher waren sie auch weniger bereit, "sich vom ehemaligen Partner versorgen zu lassen und über den rechtlichen Weg an ihn gebunden zu bleiben" (286), so dass sie die Spielräume des bundesdeutschen Rechts nicht nutzten. Als mit der Unterhaltsrechtsreform von 2008 die Eigenverantwortung stärker betont wurde, entsprach das mehr der ostdeutschen als der westdeutschen Praxis.

Die Relevanz all dieser Themen für die Frage nach dem Umbruch von 1989 ist einleuchtend, die genannten Beiträge orientieren sich meist an der Fragestellung des Bandes und sind in der Regel informativ. Warum ein solcher Band aber eine Abhandlung zum "Astrofuturismus" von Tilman Siebeneichner erfordert, in dem unter anderem die These vertreten wird, dass nicht der Westdeutsche Ulf Merbold, sondern der Ostdeutsche Sigmund Jähn als "Vater und Großvater aller deutschen Raumfahrer" (116) gelte, ist nicht nachvollziehbar. Und der Aufsatz von Gerhard Sälter, der die Behauptung vertritt, dass heute in der öffentlichen Erinnerungskultur ein DDR-Bild vertreten werde, "das in der Hochphase des Kalten Krieges entstand" (287), ist in seiner Einseitigkeit ein Ärgernis.

Hermann Wentker