Jan Friedrich Richter: Das Triumphkreuz im Dom zu Lübeck. Dokumentation einer Restaurierung (= Denkmäler Deutscher Kunst), Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2019, 248 S., 147 Farb-, 83 s/w-Abb., ISBN 978-3-87157-251-7, EUR 99,00
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Jan Friedrich Richter, ein ausgewiesener Kenner der mittelalterlichen Skulptur im Ostseeraum, hat eine wissenschaftliche Lücke in der Behandlung eben dieser Objektgruppe geschlossen: Mit der akribischen Zusammenstellung der Restaurierungsunterlagen des Lübecker Dom-Kruzifixes von Bernt Notke (1435-1509) in den 1970er Jahren legt er eine grundlegende Dokumentation vor.
Nun kann man sich fragen, welche Gründe die Aufbereitung dieser vier Jahrzehnte zurückliegenden Maßnahmen rechtfertigen, die immerhin bis heute den optischen Eindruck des Originals prägen. Richter nennt hierfür drei überzeugende Faktoren: die kunsthistorische Bedeutung des Werks, die kultur- und stadtgeschichtliche Bedeutung der Restaurierung und der damit bundesweit gesetzte (restaurierungs-)ethische Hintergrund (9). Die Grundlage des Bandes bildet die systematische Auswertung und editorische Darstellung aller verfügbaren Quellen, die der Autor in den kommunalen und kirchlichen Archiven sichtete, sowie die Einordnung dieser Dokumente in den zeithistorischen Kontext. Eingangs gibt er dazu einen Überblick über die Stiftung der Triumphkreuzgruppe um 1470, bestehend aus dem Gekreuzigten, Maria Magdalena, dem Stifter Bischof Albrecht II. Krummediek sowie der Muttergottes und Johannes, errichtet auf einer hölzernen Unterkonstruktion am westlichen Eingang zur Vierung des Doms und in räumlicher und wohl auch liturgischer Verbindung mit einem im 14. Jahrhundert erbauten Lettner östlich davon. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Gruppe war bislang dadurch behindert, dass die Erkenntnisse der umfangreichen Restaurierung zwischen 1972 und 1977 nicht oder nur in geringen Teilen publiziert waren. Richter erschließt eingangs den stilistisch für den Ostseeraum überaus fremdartigen Kontext der Figuren, ihrer Motive und Komposition und belegt auf diese Weise den außerordentlichen Stilpluralismus der Werkstatt Notkes in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (13-27). So stellt er die Frage nach den Arbeitsanteilen von Bernt Notke und dem inschriftlich genannten Bildschnitzer Eggert Suarte neu und verbindet so die Lübecker Gruppe mit der Gruppe um den heiligen Jürgen in Stockholm. [1]
Darauf folgt die objektive, chronologische Darstellung der konservatorischen und restauratorischen Maßnahmen, die in Folge der Kriegsschäden an der Triumphkreuzgruppe durchgeführt wurden: Bei den Bombenangriffen auf Lübeck im März 1942 geriet der Kreuzstamm in Brand, konnte zwar gelöscht werden, trug aber dabei und in den folgenden Monaten, in denen die Gruppe der Witterung ausgesetzt war, starke Schäden davon (29-32). Zur Rettung der Figuren wurden sie 1949 - mit Ausnahme von Unterbau und Kreuz - demontiert und ins St. Annen-Museum zur "Wiederherstellung" gebracht. Die unterschiedlichen Aufbewahrungsorte sowie kommunikative und administrative Schwierigkeiten führten in der Folge dazu, dass die Objekte "auseinanderrestauriert" wurden, wie Eike Oellermann später analysierte (82): Während Kreuz und Unterbau von allen Fassungen befreit und vollständig überfasst wurden, begann man an den Figuren mit der Freilegung der ursprünglichen Farbfassung bzw. deren Resten (33-39, 41-48). Als 1956 die Maßnahmen aufgrund fehlender finanzieller Mittel vorerst eingestellt wurden, wurde der Korpus wieder am Kreuz montiert, die übrigen Figuren verblieben im Museum. Diese Situation fanden Kunstwissenschaftler, Denkmalpfleger und Restauratoren vor, als sich die Kirchengemeinde in den 1960er Jahren zu einer Umgestaltung des Dom-Innenraumes entschied (49-75). Im Zuge der Planungen kam die Frage nach dem Umgang bzw. dem Verbleib der Figuren wieder auf, die 1969 in der Berufung eines Gutachtergremiums gipfelte, dem führend Johannes Taubert und Ernst Willemsen angehörten, zwei erfahrene Fachleute für die Konservierung mittelalterlicher Skulpturen. Ihre fachlichen Einschätzungen prägten die Maßnahmen maßgeblich.
Besonderen Wert erlangt die vorliegende Publikation nun durch die transkribierten Protokolle der Besprechungen dieses Gremiums, des Kolloquiums am 19. Juni 1974 unter reger Teilnahme geladener Gäste aus Museums- und Denkmalpflegekreisen sowie der Stadtgesellschaft und der Kirchengemeinde, und eines wissenschaftlichen Kolloquiums im September 1976. Die grundlegende Frage, um die sich die teils emotional geführten Diskussionen drehten, war dabei diejenige, wie man mit den vorhandenen Resten der ursprünglichen Fassung an den Figuren umgehen sollte, insbesondere mit Blick auf den Zustand des Kreuzes und des Unterbaus (beide mussten wieder von ihrer blätternden Farbschicht der 1950er Jahre befreit werden). Richter gelingt eine weitgehend objektive Darstellung dieser Frage und ihrer damals gefundenen Antworten, auch weil er die Positionen der kirchlichen Seite - die durchaus nicht einmütig war - ebenso nachvollzieht wie diejenige der Restaurierungswissenschaft (153-157).
Das Ergebnis dieser Diskussionen ist bis heute im Dom zu Lübeck zu sehen - ebenso wie die Ergebnisse der in den 1970er Jahren diskutierten und angewandten Ethik des Restaurierens auch außerhalb des Lübecker Doms in großer Zahl erhalten sind: Das strenge Nebeneinander von Inseln ursprünglicher Fassung auf holzsichtigem Grund und die damit verbundene Frage der Lesbarkeit eines Objektes. Es ist überaus bereichernd, die Diskussionen in allen Nuancen, die Abwägung der Argumente nun im Detail nachlesen zu können, die Perspektiven musealer und kirchlicher Denkmalpflege sowie der interessierten Öffentlichkeit und den konfessionellen Abwägungen des Bildwertes nebeneinander zu sehen und dies mit dem Ergebnis abzugleichen, wie es heute vor einem steht. Besonders die engagierten Ausführungen von Johannes Taubert und Eike Oellermann zur Bedeutung mittelalterlicher Figurenfassung (79-90) sind - zwar grundsätzlich in der Rückschau nicht neu, aber - in ihrer Eindringlichkeit hier wertvoll.
Die editorische und dokumentarische Leistung des Bandes ist hoch. Über die Behandlung des konkreten Objektes hinaus - die an dieser Publikation zukünftig nicht mehr vorbeikommen wird - ist es ein Lehrstück denkmalpflegerischer Diskussion und Praxis der 1970er Jahre, die aufgrund der nach wie vor gegenwärtigen Frage, wie mit den Ergebnissen heute umzugehen ist, von höchster Aktualität ist.
Sollte es überhaupt einen Grund zur Kritik geben, dann den, dass ein solcher Band, der vor allem dokumentarischen Charakter hat (und dessen Format eine angemessene Wiedergabe solch monumentaler Originale im Bild ohnehin nicht leisten kann), eine wunderbare Gelegenheit für eine Online-Publikation gewesen wäre. Vor allem mit Blick auf die Möglichkeiten der Bereitstellung der Schrift- und Bildquellen, wäre dies zukünftig für die Forschung ein hoher Gewinn gegenüber der herkömmlichen Form des gedruckten Buches, dessen editorische Grenzen hier deutlich werden.
Anmerkung:
[1] Jan Friedrich Richter: Lübeck und der Westen, in: Lübeck 1500 - Kunstmetropole im Ostseeraum. Ausstellungskatalog Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck, hg. von Jan Friedrich Richter, Petersberg 2015, 66-80; Uwe Albrecht (Hg.): Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein, Bd. 2: Hansestadt Lübeck. Die Werke im Stadtgebiet, bearb. von Uwe Albrecht / Ulrike Nürnberger / Jan Friedrich Richter / Jörg Rosenfeld / Christiane Saumweber, Kiel 2013, Kat. 17, 96-107.
Anna Pawlik