Rezension über:

Martin Stief: "Stellt die Bürger ruhig". Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld (= Analysen und Dokumente; Bd. 55), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, 450 S., 19 s/w-Abb., 7 Tbl., ISBN 978-3-525-30196-8, EUR 35,00
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Rezension von:
Tobias Huff
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Huff: Rezension von: Martin Stief: "Stellt die Bürger ruhig". Staatssicherheit und Umweltzerstörung im Chemierevier Halle-Bitterfeld, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, in: sehepunkte 20 (2020), Nr. 6 [15.06.2020], URL: https://www.sehepunkte.de
/2020/06/33490.html


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Martin Stief: "Stellt die Bürger ruhig"

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Die DDR-Geschichte hat im Jubiläumsjahr Konjunktur, was beweist, dass die Geschichte des zweiten deutschen Staates noch längst nicht in allen Facetten betrachtet und ausgewertet worden ist. Dies gilt auch für die Umweltgeschichte, die Martin Stief mit seiner Dissertation bereichert. Stief widmet sich seinem Thema mit breitem zeitlichen Zugriff und analysiert die Vorgänge im Chemiebezirk Halle in einer bisher nicht gekannten Detailtiefe, wobei er sich überwiegend auf das Aktenmaterial des Ministeriums für Staatssicherheit stützt. Im Unterschied zu anderen Wissenschaftlern hat Stief als wissenschaftlicher Mitarbeiter des BStU umfassenden Zugriff auf die Datenbanken und Findmittel, was es ihm ermöglicht, sehr dichte Schilderungen zu liefern und bereits bekannte Ereignisse um einen weiteren Standpunkt zu ergänzen.

Neben der lokalen Begrenzung auf den Bezirk Halle ist es der Blick der Staatssicherheit, den sich Stief zu eigen macht, um seinen Grundfragen nachzugehen. Denn während die materielle Umweltbelastung der DDR bekannt sei, gelte dies nicht für den noch weitgehend unerforschten gesellschaftlichen Umgang damit. Er möchte die breite Bevölkerungsmehrheit in den Blick nehmen und die Mechanismen beschreiben, wie mit den verschiedenen Formen der Umweltbelastung wie Staub, Abgase oder Wasserverschmutzung umgegangen wurde. Mangels belastbaren Umfragematerials kommen für die DDR daher nur die Eingabenanalyse und die Einschätzungen staatlicher Organe - allen voran die des MfS - in Betracht. Diese Einschätzungen übernimmt Stief etwas zu unkritisch. Wer in der Einleitung eine Diskussion zum Quellenwert der MfS-Akten - etwa zum doppelten Bias - erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen bescheinigt Stief den Mitarbeitern eine "realitätsnahe" Berichterstattung über Umweltprobleme und bezeichnet die "Hinweise zur Stimmungslage" in der Bevölkerung als wertvoll (23). Das waren diese sicherlich, aber eine reflektierte Auseinandersetzung im Sinne einer soliden Quellenkritik wäre hier angebracht gewesen. Erst auf Seite 342 folgt hierzu eine kleine Anmerkung.

Dennoch überzeugen die Ausführungen von Stief über weite Strecken. Dies betrifft besonders jene Passagen, in denen er sich mit den Fragen auseinandersetzt, warum sich das MfS mit Umweltfragen befasste und welche Aufgaben es in diesem Bereich übernahm bzw. zugewiesen bekam. Während es in Kapitel 2 um die bereits weitgehend bekannten - allerdings mit viel Detailwissen angereicherten - Überlegungen unter Ulbricht geht, wie eine sozialistische Umweltpolitik aussehen sollte, und dem folgenschweren Kurswechsel unter Honecker, dessen Fixierung auf die Hauptaufgabe immer weniger Mittel für Investitionen übrigließ, sind die Kapitel 3 bis 5 den 1980er Jahren gewidmet. Nachvollziehbar führt Stief aus, dass ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1980 zur Umweltsituation in der DDR als Ausgangspunkt für die operative Durchdringung des Umweltsektors zu sehen ist. Die negative Berichterstattung habe demnach nicht nur die Verabschiedung des berüchtigten Geheimhaltungsbeschlusses zu Umweltdaten 1982 beschleunigt, sondern auch zur Unterwanderung der DDR-Umweltverwaltung geführt. Auf diesem Weg wollte das MfS den Informationsfluss zu inneren und äußeren Feinden austrocknen. Gleichzeitig meldete die Staatssicherheit an die SED-Bezirksleitung Halle, dass es sich bei den westlichen Medienberichten nicht primär um Hetze handle, sondern diese die Tatsachen widergäben. Es gebe zu viele reale Umweltprobleme, die nicht nur dem kapitalistischen Erbe anzulasten seien. Die Schlussfolgerungen des MfS lauteten, die Umweltbelastungen schrittweise abzubauen, aber diese bis dahin zu verschleiern und öffentlichkeitswirksame Darstellungen zu vermeiden.

Es gehört zu den absoluten Stärken der Arbeit, wie aus den Akten heraus sehr plastisch erarbeitet wird, dass das exakte Gegenteil eintrat. Immer drängender wies das MfS in den 1980er Jahren auf die maroden Arbeitsbedingungen in den großen Chemiekombinaten des Bezirks Halles hin, die sowohl eine Gefahr für die Arbeiter in den Betrieben darstellte als auch für Anwohner und Natur. Die drei Ziele der DDR-Umweltpolitik (Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, Vermeidung von Gesundheitsschäden, Vermeidung von Schäden innerhalb der Volkswirtschaft) waren unter diesen Umständen immer schwieriger zu verwirklichen. Schon früh störte sich das MfS an der Ignoranz der Betriebsleiter gegenüber Umweltauflagen, sah aber die staatlichen Stellen in der Pflicht, die Einhaltung der Umweltgesetze zu überwachen. Auch die Praxis der Ausnahmegenehmigungen kritisierte es in den späten 1980er Jahren zunehmend. Es handle sich nicht mehr um Ausnahmen, sondern um eine Legalisierung eines offenkundigen Missstandes. In seinen Berichten stellte das Ministerium Störfalle, Havarien und Todesfälle bei Arbeitsunfällen immer seltener als Sabotageakt oder Fehlverhalten Einzelner dar, sondern als strukturelle Folge des Verschleißgrades der Anlagen. Die Staatssicherheit selbst beschloss 1988, Umweltstrafsachen konsequenter zu verfolgen, da die Glaubwürdigkeit des Staates in Umweltfragen nur durch eine sichtbare Verbesserung des Umweltzustandes zurückzugewinnen sei. Überraschend ist, dass das MfS zunehmend selbst die strikte Geheimhaltung der Umweltdaten kritisierte, da kirchliche und unabhängige Umweltgruppen diese Leerstelle für sich zu nutzen wüssten. Entsprechende Vorstöße zur Lockerung, etwa aus dem Umweltministerium heraus, blockte SED-Wirtschaftssekretär Günter Mittag jedoch bis in den Sommer 1989 hinein ab.

In einem zweiten Strang befasst sich Stief mit der Reaktion der Bevölkerung auf die Umweltbelastung im Bezirk Halle, deren Wahrnehmung und gegebenenfalls operativen Bearbeitung durch das MfS. Seine These ist, dass die breite Bevölkerungsmehrheit nicht als umweltpolitisch passiv einzuschätzen sei, sondern diktaturkonforme Methoden von widerständigem Verhalten entwickelt habe. Neben dem Verfassen von Eingaben gehörte dazu etwa der negative Wanderungssaldo des Bezirkes sowie die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten der Kombinate, trotz Zulagen und Vergünstigungen ausreichend Arbeitskräfte zu rekrutieren. Stief offenbart damit sein weites Verständnis von umweltpolitischem Verhalten. Nur so ist zu erklären, wie er zu dem Schluss kommt, es habe in der DDR kein mangelndes Umweltengagement gegeben. Es sei lediglich den wenigen unabhängigen Umweltaktivisten verborgen geblieben, unter anderem auch, weil die Konstruktion des Eingabewesens kollektive Erfahrungen verhindert habe. Dieses Verständnis von Umweltengagement ist zumindest diskussionsbedürftig, da es quer zu den bisherigen Ergebnissen der Umweltgeschichte in Ost und West steht und die gänzlich andere Qualität von Umweltengagement verkennt, die auf die Besetzung des öffentlichen Raumes abzielt. Hier wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit Theorien zur Entstehung von Umweltengagement wünschenswert gewesen, die auch den unterschiedlichen sozio-ökonomischen Entwicklungsstand der DDR im Vergleich zu westlichen Gesellschaften beachtet hätte. Zu sehr erklärt die Arbeit das wachsende Umweltbewusstsein in der DDR als Diktaturvariante des Problemdrucks.

Es können hier nicht alle Aspekte der umfassenden Studie, die einige Längen aufweist und insgesamt stringenter komponiert hätte werden können, angesprochen werden - etwa den zunehmenden Kompetenzgewinn und die Konfliktwilligkeit der staatlichen Umweltverwaltung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, die Stellung der Arbeitsmedizin in den Kombinaten oder die Veränderungen in der Entschädigungspraxis an Privatleute. Trotz der erwähnten Monita ist die Arbeit aber als Gewinn für die DDR-Umweltgeschichtsschreibung anzusehen.

Tobias Huff