Thomas Leinkauf: Die Philosophie des Humanismus und der Renaissance (= Geschichte der Philosophie; Bd. VI), München: C.H.Beck 2020, 666 S., ISBN 978-3-406-31270-0, EUR 44,00
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Der von Thomas Leinkauf verfasste Band ist als letzter der 14-bändigen Geschichte der Philosophie erschienen, die von dem im Jahre 2014 verstorbenen Innsbrucker Philosophiehistoriker Wolfgang Röd seit 1976 herausgegeben wurde. Aus dem Vorwort erfahren wir, dass "dieses 'kleine' Buch zur Renaissance", das hier anzuzeigende Werk also, schon früher geplant und deshalb eigentlich "der Anlass zu dem 'größeren'" gewesen sei, nämlich zu Leinkaufs Grundriss Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350-1600). Aber dieses "monumentale 'große' Buch" (9) in zwei schweren Bänden ist nun dennoch bereits vorher (2017) erschienen; auf unsere Besprechung sei hier verwiesen (vgl. sehepunkte 18 [2018], Nr. 1). Da beide Werke, das 'große' (Leinkauf 2017) wie nun das 'kleine', den gleichen Gegenstand haben und zudem so kurz nacheinander erschienen sind, ist es selbstverständlich, dass der Text des später vorgelegten Bandes auf dem Vorgänger als seiner Grundlage aufbaut und partienweise mit ihm auch identisch ist. Schuldbewusst von einem "Selbst-Plagiat" zu sprechen (10), ist daher unangebracht und lenkt nur von den diffizilen Problemen einer Kurzfassung des dreimal so umfangreichen Grundrisses ab, deren Lösung mancher Leser sich vielleicht auch anders gewünscht hätte. Neben den Druckfehlern und anderen Mängeln, die auf ein wenig sorgfältiges Lektorat schließen lassen (?), den typografischen Veränderungen wie dem kleineren Druck und dem Ersatz der Fußnoten durch einen Anmerkungsteil im (noch kleiner gedruckten) Anhang sowie all den "anderen Formulierungen, Vertiefungen und Korrekturen von Einsichten", zu denen die nötige "Kondensation" des älteren Textes geführt habe (9), könnte dazu der notwendig reduzierte Aufbau mit zahlreichen Auslassungen gehören, besonders das Fehlen des umfangreichen Kapitels über Naturphilosophie (in Leinkauf 2017, Bd. 2) und der Verzicht auf die drei großen personenbezogenen Teile über Francesco Petrarca, Nicolaus Cusanus und Marsilio Ficino. Nicht zu übersehen ist freilich, dass sowohl Ausführungen zu naturphilosophischen Aspekten des Renaissancehumanismus als auch zu zahlreichen Autoren des Zeitraums zwischen ca. 1350 und 1600 in vielen der beibehaltenen Kapitel und Unterabschnitte weiterhin vorkommen, und obwohl das Erscheinen des Renaissance-Bandes 3 des neuen Ueberweg offenbar in den Sternen steht, kann man über die Autoren auch anderswo Aufschluss erhalten. Leinkauf selbst verweist dafür u.a. auf Eckhard Keßlers Werk über das 15. Jahrhundert [1], muss diesen Hinweis dann jedoch selbst einschränken (10), da letzterer sich ja ganz aufs italienische Quattrocento beschränkt und deshalb auf zentrale Autoren der Epoche wie Jacopo Zabarella, Petrus Ramus, Francesco Patrizi, Jean Bodin und Tommaso Campanella nicht eingeht, die bei Leinkauf in verschiedenen Kontexten eine große Rolle spielen.
Der neue Band umfasst VII Kapitel. Die aus dem 'großen' Buch weggelassenen Teile abgerechnet, sind die Hauptteile daraus die gleichen geblieben, vermehrt nur um einen 20-seitigen Abschnitt über "Magie, Alchemie, Astrologie, Hermetismus", der der Einleitung zum jetzt fehlenden Kapitel über Naturphilosophie entnommen und hier etwas unvermittelt noch als VII. Kapitel angehängt wurde (393-415). Davor handelt Kapitel II von "Sprache und Poetik", der für die studia humanitatis grundlegenden Bedeutung von Sprache, Dialektik, Rhetorik und Dichtung sowie deren (auch umstrittene) Theorien. Nicht recht deutlich wird der Anschluss an die Artes-Disziplinen und deren seit Quintilian und dem Mittelalter auch variables Curriculum, und dass bei alledem Volkhard Wels' wegweisende Poetik-Studie [2] nicht berücksichtigt wird, gehört zu den Schwächen dieses Kapitels. Das Ethik-Kapitel III konzentriert sich auf die virtus, das bonum und den Willen des tätigen Individuums sowie das Verhältnis zwischen Freiheit (auch liberum arbitrium) und Notwendigkeit und im Gegenzug dann die "Auflösung der Freiheit im fatum". Kapitel IV unterrichtet über die Lehren der Humanisten von der Politik, von Coluccio Salutati bis Niccolò Machiavelli und Bodin. Kapitel V handelt von der "Historik", den Theorien der Geschichte und Historiografie bei Petrarca, Leonardo Bruni, Giovanni Pontano, Patrizi und wiederum Bodin, ehe der Band mit zwei extrem knappen Kapiteln schließt: VI über "Schönheit und Liebe" (Platon und der Neoplatonismus, Petrarca und Leone Ebreo, Baldassar Castiglione, Pietro Bembo und Marsilio Ficino) und dem genannten Kapitel über Hermetismus (VII): zum Neoplatonismus und den Arabern, Giovanni Pico, Agrippa von Nettesheim, Paracelsus und dem Paracelsismus.
Gerade für den selektiven Leser, der vor der oft allzu 'kondensierten' Darstellung des gut 300 Seiten umfassenden Haupttextes vielleicht zurückweicht, ist die "Allgemeine Einleitung" (Kapitel I) von größtem Nutzen. Der Aufbau in sieben gut abgegrenzten Abschnitten ist hier deutlicher exponiert und daher eher besser gelungen als im 'großen' Buch, obgleich der dort angefügte Epilog vermisst wird. Neben Abschnitt 4, dem Verhältnis von Substanz/Akzidens; Abschnitt 6, die humanistischen Konzepte einer "Anthropologie der Selbstexpressivität" (32) betreffend, mit dignitas als Schlüsselbegriff dieser neuen "Kontraktion der Welterfahrung auf den Einzelnen" (97), und Abschnitt 7: Überlegungen zur Technikgeschichte und ihrem "Innovationspotential" (99) sind dies vor allem: Abschnitt (1) über die Epochenkonzepte Humanismus und Renaissance, ihre in der Forschung unterschiedlich bestimmten Elemente und ihr Verhältnis zu 'Mittelalter' und 'Scholastik'. Von besonderer Bedeutung sind hier (1c) die vier "Irritationen" als mentalitätsgeschichtlich "fundamentale Brüche" (21) in diesen Zeiten, einschließlich der unterschiedlichen Reaktionen darauf - ähnlich der These Sigmund Freuds von drei fundamentalen 'Kränkungen' des menschlichen Narzissmus in der neueren Geschichte, nämlich Kopernikus/Galilei, Darwin und die Psychoanalyse. Leinkaufs 'Irritationen' sind (A) der Bruch zwischen Sein und Sprache/Begriff im Nominalismus, (B) die "Pesterfahrung" als "Bruch zwischen Gesundheit und (unheilbarer) Krankheit", (C) die Kopernikanische Wende und die Weltexploration als "Bruch zwischen Bekannt und Unbekannt im Zertrümmern des Geozentrismus" und (D) Protestantismus und Glaubensspaltung als "Bruch zwischen (innerlichem, individuellem) Glaubensakt und (äußerlicher, institutioneller) kirchlicher Ordnung" und Autorität (21); Abschnitt (2) zum Disziplinen-Kanon der studia humanitatis (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Poetik/Sprache, Historik, Ethik, Politik) als einer "Synthese aus Bildung, Disziplinen-Corpus und Tugendkonzept" (33); Abschnitt (3) zur Antike-Rezeption, die in der Philosophie weniger die Antike als vielmehr, neben Platon und Aristoteles, den Hellenismus, dazu die jüdische Kabbala und allenfalls arabische Einflüsse betreffe; schließlich besonders ergiebig Abschnitt (5) über "Methode, Wissen und Wissensformen", u.a. zu Melanchthon und Juan Luis Vives, Giacomo Aconcio, Girolamo Cardano und Ramus, vor allem aber zu den Schriften des Paduaners Zabarella.
Drei Leistungen, so möchten wir vermuten, könnten auch Leinkaufs 'kleinem' Buch vielleicht einen länger anhaltenden Gebrauchswert sichern und als eine Art 'Markenzeichen' dafür gelten:
Erstens seine entschieden kritische Einschätzung der Epochenidentität, zumal des Verhältnisses von Renaissance/Humanismus und der Philosophie und Kultur des Mittelalters und der 'Scholastik' als eines Geflechts von Wechselwirkungen anstatt eines chronologischen Aufstiegs, gar eines unaufhaltsamen 'Fortschritts' zur sogenannten 'Moderne', also in Distanz zur Burckhardt-Tradition und vielen anderen 'Kulturgeschichten'. [3].
Zweitens die besonders glückliche Integration der zunächst abseits der Philosophiegeschichte liegenden Umweltbedingungen: durch Exkurse zu Erfahrungen mit den Innovationen der Natur- sowie Technikgeschichte, insbesondere als Reaktionen auf die unter dem Stichwort der vier 'Irritationen' aufgerufenen 'Brüche'.
Drittens die am Renaissance-Beispiel aufgewiesene Unverzichtbarkeit der Dimension der Geschichte (und zumal der Begriffsgeschichte) für das Philosophieren: kein Aufschluss über Philosophie ohne Philosophiegeschichte.
Ist der Grundriss von 2017 viel eher eine großangelegte Gesamtdarstellung, so ist auch das 'kleine' Buch weit davon entfernt, "einführend und allgemeinverständlich" zu sein, wie es auf dem Buchcover des Beck-Verlags einladend heißt. Dennoch, ich möchte dabei bleiben: Mögen manche Leser den neuen Band überfordert beiseite legen, mögen bei anderen die Fehlertoleranz und Leidensfähigkeit durch vermisste Nachweise und nicht übersetzte lateinische und andere Zitate, überlange, verschachtelte Sätze und nachlässige Begriffsballungen auf harte Proben gestellt werden - eine detailgenauere und dabei konzeptionell gründlicher gedachte und eindringlicher verfasste Darstellung der Epoche wird man, gerade im Hinblick auf die eben genannten 'Markenzeichen', heute schwerlich anderswo finden.
Anmerkungen:
[1] Eckhard Keßler: Die Philosophie der Renaissance: das 15. Jahrhundert, München 2008.
[2] Vgl. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit (= Historia Hermeneutica. Series Studia; Bd. 8), Berlin / New York 2009, und die Rezension des Verfassers in: Das achtzehnte Jahrhundert 36 (2012), Nr. 2, 284-287.
[3] Bis hin zu der monumentalen Darstellung von Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München 2017, mit bereits zahlreichen Verweisen auf Leinkauf 2017 in den Anm. zu den Kap. 20-22. - Die bedeutende Monografie von Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik. Die Wissenschaftsrevolution des Mittelalters, München 2018, dürfte sich ohne größere Probleme mit Leinkaufs Scholastik-Auffassung vertragen. Rexroths Scholastik meint jedoch in erster Linie die Wissenschaften des Mittelalters vor der Entwicklung der westeuropäischen Universitäten im frühen 13. Jahrhundert.
Herbert Jaumann