Barry Murnane / Ritchie Robertson / Christoph Schmitt-Maaß u.a. (Hgg.): Essen, töten, heilen. Praktiken literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa; Bd. 24), Göttingen: Wallstein 2019, 294 S., ISBN 978-3-8353-3395-6, EUR 29,90
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Noch heute liest man in germanistischen 'Studienbüchern' von Lessing als dem 'Vater der Literaturkritik', der 'modernen' jedenfalls (vor dieser scheint es nichts Derartiges gegeben zu haben). Dieser Hervorhebung der durch Lessing, Mendelssohn und Nicolai geprägten Berliner Aufklärung als dem vermeintlichen Beginn der Literaturkritik wird "bestenfalls eine kurze 'Vorgeschichte' mit Gottsched, Bodmer und Breitinger oder gelegentlich sogar Christian Thomasius und seinen Monatsgesprächen" vorgeschaltet, wie Ritchie Robertson (Oxford) im Geleitwort zu dem neuen Band bedauernd feststellt (9). Seine Mitherausgeber versichern in ihrer Einleitung dann ausdrücklich, die folgenden Beiträge schlössen sich jenem Neuansatz der Forschung an, wonach "Teleologie und fragwürdige Vorläuferschaften als konzeptionelle Behinderungen einer historischen Kritikforschung" zu überwinden seien, "indem die Entstehung der modernen Literaturkritik nicht in moderne- und fortschrittszentrierter Perspektive der Aufklärung zugeschrieben werden soll, sondern indem vielmehr die Ambivalenzen fokussiert werden, welche die früheren historischen Formen der Kritik prägen" (18f.). [1] Aber das Abrücken von Teleologie und damit auch von anachronistischen Rückprojektionen in der Optik der Zeit des frühen Lessing und aus der Fortschrittsperspektive der Aufklärung hat weitere Relativierungen zur Folge: Weder kann die Rezension das nahezu einzige Textgenre bleiben, wie es (erst) aus der Sicht des späteren 18. Jahrhunderts aussieht, noch das periodische Journal das einzige Publikationsmedium. Vielmehr müssen dann sowohl die Praktiken des kritischen Urteilens, also "eine Pluralität literaturkritischer Schreibformen (Dialog, Apologie, Satire, Polemik, Vorrede, Totengespräch etc.)", (19) als auch andere Medien als die Zeitschrift gebührend berücksichtigt werden.
Solche löblichen Ziele vertritt ein Tagungsband, dessen Beiträge auf zwei Workshops zurückgehen, die 2016 im St. John's College in Oxford veranstaltet wurden, wo auch die beiden englischen Herausgeber, Ritchie Robertson und Barry Murnane, lehren. Mit seiner Programmatik zumindest stellt er sich auf die Seite neuerer Ansätze nicht allein der germanistischen Frühneuzeitforschung, die bestrebt sind - endlich, muss man sagen -, von der teleologischen Fixierung an die Aufklärung abzurücken, in deren Perspektive alle Diskurse als Ausdruck von deren Entfaltung verstanden und daran gemessen werden und alles Frühere bestenfalls in eine 'Vorgeschichte' zurücksinkt. Wegweisend lässt sich dagegen Lucien Fèbvre zitieren, der den resultierenden Anachronismus, also Rückprojektionen moderner Denkmuster auf vergangene Epochen, als die Todsünde, "die Sünde aller Sünden - die einzig unverzeihliche Sünde" des Historikers genannt hat [2], ein geflügeltes Wort, das auch einem jüngst erschienenen Essay voransteht, der eben dieser Frage: "War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?" gewidmet ist und sie eher mit Nein beantwortet. [3] Die Einleitung nennt dann vier "zentrale Leitfragen" für die Erörterung der Probleme einer so verstandenen deutschsprachigen Kritikgeschichte um und nach 1700. Gefragt werden soll (1) nach Medien, Gattungen und Wertungspraktiken, (2) nach Metaphern und Bildern für die Tätigkeit des "Kritikers und/oder Wissenschaftlers ('Kunstrichter', 'Literaturfresser', 'Literaturarzt', 'Buchsezierer', 'Buchliebhaber' etc.)", (3) nach "spielerischen Gestaltungsmomenten (z.B. Inszenierung von Dialog, Apologie, Satire und Polemik)" als Ausweis einer "Selbstreflexion der kritischen Tätigkeit" sowie (4) nach "Prinzipien oder Standards der Literaturkritik", die den Kritiken etwa zu entnehmen seien und die evtl. auf eine Differenzierung zwischen gelehrter Philologie und urteilender Kritik "bereits um 1700" hindeute (21). Zumal aus den unter (2) und (3) genannten Fragen ist auch der Obertitel des Bandes mit den etwas überdreht formulierten Tätigkeiten zu verstehen, deren historische Semantik mit "spielerisch" aber vielleicht doch nicht ausreichend charakterisiert ist - was auch gleich zu einem grundsätzlichen Einwand führt: Den prägnant formulierten Leitfragen und deren Kommentierung ist nämlich auch zu entnehmen, dass es mit der teleologiefreien Neuorientierung in diesem Band schon im programmatischen Ansatz allzu konsequent dann doch nicht bestellt ist. Wie der Anschluss vieler Beiträge an die 2005 erschienene, in ihrer Fragestellung viel überzeugendere Studie von Sylvia Heudecker zeigt, deren heimlicher Fluchtpunkt der frühe Lessing und damit die alte Vorstellung einer Konvergenz von Aufklärung und 'eigentlicher' Literaturkritik ist, [4] kommt man auch in diesem Band über diese Fixierung nicht wirklich hinaus - programmwidrig, aber angesichts des nun einmal gewählten Themas, der "Praktiken nach 1700", auch kaum anders zu erwarten. Man könnte auch sagen: Der zeitliche Schwerpunkt stellt sicher, dass man allzu weit von der (besonders in Deutschland?) so eingefleischten Aufklärungsteleologie dann doch nicht abzurücken braucht; denn andernfalls hätte man ja einen anderen Schwerpunkt wählen können.
Dennoch bieten die zwölf Beiträge dann doch, wie häufig in derlei Sammelbänden, weniger wegen als vielmehr trotz dieser Inkonsistenzen eine Fülle von auch weiterführenden Einsichten, weshalb es auch kaum je zu empfehlen ist, einen solchen Band solcher konzeptioneller Probleme wegen beiseite zu legen. Die einzelnen Themen reichen von Michael Multhammers (Siegen) Abhandlung über Literaturkritik im gelehrten Genre der Historia litteraria, einem der dem Programm des Bandes am nächsten stehenden Beiträge, Dirk Niefanger (Erlangen) über Johann Burckhardt Mencke und vor allem Friederike Felicitas Günther (Würzburg) über Weichmanns Brockes-Vorrede mit ausführlichen Darlegungen genereller Art, u.a. zur "Literaturkritik in den Kommunikationsstrukturen der Gelehrtenrepublik", zu Klaus Birnstiels (Greifswald) Untersuchung über "Kritik und Geschlecht" und zu Kevin Hilliard (Oxford), der die "theologische Fundierung des Leipzig-Zürcher Literaturstreits", also Gottsched vs. Bodmer und Breitinger, wieder einmal in Augenschein nimmt. Nach den Beiträgen von Schmitt-Maaß (München), Murnane (Oxford), Schürmann (Göttingen), Godel (Halle), Stockhorst (Potsdam) und Berg (Halle) gelangt Christoph Meid (Freiburg) an letzter Stelle zur "Rezensionspraxis um 1770", d.h. zum jungen Goethe der Frankfurter gelehrten Anzeigen, von denen nur ein Jahrgang, 1772, erschienen ist, und zu dem wenig bekannten Philologen und Kritiker David Christoph Seybold (1747-1804), u.a. Verfasser des Reizenstein, der ersten deutschen Amerika-Utopie (die der Verfasser offenbar nicht kennt) [5], der hier freilich nur als Homer-Philologe und Gegenstand eines vernichtenden Verrisses durch Goethe in Erscheinung tritt.
Anmerkungen:
[1] So in mehrfacher Anlehnung an die Studie des Verfassers: Herbert Jaumann: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius, Leiden 1995.
[2] Zitiert in Jaumann: Critica (1995), 19.
[3] Vgl. Andreas Pečar / Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt a.M. / New York 2015.
[4] Vgl. Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2005 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 179), und die Rezension des Verf. in: Arbitrium 25, Heft 3 (2007), 306-308. - Vgl. auch den wichtigen Band: Flemming Schock (Hg.): Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit, Berlin / Boston 2012, und die Rezension des Verfassers in: Daphnis 42, Heft 2 (2013), 627-630.
[5] Vgl. [David Christoph Seybold:] Reizenstein. Die Geschichte eines deutschen Officiers, 2 Bde. Leipzig 1778-79. Neudruck, hg., komment. u. mit einem Nachwort von Wynfrid Kriegleder, Wien 2003; dazu Wynfrid Kriegleder: "David Christoph Seybolds Reizenstein: der erste deutschsprachige Roman über die amerikanische Revolution". In: Monatshefte 88/1 (1996), 310-327.
Herbert Jaumann