Daniel Bellingradt: Vernetzte Papiermärkte. Einblicke in den Amsterdamer Handel mit Papier im 18. Jahrhundert, Köln: Halem 2020, 252 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-86962-496-9, EUR 32,00
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Lange Zeit lag der Fokus der Papiergeschichtsforschung, die vor allem außeruniversitär betrieben wird, auf den Papiermühlen und damit auf der Papierherstellung. Mit dem "material turn" in den Geisteswissenschaften rückten auch die Materialität von Texten und damit Fragen zum Gebrauch von Papier sowie zur Verbreitung von Papier als unabdingbare Voraussetzung für den rasanten Anstieg an Schriftlichkeit in den vergangenen Jahrhunderten in den Blickpunkt. Der Schritt zwischen der Herstellung und der Verwendung, also der Handel mit Papier, blieb dabei jedoch häufig ein blinder Fleck.
Das Verdienst der zu besprechenden Arbeit ist es, dieses Desiderat klar zu benennen. Am Beispiel des Amsterdamer Papierhandels des 18. Jahrhunderts bietet der Autor in acht Kapiteln, einschließlich einer Einleitung und eines Schlussworts, Ansatzpunkte für eine material- und akteurszentrierte Geschichte des Papierhandels.
Bellingradt führt dazu - wie er in seiner Einleitung darlegt - Ansätze aus der Papier-, der Wirtschafts- sowie der Buchgeschichte in der historischen Kommunikationsforschung, in der er sich selbst verortet, zusammen. Seine Einblicke in den Amsterdamer Papierhandel qualifiziert er als ein "Experiment" (32), das zukünftige Forschungen anregen soll.
Mit einem Kapitel über die Vielfalt der gehandelten papierenen Waren eröffnet Bellingradt dann seine Einblicke in den Amsterdamer Papierhandel (40-66). Die breite Produktpalette an neuen Papierwaren für die verschiedensten Zwecke mit ihren regional oft sehr spezifischen Bezeichnungen verlange nach einem groß angelegten Vergleich von Formaten, Qualitäten, Handelseinheiten und Preisen, der in der Papierforschung jedoch noch ausstehe. Neben den Neuwaren thematisiert Bellingradt auch den Handel mit gebrauchten Papieren, die entweder als Verpackungspapiere verkauft wurden oder als "Recyclingrohstoff" ihren Weg zurück in die Papiermühle fanden.
Im dritten Kapitel gibt der Autor zunächst einen knappen Überblick über die Geschichte und Technik der Papierherstellung, bevor er sich den unterschiedlichen Verwendungszwecken von Papier zuwendet (67-96). Die naturgemäß stark verkürzte Darstellung der Papierproduktion weist einige Ungenauigkeiten auf. So sind Lumpen, also alte Textilien, nicht ein wichtiger Rohstoff der europäischen Papierherstellung, sondern nach aktuellem Forschungsstand der einzige. In Hinblick auf den Papiergebrauch kritisiert Bellingradt zutreffend, dass vor allem in Untersuchungen zum Druckgewerbe sowie zur handschriftlichen Verwaltungspraxis frühneuzeitlicher Staaten Papier zwar immer wieder eine zentrale Rolle spiele, jedoch häufig nur in metaphorischer Bildlichkeit, wenn von "Papierstaaten" oder "Papierfluten" die Rede sei. Papier werde als gegeben vorausgesetzt und der Papierhandel als notwendige Verfügbarmachung dieses unentbehrlichen Beschreibstoffs weitgehend ausgeblendet.
Das spezifische Papierangebot im Buchhandel beleuchtet der Autor im vierten Kapitel (97-110). Bellingradt hebt hervor, dass die meisten Buchhändler auch mit Papier handelten und neben Büchern auch kleinere Drucksachen wie Formulare, vorgefertigte Rechnungsbücher und Schulhefte, einzelne Papierbögen sowie diverse Schreibutensilien verkauften. Dass dem Buchhandel, der den Handel mit neuem Papier letztlich doch nur als Nebengeschäft betrieb, ein eigenes Kapitel gewidmet wurde, ist sicherlich den anderweitigen Forschungen des Autors auf diesem Gebiet geschuldet. [1]
Im fünften Kapitel greift Bellingradt mit den Begriffen "Materialität" und "Sozialität" Theorien und Methoden des in den Geisteswissenschaften immer noch aktuellen "material turn" beziehungsweise des "practice turn" auf (111-135). Überzeugend ist hier der Ansatz, Märkte - und somit auch die Märkte für Papier - als Produkt menschlicher Interaktion zu begreifen und sich dem Amsterdamer Papierhandel durch Netzwerkanalysen, Kollektivbiographien und Interaktionsmuster zu nähern. Bellingradts Konzept von "Materialität" bleibt hinter den theoretisch stark aufgeladenen Fachwörtern hingegen unscharf. Eine tatsächliche Materialanalyse der Papiere zieht der Autor offensichtlich nicht in Betracht, vielmehr verwendet er den Begriff "Materialität", um den Gegenstand "Papier" als konkretes - und nicht nur metaphorisches - Untersuchungsobjekt zu beschreiben. Materialitätsforschung beschränkt sich für Bellingradt daher darauf, die Warenflüsse ("material flows") von Papier nachzuzeichnen und den Einsatz unterschiedlicher Papierqualitäten und -formate nach Inhalt, Zweck und Zielgruppe eines Textes zu beleuchten.
Amsterdam als herausragendem Wirtschaftsstandort, der im 18. Jahrhundert eine Blüte erlebte, widmet sich das sechste Kapitel (136-152). Der Autor hebt hervor, dass die Hafen- und Handelsstadt mit ihren internationalen Verbindungen nicht nur metaphorisch durch ihre Autoren, Verleger und Buchhändler, sondern auch wirtschaftlich "eine Stadt des Papiers" (152) war. Diese Perspektive auf das Papier sei auch in diesem Kontext bislang vernachlässigt worden, obwohl in Amsterdam große Mengen Papier gehandelt und umgeschlagen wurden.
Im siebenten Kapitel (153-170) betrachtet Bellingradt in einer Fallstudie die Handelsaktivitäten des Amsterdamer Papierhändlers Zacharias Segelke, der mit einer Vielzahl an neuen und gebrauchten Papieren handelte und damit als Mittelsmann zwischen Papiermühlen und Verbraucher stand. Dieses Fallbeispiel, das der Autor bereits in einem Aufsatz publizierte, belegt die Ausführungen der vorherigen Kapitel zwar anschaulich, enthält jedoch viele Wiederholungen.
Wie Bellingradt in seinem Schlusswort noch einmal betont, handelt es sich bei diesem Werk letztlich um ein Forschungsprogramm für zukünftige Untersuchungen des Papierhandels. Wer eine quellenbasierte Untersuchung des Amsterdamer Papierhandels im 18. Jahrhundert erwartet, der muss sich vermutlich noch bis zur Veröffentlichung der auch bei Bellingradt erwähnten Dissertationsschrift von Sandra Zawrel (Erfurt) gedulden.
Besonders bei den Abschnitten zur Papierherstellung weist das Buch einige Ungenauigkeiten auf, die in Hinblick auf die reiche Literatur zu diesem in der Papiergeschichte bislang so dominanten Thema zu vermeiden gewesen wären. Insgesamt hätte dieses wichtige Plädoyer für eine Erforschung des Papierhandels konziser ausfallen können, wie die häufigen inhaltlichen und auch sprachlichen Wiederholungen nahelegen. Auf diese Weise hätte es seinem Charakter als Programmschrift auch in der Form Rechnung getragen.
Das Buch liefert mit seiner profunden und umfangreichen Bibliographie (181-245) sowie 30 Farbabbildungen zweifelsohne gute Anknüpfungspunkte für zukünftige Untersuchungen. Bellingradt gebührt das Verdienst, einen bislang vernachlässigten Forschungsgegenstand in den Fokus zu rücken. Dafür verknüpft er die Ansätze und Methoden der Disziplinen Papier-, Wirtschafts- und Buchgeschichte, die sich dieses Themas bislang noch nicht angenommen haben, und führt sie in einer an ihren dinglichen Voraussetzungen interessierten historischen Kommunikationsforschung zusammen. Damit, so bleibt zu hoffen, legt er den Grundstein für eine universitäre Erforschung des Papierhandels.
Anmerkung:
[1] Vgl. das seit 2012 von der DFG geförderte Projekt "Publizistik als Handelsware. Transregionale Märkte, Räume und Netzwerke im frühzeitlichen Europa (1750-1800)".
Sandra Schultz