Rezension über:

Daniel Bellingradt: Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte; Bd. 26), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, 548 S., ISBN 978-3-515-09810-6, EUR 72,00
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Rezension von:
Gabriele Haug-Moritz
Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Gabriele Haug-Moritz: Rezension von: Daniel Bellingradt: Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700. Dynamiken, Akteure und Strukturen im urbanen Raum des Alten Reiches, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 9 [15.09.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/09/20861.html


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Daniel Bellingradt: Flugpublizistik und Öffentlichkeit um 1700

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Bellingradt wendet sich in seiner publikations- und publizistikwissenschaftlichen Dissertation einer, wie von ihm zu Recht herausgestrichen, vernachlässigten Phase der frühneuzeitlichen Mediengeschichte des Reiches zu. Sein Ziel ist ambitioniert, möchte er mit seiner Studie doch nicht weniger als "Aufschlüsse über Perzeption, Rezeption, Dirigierung, Berücksichtigung, Adressierung, Relevanz, Erschaffung und vor allem medialer Logik von Öffentlichkeit im urbanen Raum des Alten Reiches um 1700" (36) liefern. Um dieses Ziel zu erreichen, verfährt er exemplarisch und wählt vier Fallbeispiele: die Reichsstädte Köln und Hamburg sowie die kursächsischen Städte Dresden und Leipzig. Was ihn gerade zur Auswahl dieser vier (Groß-)Städte bewogen hat, erfährt der Leser, jenseits eines Hinweises auf die konfessionelle Divergenz der Beispielstädte, nicht (36f.). Auf dieser Grundlage steht das anlässlich innerstädtischer Konflikte entstandene, nicht-periodische gedruckte Tagesschrifttum, das Bellingradt unter dem Begriff der Flugpublizistik bzw. der Flugdrucke fasst, im Zentrum der Untersuchung. Mit dieser Begrifflichkeit möchte er der "babylonische[n] Sprachverwirrung" (13) entkommen, die in der Forschung hinsichtlich der Bezeichnung dieses Gelegenheitsschrifttums herrscht. Ob er sich mit dieser Entscheidung, Einblattdrucke und mehrblättrige Drucke unter einem Oberbegriff zu subsumieren, nicht einer analytischen Dimension beraubt, sei als Frage formuliert. Denn zumindest für die Zeit des 16. Jahrhunderts kommt Flugblättern und Flugschriften im Medienensemble der Zeit eine divergierende kommunikative Funktion zu, die sich allein schon aus dem unterschiedlichen Text-Bild-Verhältnis dieser Medienformen ergibt. Zu analysieren, ob diese Unterschiede auch noch in der Zeit um 1700 zu beobachten sind oder ob sich, in der Diktion des Verfassers, die "mediale Logik" verändert hat (und wenn ja wie), wäre zweifellos ein lohnendes, mit der vorgeschlagenen Begrifflichkeit allerdings nicht in den Blick geratendes Unterfangen.

In drei Kapiteln, die entlang der Chronologie der beschriebenen, inhaltlich sehr heterogenen innerstädtischen Konflikte in den einzelnen Städten angeordnet sind, nähert sich Bellingradt seinem Untersuchungsgegenstand. Das erste Kapitel wendet sich Köln und hier einerseits den sogenannten Peterswirren (1667-1672) zu, in denen sich der Streit um die Besetzung einer Pfarrstelle zu einem Konflikt zwischen Stadt und Hochstift ausweitete, andererseits, deutlich kürzer, dem innerstädtischen Konflikt um den vom Kölner Magistrat der Rebellion geziehenen Kaufmann Nikolaus Gülich (1680-1686). Für Hamburg untersucht der Verfasser mit den Jahren 1702 bis 1708 die "letzte Etappe der sogenannten Unruhen vor dem regulativen Eingriff einer kaiserlichen Kommission" (142) detaillierter, in denen sich die seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gehäuft auftretenden innerstädtischen Konflikte und kirchlich-religiöse Streitigkeiten in komplexer Weise überlagerten. Den kommunikativen Dynamiken, die die Hinrichtung des Räubers Johann David Wagner im Jahr 1722 in Leipzig hervorrief, und der Publizität des Thorner Tumultes in Dresden (1724-1727), eines der zahlreichen lokalen konfessionellen Konflikte des 18. Jahrhunderts, gilt die Aufmerksamkeit im letzten, dem Kurfürstentum Sachsen gewidmeten Kapitel der Arbeit. Eine Zusammenfassung und ein umfänglicher Anhang beschließen die durch ein Orts- und Personenregister erschlossene Untersuchung.

Dass die Leserin sich am Ende der Lektüre zwar mit einer Fülle interessanter Einzelbeobachtungen konfrontiert sieht, dass aber kein, wie intendiert (36), Gesamtbild der medialen Formung von Wirklichkeit in ausgewählten Großstädten des Reiches um 1700 entsteht, ist dem Umstand geschuldet, dass Bellingradts Darstellung den Vergleich unmöglich macht. Ganz Unterschiedliches nämlich rückt er in den einzelnen Kapiteln ins Zentrum seiner Abhandlung. Erfährt man etwa im Köln-Kapitel durchaus Interessantes über die am Kommunikationsprozess beteiligten Offizinen, so wird im Kursachsen-Kapitel - ebenfalls aus guten, der unzureichenden Forschungslage geschuldeten Gründen - Fragen der Zensurpraxis ausführlicher nachgegangen. Wie es aber um die Offizinen in Kursachsen und die Zensur in Hamburg und Köln bestellt ist, darüber erfährt der Leser nichts. Undifferenziert und die methodischen Anregungen nicht aufgreifend, wie sie jüngst gerade in Hinblick auf die Kölner Medienlandschaft in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unterbreitet wurden [1], sind auch die Ausführungen zum Adressatenkreis des Gelegenheitsschrifttums. Eine intensivere inhaltliche Auseinandersetzung mit der im Literaturverzeichnis zwar genannten, aber offenkundig nur oberflächlich rezipierten Forschungsliteratur hätte Bellingradt auch davor bewahrt, Beobachtungen zur wechselseitigen Bedingtheit von Oralität und printmedialer Literalität (303-306) als ein Charakteristikum der Zeit um 1700 vorzustellen (369f., 374) [2] und daraus weitreichende medien- und allgemeingeschichtliche Schlussfolgerungen abzuleiten (32, 376). Dass in den Städten sowohl des Reiches als auch Italiens Flugblätter und Flugschriften schon in der Zeit um 1600 wirklichkeitsformende "elements of an inclusive cultural exchange" [3] zwischen Herrschenden und Beherrschten waren, hat die neuere Forschung präzise herausgearbeitet. Und insoweit läuft auch die Forderung des Verfassers, nach seiner, von ihm als "Pionierarbeit" qualifizierten Studie weitere Untersuchungen vorzulegen, die "den mündlichen, handschriftlichen und gedruckten Medienverbund als komplementäres Phänomen" (378) würdigen, nicht vollständig, aber doch weitgehend ins Leere. Die Forschung hat sich bereits auf diesen vielversprechenden Weg begeben, zu dem auch diese Untersuchung, allerdings nur auf der Ebene punktueller Einzelbeobachtungen, das ihre beiträgt.


Anmerkungen:

[1] Eva-Maria Schnurr: Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Krieges (1582 bis 1590) (= Rheinisches Archiv, 154), Köln / Weimar / Wien 2009.

[2] Vgl. jetzt etwa, den Zugang zur älteren Forschung erlaubend: Albrecht Claasen / Michael Fischer / Nils Grosch (Hgg.): Kultur- und kommunikationshistorischer Wandel des Liedes im 16. Jahrhundert, Münster u.a. 2012.

[3] Filippo de Vivo: Information and communication in Venice. Rethinking early modern politics, Oxford 2008, 243.

Gabriele Haug-Moritz