Anette Baumann / Sabine Schmolinsky / Evelien Timpener (Hgg.): Raum und Recht. Visualisierung von Rechtsansprüchen in der Vormoderne (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 29), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, VIII + 183 S., 41 Farb-, 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-068329-5, EUR 59,95
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Das schmale Bändchen mit lediglich gut 140 Textseiten widmet sich einem interessanten Thema. Im Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Gerichtsverfahren, aber auch in der alltäglichen Verwaltungspraxis entstanden zahlreiche kartographische Darstellungen bestimmter, zumeist kleinräumiger Landschaften. Diese Karten und Pläne zählen genauso wie Schriftsätze und Urkunden zur reichen historischen Überlieferung an Prozessschriftgut. Die Vertreter zahlreicher historischer Wissenschaften besitzen aber oft nur geringe Erfahrung, um die spezifischen methodischen Schwierigkeiten bei der Interpretation dieser bildlichen Dokumente zu meistern. Es ist deshalb hilfreich, wenn ein Archivar aus quellenkundlicher Perspektive veranschaulicht, wie verschiedene europäische Archive und Verbünde versuchen, die reichen Schätze an frühneuzeitlichen Landkarten zu digitalisieren und auf diese Weise den interessierten Nutzern leichter zugänglich zur Verfügung zu stellen (Joachim Kemper, 155-163). Hier deuten sich Möglichkeiten an, die den Zugriff auf diese Quellenmasse in den nächsten Jahren erheblich verbessern werden. Zur allgemeinen Annäherung ist auch ein kunsthistorischer Überblick nützlich (Claudia Hattendorff, 139-153). Die kartographischen Abbildungen zeigen nämlich Gemeinsamkeiten mit anderen zeitgenössischen Landschaftsdarstellungen, etwa mit Schlachtengemälden. Wenn man erfährt, dass seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Konzept der Augenzeugenschaft eine neue Rolle spielte, um den Zeitgenossen den Realitätsgehalt der Karten und Gemälde werbewirksam vor Augen zu führen, vermag man sich die Entstehungsbedingungen solcher Darstellungen etwas besser vorzustellen.
Solche Annäherungen kreisen das Thema des Bandes freilich nur ein und befinden sich kaum zufällig ganz am Ende des Büchleins. Im Kern geht es den drei Herausgeberinnen darum, die Überlieferung zumeist rechtlich relevanter Textquellen mit den Bildquellen zu verknüpfen und auf diese Weise neue und genauere Einblicke in frühneuzeitliche Rechtsvorstellungen zu erhalten. Bei mittelalterlichen Bilderhandschriften des Sachsenspiegels und anderen Quellen bewährt sich dieses Hin- und Herwandern des Blickes schon seit Jahrzehnten. Mit dem Fokus auf frühneuzeitliche Landkarten betreten die Herausgeberinnen wie die Autoren vielfach Neuland. Es ist deshalb kaum erstaunlich, dass die jeweiligen Zugänge allgemeine Überlegungen und Detailstudien zu Einzelfällen in unterschiedlicher Gewichtung miteinander kombinieren. Leider fehlt ein Hinweis auf neuere Überlegungen am Max Planck-Institut für Rechtsgeschichte. Dort gibt es ebenfalls einen Forschungsschwerpunkt "Rechtsräume", der mit einer einführenden Kurzmonographie von Caspar Ehlers und einer Forschungsbibliographie mehrere Anknüpfungspunkte zum Dialog bietet. Wenn jemand ein Buch "Raum und Recht" nennt, wäre der Seitenblick auf diese anderen Rechtsräume leicht gewesen. Die Herausgeberinnen sprechen in ihrer Einleitung sogar von Linien und Flächen (1) und greifen damit, vermutlich ohne es zu wissen, fast wörtlich Formulierungen auf, die Thomas Duve vor einigen Jahren in die Diskussion einbrachte. Im Kern geht es im vorliegenden Band damit gar nicht um Raum und Recht in allgemeinerer Weise, sondern ganz handfest um die kartographischen Darstellungen.
Evelien Timpener wählt als Beispiel den Streit um frühneuzeitliche Wassergerechtigkeiten (15-28). Zumeist aus Anlass konkreter Streitigkeiten über die Wasserregulierung entstanden sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden Regionalkarten, die mit unterschiedlichen Einfärbungen die jeweiligen Rechtsansprüche sichtbar hervorhoben. Lagen diese Karten erst einmal vor, ließen sie sich auch bei außergerichtlichen Verhandlungen verwenden. Je nach beigegebenen Erläuterungen oder nach der Darstellungsart geben solche Quellen immer auch Auskunft über einzelne Argumente der Beteiligten. Einige längere Textblöcke auf den Karten ermöglichen es sogar, die Einzelheiten von Güteverhandlungen nachzuvollziehen. Auf diese Weise macht die Autorin die Funktion der Landkarten deutlich. Für die Analyse der spezifischen Rechtsprobleme fehlt ihr dagegen das Interesse, so dass die rechtshistorische Vertiefung leider nur in Ansätzen erfolgt.
Elisabeth Kisker nimmt westfälische Grenzkonflikte zum Ausgangspunkt ihres Aufsatzes (29-48). Überzeugend zeigt sie, wie frühneuzeitliche Anwälte und Parteien Landkarten und schriftsatzkonforme Argumentationen aufeinander bezogen. Die Karten waren auf diese Weise nie Selbstzweck und ohne Erläuterungen kaum verständlich. Wenn Grenzkonflikte beigelegt werden konnten, stellten die Beteiligten teilweise mehrere gleichartige kartographische Darstellungen her, um auf diese Weise zukünftig Rechtssicherheit zu gewährleisten. Weiterführend ist eine verwaltungsgeschichtliche Überlegung: Mit dem zunehmenden Ausbau der Amtsstrukturen wurden die Grenzen, z.B. der einzelnen Ämter, nach und nach immer wichtiger. Möglicherweise gab es sogar Kanzleibedienstete, die deswegen mit der Anfertigung kartographischer Zeichnungen betraut wurden.
Alexander Jendorff betont in seinem Beitrag, dass Landkarten nicht nur anlassbezogen bei gerichtlichen Streitigkeiten als Augenscheinsobjekte zu Beweiszwecken entstanden, sondern darüber hinaus auch von Amts wegen innerhalb der Verwaltung angefertigt wurden (49-82). Eine genauere Vertiefung ermöglicht die Betrachtung von Grenzaufnahmeterminen im kurmainzischen Eichsfeld. Von dort aus weitet Jendorff seinen Horizont aus und stellt allgemein Raum-Zeit-Diskussionen seit der Antike und die spezifischen medialen Herausforderungen der Zweidimensionalität dar. Damit löst er sich ein wenig von der Visualisierung von Herrschaftsansprüchen, bettet seine Studie aber zugleich in größere Zusammenhänge ein. Dem Ergebnis, Karten seien als Mittel der Verhandlungstechnik entstanden und eingesetzt worden, stimmt man ebenso gern zu wie der These, bei den Darstellungen handele es sich nicht um ein Abbild der Realität, sondern um eine Interpretation der Realität.
Anette Baumann, die mit einem mehrjährigen Forschungsvorhaben zu kartographischen Darstellungen am Reichskammergericht den Sammelband maßgeblich angestoßen hat, trägt zahlreiche bisher unbekannte Einzelheiten zur Entstehung der Karten und ihrer juristischen Relevanz zusammen, gestützt sowohl auf Prozessakten wie auf die zeitgenössische gelehrte Literatur (83-107). Vielfach fanden die Augenscheinstermine im Rahmen von Beweiskommissionen statt. Regelmäßig gab es zusätzliche Erläuterungstexte, die für das genaue Verständnis der Karten sowohl für die frühneuzeitlichen Zeitgenossen wie für die heutigen Historiker unerlässlich sind. Hinweise auf die zeitgenössische Landvermessung zeigen die handwerklich-technische Seite der Kartenanfertigung. Ein zeitgenössischer Advokat namens Rutger Ruland meinte ganz bildhaft, der Kartograph führe den Richter oder einen anderen Betrachter genauso durch die Landkarte, wie ein Steuermann ein Schiff lenke. Das galt auch in der Gegenrichtung: Ein Schiff ohne Steuermann konnte nicht fahren, eine Landkarte ohne erläuternde Hinweise blieb unverständlich.
Einen strafrechtsgeschichtlichen Zugang zum Thema wählt Karl Härter (109-137). Er weitet die Quellengrundlage aus und bezieht auch Abbildungen von Richtstätten, alten Gerichtsorten oder Schandsäulen in seine Untersuchung ein. Rechtlich relevant wurden solche Darstellungen dann, wenn sie in Landkarten auftauchten und einem Hoheitsträger zuzuordnen waren. Der Galgen auf der Landesgrenze symbolisierte anschaulich die Reichweite der jeweiligen Landesherrschaft. Wer die Strafgerichtsbarkeit in seinen Händen hielt, ließ sich auf diese Weise für jedermann erkennen.
Insgesamt zeigen die Beiträge, wie lohnend es sein kann, kartographische Darstellungen verstärkt in die Quellenerschließung zur frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte einzubeziehen. Der Band bietet nur wenige Schlaglichter und lädt doch zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema ein. Ein Nebeneffekt liegt auf der Hand und ist nicht gering zu veranschlagen. Einige Karten sind teilweise sehr ästhetisch und detailfreudig, praktisch ein Vorläufer moderner Wimmelbilder. Insgesamt 47 über den Sammelband verteilte, oftmals farbige Abbildungen machen den Reiz der Quellen überdeutlich. Rechtshistorische Arbeiten zum frühneuzeitlichen Augenschein können zukünftig anhand der kartographischen Darstellungen die dogmengeschichtliche Analyse mit praktischen Beispielen verknüpfen und auf diese Weise das zeitgenössische Beweisrecht noch genauer erfassen.
Peter Oestmann