Frank Wolff: Die Mauergesellschaft. Kalter Krieg, Menschenrechte und die deutsch-deutsche Migration 1961-1989, Berlin: Suhrkamp 2019, 1026 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-518-29897-8, EUR 36,00
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Einen über 1000 Seiten starken Klotz von einem Buch hat der Osnabrücker Historiker und Migrationsforscher Frank Wolff mit seiner Habilitationsschrift vorgelegt. Es trägt den schlichten Titel "Die Mauergesellschaft". Dahinter verbirgt sich - ohne dass Wolff diesen Anspruch explizit erheben würde - der Versuch einer "histoire totale" der innerdeutschen Migration (und ihrer Unterbindung) zwischen Mauerbau und Mauerfall. Kaum einen Aspekt dieses Themenkomplexes lässt Wolff aus: Er schreibt über Flucht- bzw. Ausreisemotive und -wege, über bürokratische Maßnahmen zur Eindämmung der Migration, über den propagandistischen Umgang mit der Mauer, über die Integration der Flüchtlinge und Ausgereisten und ihre Akzeptanz durch die bundesdeutsche Gesellschaft, über das Engagement von Menschenrechtsorganisationen für Ausreisewillige, über die Konflikte innerhalb der DDR-Opposition zum Thema Ausreise und vieles andere mehr. Wolff will mit seiner Arbeit die "Dynamiken der Teilung [...] und der Verflechtung [...] gemeinsam in einer integrierten Zeitgeschichte Deutschlands" betrachten (13). Damit verspricht er für das Feld der innerdeutschen Migration das vielfach beklagte Desiderat einzulösen, die beiden deutschen Staaten in einer Gesamtgeschichte gleichberechtigt zu behandeln. [1]
Ausgangspunkt von Wolffs Ansatz ist der ambivalente Befund, dass die Mauer "zugleich auseinander und zusammen[zwang]" und beide deutsche Staaten und Bevölkerungen "im Kern [...] durch die innerdeutsche Grenze ge- und verbunden" blieben. (13) Die deutsche Gesellschaft habe sich entsprechend ihrer Praktiken von Verflechtung und Teilung verändert, sei aber durch die Grenze konstituiert geblieben, was sie, so die zentrale These der Arbeit, "im Verlauf des Kalten Krieges zur Mauergesellschaft" gemacht habe (14). Mit "Mauer" meint Wolff in diesem Zusammenhang nicht nur das der Grenzabriegelung dienende Bauwerk in Berlin, er verwendet den Begriff vielmehr als "Chiffre für den gewalthaften Teilungszustand [...], der aus Berliner Mauer, innerdeutscher Grenze, internationalen Verflechtungen, Regulierungen und zahllosen individuellen, kollektiven und politischen Beziehungen in einer geteilten Sprach- und Gedankenwelt bestand." (26) Für die vielfältigen bürokratischen Hürden, die die Grenzüberwindung erschwerten oder verhinderten, benutzt Wolff in diesem Zusammenhang das Bild von der "papiernen Mauer".
Methodisch will Wolff Zeitgeschichtsforschung und Migrationsforschung miteinander verschränken, sein zentraler Begriff ist der des "Migrationsregimes", worunter er die "grenzüberschreitende Aushandlung von Positionen und Machtbeziehungen zwischen allen involvierten Akteuren über die Möglichkeiten, Begrenzungen, Erleichterungen oder die Verhinderung von Migration" versteht. (14) Quellenmäßig stützt er sich auf Akten überwiegend staatlicher Provenienz aus dem Bundesarchiv, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts sowie vor allem der Stasi-Unterlagen-Behörde, bezieht aber auch Materialien der DDR-Opposition ein. Neben seinem genuin wissenschaftlichen Interesse versteht Wolff seine Untersuchung - durchaus auch mit Blick auf die Gegenwart - als "empirisches Plädoyer für die Erkenntnis, dass die Abschottung vor Migration durch hermetische Grenzen und menschenrechtswidrige Papiermauern dauerhaft weder Staaten stabilisieren noch Ökonomien schützen, noch Gesellschaften formen kann." (87)
Die Arbeit ist chronologisch in drei Teile gegliedert: Im mit "Ordnung" überschriebenen ersten Teil geht es um die bürokratische Festigung und Absicherung der Mauer und den mit ihr verbundenen Deutungsansprüchen in Ost und West. Die SED-Führung schränkte mit dem Mauerbau auch die legalen Ein- und Auswanderungsmöglichkeiten drastisch ein. Die Bevölkerung der DDR wurde über die entsprechenden Änderungen im Unklaren gelassen, sie erfuhr lediglich auf dem Propagandawege Grundsätzliches zur Abriegelung der Grenze und den (angeblichen) Gründen dafür. Ziel war mithin nicht allein die Fluchtverhinderung, sondern ein "langfristige[r] Wandel der Mobilitätsmentalität der Bevölkerung". (122) Denn die Grenze, so Wolff, wäre ohne entsprechende Disziplinierung von Staatapparat und Gesellschaft und ohne diskursive Absicherung unhaltbar gewesen: "Die Mauer brauchte von Anfang an die Mauer im Kopf." (107) Auch wenn diese Interpretation insgesamt zu überzeugen vermag, ist anzumerken, dass Wolff in diesem Zusammenhang manche Phänomene als Folge des Mauerbaus interpretiert, die bereits in den 1950er Jahren virulent waren. Dies gilt etwa für den von der SED verbreiteten Topos der "Abwerbung" von Arbeitskräften durch den "Klassenfeind" zum Schaden der DDR, die nachträgliche Zuschreibung "niederer" Motive auf Geflüchtete oder das Führen von disziplinierenden Aussprachen in mit der Bekämpfung der Republikflucht befassten Bereichen des Staatsapparates. Auf westlicher Seite wirkte der propagandistische Umgang mit der Mauer Wolff zufolge ambivalent: Der "politisch motivierte Gruseltourismus" zur innerdeutschen Grenze und zur Mauer habe nicht nur die "erwünschte Abschreckung vor dem Kommunismus" produziert, sondern auch eine "unerwünschte mentale Einschreibung der Teilung". (248)
Mitte der 1960er Jahre, so Wolff, hatte die DDR ein System gefunden, das "mittels einer militärisch gesicherten Staatsgrenze, diversen Schichten an Papiermauern, einem ausreisefeindlichen Diskurs und einer konspirativen Bewilligungspraxis den Abwanderungswillen der DDR-Bevölkerung im Zaum hielt". Trotzdem sei die "nahezu komplette[] behördliche[] Migrationskontrolle" eine "Illusion" geblieben (420), wie er im zweiten Teil "Kontakte" zeigt, der sich mit den Auswirkungen der Entspannungspolitik auf das Migrationsgeschehen beschäftigt. Während in den 1960er Jahren Ausreiseanträge fast ausschließlich Rentnern und sonstigen "arbeitsunfähigen" Personen genehmigt wurden, wuchs mit Beginn des Folgejahrzehnts langsam der Anteil der "arbeitsfähigen" DDR-Bürger, die ihren Ausreisewunsch durchsetzen konnten. Denn die Migrationsverwaltung benötigte Schlupflöcher, die wiederum dazu führten, dass sich spätere Antragsteller auf bereits genehmigte Ausreisen berufen konnten. Mit dem Grundlagenvertrag habe sich die Rechtslage der Antragsteller zwar praktisch nicht verändert, trotzdem seien diese mutiger geworden: Der Ton der Eingaben verschärfte sich und öffentliche Demonstrativhandlungen von Ausreisewilligen nahmen zu.
Der dritte und umfangreichste Teil des Buches steht unter der Überschrift "Menschenrechte". In der Berufung auf diese sieht Wolff den entscheidenden Faktor, mit dem die Mauer nach und nach ausgehöhlt und schließlich zu Fall gebracht wurde. Die Antragsteller verwiesen zunehmend auf internationale Vereinbarungen wie die UN-Charta und die KSZE-Schlussakte, obwohl sich aus dieser ein Recht auf Ausreise gar nicht ableiten ließ. Dass die Geltendmachung dieser vermeintlichen Rechte dennoch zu einem "Topos" wurde, erklärt Wolff ebenso originell wie überzeugend damit, dass "[g]erade das mangelnde Wissen um die schwache rechtliche Position der Dokumente [...] das Selbstbewusstsein der Antragsteller" gestärkt habe (539). Umgekehrt erklärten die DDR-Behörden in dieser Zeit schon die Stellung eines Ausreiseantrags für "rechtswidrig". Beide Seiten, so resümiert Wolff, beriefen sich im Antragsverfahren auf das 'Recht', obwohl letztlich "keine Rechtszustände verhandelt [wurden], sondern Macht und Moral". (540)
Auch im Hinblick auf die in den letzten Jahren kontrovers diskutierte Frage, ob die Ausreiseantragsteller überwiegend vereinzelt agiert hätten oder ob von einer "Ausreisebewegung" gesprochen werden könne, kommt Wolff zu einer schlüssigen, differenzierten Einschätzung. Die Antragsteller hätten zwar individuell und unkoordiniert, aber trotzdem in ähnlicher Weise gehandelt und somit eine Gruppe konstituiert. Da dies aber "ein aggregierter und kein geordneter kollektiver Prozess" war, sei "der Begriff der Ausreisebewegung im Sinne einer sozialen Bewegung leicht irreführend". (604) Vielmehr hätten sich die individuellen Anträge unbeabsichtigt gegenseitig zu einer sozial explosiven Situation verstärkt, zusätzlich befeuert durch Kanäle im Westen.
Viele in der Arbeit von Frank Wolff behandelte Themen und Aspekte sind schon in anderen historischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen erörtert worden. Das gilt insbesondere für den Zusammenhang zwischen KSZE-Prozess und Ausreisebewegung sowie für die Frage nach dem Zusammenwirken von Flucht, Ausreise und Opposition mit Blick auf die Erosion der SED-Herrschaft im Jahr 1989. Die Stärke des Buches liegt darin, dass Wolff diese zahlreichen Aspekte zusammenführt, dabei die unterschiedlichen Phasen sowie die Akteure in West und Ost ausgewogen berücksichtigt und seine Befunde einer frischen Betrachtung unterzieht. Das gelingt ihm auf empirisch dichter Grundlage und weit überwiegend analytisch hohem Niveau. Er kommt dabei zu einer Vielzahl von originellen Einsichten, neuen Interpretationsansätzen und scheinbar paradoxen Erkenntnissen, von der nur einige angerissen werden konnten. Auch seine Interpretation der Mauer - im weiteren Sinne - als zugleich trennend und verbindend überzeugt, etwa in der schlichten Erkenntnis, dass zahlreiche Wanderungsfälle überhaupt erst durch die Teilung ausgelöst wurden: Sie "schuf ihre eigene Migration, gerade weil sie Kontakte und Austausch unterband". (603) Weniger überzeugend ist hingegen Wolffs Postulierung einer durch die Grenze konstituierten gesamtdeutschen "Mauergesellschaft". Dazu kommt die deutsche Bevölkerung in Ost und West jenseits der Akteure des "Migrationsregimes" zu wenig in Blick. Dieser Einwand schmälert allerdings weder die Leistung des Autors noch den Ertrag seiner Studie.
Ein letzter Kritikpunkt betrifft den Umfang der Arbeit: Mussten es wirklich tausend Seiten sein? An zahlreichen Stellen des Buches wären ohne Substanzverlust Kürzungen möglich gewesen, etwa durch die Reduzierung von Fallbeispielen, die teilweise in epischer Breite nacherzählt werden, durch den Verzicht auf die Rekonstruktion auch noch der letzten Windungen bürokratischer Entscheidungsprozesse, die Streichung von Exkursen von zweifelhaftem Erkenntnisgewinn (etwa die 5-seitige Exegese eines Bildbands von Wolfdietrich Schnurre zur Berliner Mauer) sowie die Kürzung der Darstellung von bereits vielfach referierten Ereignissen (die allseits bekannten Konflikte um die - erzwungene - Ausreise von Bürgerrechtlern im Umfeld der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar 1988 werden erneut auf 15 Seiten ausgebreitet). Dieses Problem betrifft viele jüngere geisteswissenschaftliche Qualifikationsschriften und ist umso ärgerlicher, als es eine Rezeption und den Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse einschränkt, da abseits von professoralen Betreuern und Rezensenten kaum jemand solche umfangreichen und detailverliebten Arbeiten in Gänze lesen wird. Es ist bedauerlich, dass offenbar weder Gutachter noch Verlagslektoren dieser an eine "Tonnenideologie" gemahnenden Entwicklung Einhalt gebieten.
Anmerkung:
[1] Jüngst hat Petra Weber dazu eine umfassende Darstellung vorgelegt: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020.
Henrik Bispinck