Remko Leemhuis: "Ich muß deshalb dringend von jeder zusätzlichen Aktion für Israel abraten.". Das Auswärtige Amt und Israel zwischen 1967 und 1979 (= Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung; Bd. 52), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2020, 469 S., ISBN 978-3-643-14563-5, EUR 44,90
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Die Haltung der Diplomaten des Auswärtigen Amtes (AA), nicht die der Bundesregierung und auch nicht der jeweiligen Außenminister, zu Israel ist das Thema dieser Dissertation an der Philipps-Universität Marburg. Im Mittelpunkt steht das Nahostreferat des AA. Da Leemhuis Zugang zu den Verschlusssachen des Referates bis einschließlich 1977 erhielt, konnte er für den größten Teil des Untersuchungszeitraums auch zuvor vertrauliche oder geheime Akten einbeziehen. Die Arbeit setzt mit dem Sechstagekrieg von 1967 ein und endet 1979. Dieses Jahr bezeichnet Leemhuis als "einen Wendepunkt in der Geschichte des Nahen Ostens" (37): Israel und Ägypten schlossen unter Vermittlung der USA einen Friedensvertrag, im Iran siegte die islamische Revolution, die Sowjetunion marschierte in Afghanistan ein.
Auf einen Überblick über das "Auswärtige Amt und Israel bis zum Ende des Sechstagekrieges" folgen Kapitel zur "'Entschädigung' von NS-Verbrechen", über die Wirtschaftsbeziehungen zu Israel, die Politik gegenüber den Palästinensern und die Nahostpolitik der Europäischen (Wirtschafts-) Gemeinschaft, jeweils aus der Perspektive der AA-Diplomaten. Vorangestellt ist ein ungewöhnlich langes Vorwort des Doktorvaters Thomas Noetzel, der hier die wichtigsten Erkenntnisse der Dissertation bereits zusammenfasst.
Methodisch lässt sich Leemhuis von der Annahme eines "Groupthink" unter den AA-Diplomaten leiten. Darunter versteht er den "Wunsch nach einem Konsens innerhalb einer Gruppe", der "das Erkunden von alternativen Konzepten und Überlegungen ausschließt" (33). Im zusammenfassenden Schlusskapitel kommt er auf diese Überlegung zurück. In den empirischen Hauptteilen der Arbeit, in denen der Autor eine Vielzahl von Quellen referiert, schimmert diese Analysekategorie hingegen nur selten und schwach durch.
Im Anschluss an frühere Studien geht Leemhuis in der Einleitung davon aus, dass es im "Amt" "antisemitische und israelfeindliche Tendenzen" gab. Sein neuer Beitrag zu diesem Thema soll darin bestehen zu prüfen, ob diese "Ressentiments" sich auf die "'Arabisten'" beschränkten - also die AA-Diplomaten, die sich mit den arabischen Ländern befassten - oder weiter verbreitet waren. (24)
Die Messlatte des Autors für die Beurteilung der Haltung der AA-Mitarbeiter ist, ob sie dafür eintraten, dass die Bundesrepublik fest an der Seite Israels steht. Dies war - daran kann angesichts der Unzahl einschlägiger Zitate, die Leemhuis präsentiert, kein Zweifel bestehen - eindeutig nicht der Fall. Im Gegenteil: Der Autor konstatiert bei den Diplomaten ein erheblich größeres Maß an Verständnis für die Israel-Politik der arabischen Regierungen einschließlich der PLO als umgekehrt für das Vorgehen Israels gegenüber seinen Nachbarn. Das gilt auch für die Reaktion auf den palästinensischen Terror. Die bundesdeutsche Diplomatie befleißigte sich Leemhuis zufolge einer Politik, die Thomas Noetzel in seinem Vorwort - in Übereinstimmung mit den Befunden des Autors - als "geradezu widerlich zu nennende Appeasementhaltung gegenüber arabischen Staaten" und der PLO bezeichnet (13). Dadurch habe sich das Auswärtige Amt unter den Bundesministerien isoliert und sei immer wieder von Entscheidungen zum Nahen Osten ausgeschlossen worden.
Obwohl nicht das eigentliche Thema der Arbeit, charakterisiert Leemhuis auch die Politik der Außenminister gegenüber Israel. Aus seiner Sicht war der Tiefpunkt unter Walter Scheel erreicht. Der Freidemokrat habe die antiisraelischen Positionen seiner Diplomaten geteilt. Hans-Dietrich Genscher zeigte sich dem jüdischen Staat gegenüber aufgeschlossener. Helmut Schmidt war als Bundeskanzler anfänglich kritischer zu Israel eingestellt als sein Vorgänger Willy Brandt, doch gab es von ihm auch Entscheidungen pro Israel. Über Brandt als Außenminister erfahren wir wenig.
Leemhuis' Fazit der Haltung der AA-Diplomaten gegenüber Israel lautet, dass von einer "'Ausgewogenheit'" der Beziehungen zu den Kontrahenten im Nahen Osten keine Rede sein könne. Sie sei nur ein Feigenblatt gewesen, um sich in Wirklichkeit "den arabischen Staaten zu nähern und von Israel zu distanzieren. Wann immer die 'Ausgewogenheit' jedoch eine Parteinahme für israelische Interessen bedeutet hätte, war es [sic!] kein Referenzpunkt der eigenen Politik mehr." (426)
Der Autor erklärt die negative Einstellung der AA-Diplomaten gegenüber Israel mit einem "kaum verhohlene[n] (sekundäre[n]) Antisemitismus". Dieser stamme nun aber nicht - wie man vielleicht denken könnte - aus personellen Kontinuitäten seit der NS-Zeit. Dies betont Noetzel in seinem Vorwort noch entschiedener als Leemhuis. Der Antisemitismus des AA speiste sich, so Leemhuis, aus einem "Ideologem der mächtigen 'jüdischen Lobby'" und aus einer "Erinnerungsabwehr", welche sich gegen die Erinnerung an eigene Verstrickungen wie auch die des Amtes in der NS-Zeit wandte. (436)
Jenseits antisemitischer Motive meint Leemhuis, bei den AA-Mitarbeitern auch Kulturrelativismus zu erkennen. Intern sei "nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterschieden" worden, weshalb die Diplomaten nie verstanden hätten, dass es im Nahen Osten um die Verteidigung Israels als einziger liberaler Demokratie der Region ging. Den Grund dafür sieht er darin, "dass die Diplomaten in den 60er und 70er Jahren mit der liberalen Demokratie im eigenen Land fremdelten" (428 f.).
Leemhuis fordert in der Auseinandersetzung mit dem Handeln der Diplomaten des Auswärtigen Amtes immer wieder eine unbedingte Solidarität mit Israel. Das ist sein Maßstab. Eine ausgewogene Haltung der Bundesrepublik gegenüber den arabischen Staaten einerseits, Israel andererseits hätte ihm nicht ausgereicht. Kontakte deutscher Diplomaten zur PLO lehnt Leemhuis kategorisch ab, solange die Organisation nicht dem Terror abschwor. Spätestens hier ist deutlich, dass die Meinungsstärke des Autors dazu führt, die Grenzen zwischen einer wissenschaftlichen Analyse und einer politischen Streitschrift zu überschreiten. So beeindruckend (und erschreckend) die Belege für seine Urteile sind, vermisst man doch jegliche vertiefte Erörterung anderer Motive der Diplomaten als die bereits genannten und auch das Vermessen von Spielräumen für alternatives Handeln. Konnte es z. B. nicht sinnvoll sein, einen Gesprächsfaden zu den Palästinensern zu besitzen? An manchen Stellen kam dem Rezensenten der Gedanke, Leemhuis erwarte von Diplomaten eher eine Art schwarzer Pädagogik der scharfen Verurteilung statt des mühsamen und moralisch sicher nicht immer unbedenklichen Umgangs mit Diktatoren oder Terroristen. Hätte Yitzhak Rabin bei Leemhuis Gnade gefunden, der seine Verhandlungen mit der PLO mit den Worten begründete: "You don't make peace with friends. You make it with very unsavory enemies"?
Zum Schluss noch ein Wort zur äußeren Form der Publikation: Es stört ein mangelhaftes Lektorat, das sich am Übermaß an Tippfehlern, selbst bei Autorennamen, zeigt; nicht gerade leserfreundlich sind die Fußnoten, die durch umfangreiche Quellenzitate oder inhaltliche Ausführungen oft die Hälfte der Seite einnehmen.
Bernd Rother