Annette Schmidt-Klügmann: Bernhard Wilhelm von Bülow (1885-1936). Eine politische Biographie, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, XII + 707 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-70268-5, EUR 128,00
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Vor einigen Jahren befasste sich Hermann Graml in einer 200-Seiten-Schrift mit Bernhard Wilhelm von Bülow, dem hochrangigen Mitarbeiter im Auswärtigen Amt und dessen Staatssekretär von 1930 bis 1936 [1]. Nun legt Annette Schmidt-Klügmann mit ihrer gut dreimal so umfangreichen und noch von Peter Krüger angeregten Marburger Dissertation eine neue "politische Biographie" Bülows vor. Graml wollte unter anderem gegen den eher kurzzeitigen Aufreger der Veröffentlichung "Das Amt" [2] am Beispiel Bülows zeigen, dass eine Betrachtung des Auswärtigen Amts lediglich ab 1933 eine Verkürzung darstelle und die Kontinuitäten über die Grenze 1933 hinweg übersehe. Daneben ging er der Frage nach, warum ein hoher Beamter sich dem Nationalsozialismus zur Verfügung stellte, obwohl er diesen und dessen frühe Gewaltherrschaft ablehnte und obwohl er sich 1918/19 vorbehaltlos in den Dienst der Demokratie und Republik gestellt hatte, auch wenn er ein für die deutsche Nation glühender Mensch blieb. Folgerichtig trat er in die linksliberale Deutsche Demokratische Partei ein, der diese Melange nicht fremd war. Die Frage, warum Bülow trotz seines schwindenden Einflusses auf die deutsche Außenpolitik nach 1933 auf seiner Stelle blieb, konnte Graml nicht wirklich beantworten oder allenfalls vage Antwortmöglichkeiten aufzeigen.
Schmidt-Klügmann wählt in ihrer von dichter Literatur- und Quellenauswertung (allein an Archivalien: der verschollen geglaubte Privatnachlass Bülows, weitere Nachlässe, Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes und etliche Splitter aus anderen Archiven) getragenen Arbeit einen breiteren Fragehorizont und sucht unter anderem Krüger zu widerlegen [3], für den die Ernennung Bülows - vor allem seine Tätigkeit als Staatssekretär seit 1930 - eine Zäsur zur Verständigungspolitik Stresemanns und Schuberts, des Amtsvorgängers im Staatssekretariat, bedeutete.
Doch der Reihe nach: Bülow mit dem Onkel als wilhelminischem Reichskanzler, dem früh verstorbenen Vater als Adjutanten des Kronprinzen und einer verzweigten und einflussreichen Familie aus uraltem mecklenburgischem Adel wurde in die Elite des Kaiserreichs hineingeboren: Wilhelm II. (noch als Kronprinz) stand bei seiner Taufe Pate. Nach einer unauffälligen Schulzeit und einem lustlos betriebenen Jura-Studium ließ er sich im Referendariat beurlauben und startete eine hier sehr breit geschilderte 21-monatige Weltreise; die Breite der Darstellung ohne rechten Bezug zu späterem mag der Versuchung geschuldet sein, den neu erschlossenen Privatnachlass intensiv zu nutzen, der überwiegend Material aus Bülows jüngeren Jahren enthält. Nach seiner Rückkehr trat er 1911 ins Auswärtige Amt ein und war kurz Attaché in Washington, ehe er ins Amt versetzt wurde. Die dortige Arbeit langweilte ihn offenbar: Er hatte bereits ein Abschiedsgesuch aufgesetzt, das aber durch den Kriegsausbruch und seinen Militäreinsatz obsolet wurde. Zum Unmut beigetragen hatte seine Überzeugung, dass man im Amt zu bürokratisch arbeite und auf seine eigenen Ideen keinen Wert lege - eine Haltung, die sich auch später wiederfand, wenn er eigene Pläne für kaum widerlegbar hielt.
Nach der Rückkehr in die Diplomatenlaufbahn infolge einer Verwundung fand er für etwa ein Jahr an den Vertretungen in Konstantinopel und Athen und danach bis zum Kriegsende in Berlin Verwendung. Seit 1916 war er mit der Sammlung von Akten zum Kriegsausbruch beauftragt, und im Januar 1919 wurde er zur Leitung der Arbeiten zur Kriegsschuldfrage berufen; so konzipierte er die entsprechende Instruktion für die deutsche Friedensdelegation, mit der er nach Paris ging.
Nach der Rückkehr aus Versailles kündigte Bülow im Auswärtigen Amt und zog sich nach Mecklenburg zurück. Neben dem Anlass des für ihn enttäuschenden Versailler Vertrags fühlte er sich vor allem mit den Einengungen im Amt unzufrieden: Er sei "ein viel zu selbständiger Mensch" (193), um sich stets Vorgesetzten zu beugen. Zuvor, noch in der Endphase des Krieges und unmittelbar nach Kriegsende, hatte er sich in liberalen Kreisen Gedanken über den Aufbau des neuen Staates gemacht, in denen er sich klar von der deutschen Innen- wie Außenvorkriegspolitik absetzte. In diesem Kontext trat er auch in die neu gegründete DDP ein, wobei seine Tätigkeit dort bald erlahmte.
Aus seinen publizistisch-politischen Arbeiten zur Kriegsschuldfrage und zum Völkerbund bis 1923 erwuchs sein in diesem Jahr erschienenes Buch zur Genfer Institution: Er stellte ihr ein vernichtendes Urteil aus, sah aber die Möglichkeit zu einer positiven Umgestaltung als Voraussetzung für einen Beitritt Deutschlands. Als 1923 der Völkerbund auch im Auswärtigen Amt wieder in den Blick geriet, kehrte er nach Berlin zurück und übernahm im Außenministerium das neue Referat für Völkerbundsangelegenheiten. Dort formulierte er Bedingungen für den deutschen Beitritt, die er ab 1924, als die Frage akuter wurde, intern durchzusetzen versuchte. Insofern wurde er zwar zum Bremser, aber betrieb, so die Interpretation der Verfasserin, keine Obstruktionspolitik. Den Weg nach Locarno und die damit verbundene Entscheidung zum Beitritt in Genf vollzog er zögerlich nach. Wie schon bei den Friedensverhandlungen vertrat er nun den (durchaus auch gegen Stresemann gerichteten) Standpunkt, Deutschland könne durch höhere Forderungen mehr erreichen - eine bei ihm wiederholt beobachtbare Überschätzung des deutschen Machtpotentials.
Ab 1926 wandte er sich der Abrüstungsdiplomatie und den zähen Verhandlungen in Genf zu. Wenn die frühere Forschung hier bzw. spätestens für 1929 einen Umschwung in der deutschen Haltung sehen wollte und dafür Bülow auch persönlich benannte, so weist Schmidt-Klügmann dies zurück: Er habe nicht von Anfang an auf das Scheitern der Abrüstung gezielt, sondern bei seinen Szenarien sei die deutsche Wiederaufrüstung nur die Ultima ratio im Fall des Scheiterns anderer Lösungen gewesen.
1930 wurde Bülow Staatssekretär. Krüger sah in dem Personalrevirement nach Stresemanns Tod eine Abkehr von dessen Verständigungspolitik. Schmidt-Klügmann bestreitet dies mit dem an sich zutreffenden Argument, dass es, wie schon 1929 beim Ministerantritt durch Julius Curtius, keine größeren Veränderungen im Hinblick auf die revisionistischen Ziele gegeben habe. Das mag zutreffen, aber es verkennt eine wesentliche Facette, die sich durch die Person Bülows änderte und die sich am Vergleich der Personen und der Politik Stresemanns und Bülows festmachen lässt: Bülow war erstens ein Mensch der gelegentlich als typisch deutsch gebrandmarkten Unbedingtheit, der sich seiner Pläne so sicher war, dass er keinen Zweifel gestattete - geschmeidiges diplomatisches Verhandeln gehörte nicht zu seinem Repertoire, wie sich etwa in der Zollunionfrage 1931 zeigt. Zweitens war er von der Rechtmäßigkeit des deutschen Anspruchs auf Vertragsrevision stets so überzeugt, dass es ihm nur selten gelang, sich in die Lage etwa der Franzosen zu versetzen. Und schließlich war ihm drittens fremd, was Stresemann 1925 in einer Rede als deutsche Schwäche gegeißelt hatte: "zu wenig oder kein Verständnis [zu] haben für das, was der Franzose die schöne Geste nennt" [4]. Beispielhaft lässt sich das am deutschen Verhalten nach der vorzeitigen Rheinlandräumung 1930 beobachten, die von Bülow als gutes deutsches Recht empfunden wurde und deswegen kaum Anlass zu einer Dankesgeste gegenüber Frankreich bot, oder an seiner Reaktion auf die ihm vom amerikanischen Botschafter übermittelte Nachricht über das Hoover-Moratorium im Folgejahr: "He didn't even say thanks" (637), kommentierte der US-Diplomat konsterniert.
Noch vor Hitlers Kanzlerschaft rückte Bülow zunehmend in die Rolle, das Auswärtige Amt als Motor der deutschen Außenpolitik zu verteidigen. Dies galt zunächst gegenüber den Militärs, die auf eine schärfere Haltung in der Abrüstungskonferenz drängten, was auch zu bedeutenden Aufrüstungsschritten hätte führen sollen. Diese Rolle nahm er auch nach dem Januar 1933 ein: Es wirkt glaubhaft, dass er im Amt blieb (bei zwei Rücktrittsangeboten ließ er sich 1933 und 1935 von Minister Neurath überzeugen, seine Stellung zu behalten), um diesen Führungsanspruch zu verteidigen. Dabei wurde er nun sogar zum Anwalt des Locarno-Vertrags, dessen Einhaltung er dem außenpolitischen Hazardeur Hitler nahelegte - auch mangels Unterstützung durch Neurath blieb er damit erfolglos. Wenn er gegenüber dem Ausland dennoch die außenpolitischen Schritte des Regimes vom Austritt aus der Abrüstungskonferenz und dem Völkerbund bis hin zur Remilitarisierung des Rheinlands und selbst die frühen und von ihm verabscheuten NS-Gewalttaten verteidigte, geschah dies wohl aus seinem Verständnis von Loyalität oder war der Preis dafür, mit seiner Stellung noch einen gewissen Einfluss zu wahren, um die wachsende Konkurrenz von NS-Ämtern in der Außenpolitik und das auch personelle Hineinregieren ins Amt zu dämpfen. Ein persönlicher Antisemitismus lässt sich bei ihm, anders als bei vielen Standesgenossen, jedenfalls nicht finden.
Unerwartet starb Bülow im Juli 1936. Seit 1919 war er tief von der Ungerechtigkeit des Versailler Vertrags überzeugt, und dessen Revision galt stets seine Politik. Es fällt dagegen unverändert schwer, seine Person, seine Haltungen und Handlungen eindeutig zu beurteilen, insbesondere für die letzten Lebensjahre. "Bülow hat [...] ein System von Tätern unterstützt, ohne selbst Täter zu sein", resümiert Schmidt-Klügmann (641). Wo bei der Unterstützung von Tätern eigene Mittäterschaft beginnt, ist in der Geschichtswissenschaft für die NS-Zeit für so manchen Vertreter der "alten Eliten" gefragt worden. Mit einem abschließenden Urteil sollte man sich zurückhalten; damit tun sich selbst Juristen schwer.
Anmerkungen:
[1] Hermann Graml: Bernhard von Bülow und die deutsche Außenpolitik. Hybris und Augenmaß im Auswärtigen Amt, München 2012; vgl. dazu http://www.sehepunkte.de/2012/09/21609.html (letzter Zugriff 11.3.2021).
[2] Eckart Conze u. a.: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
[3] Vor allem in Peter Krügers Gesamtdarstellung: Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985.
[4] In der Sitzung des Zentralvorstandes der DVP in Berlin vom 25. November 1925: Gustav Stresemann: Reden der Kanzler- und Außenministerzeit (1923-1929), hrsg. u. bearb. v. Wolfgang Elz [URL: https://neuestegeschichte.uni-mainz.de/internationale-politik/stresemann-reden/reden-1923-1929/ (letzter Zugriff 11.3.2021)], 1925, 399.
Wolfgang Elz