Joël Blanchard (ed.): Philippe de Mézières. Rhétorique et poétique (= Cahiers d'Humanisme et Renaissance; 157), Genève: Droz 2019, 325 S., ISBN 978-2-600-05962-6, CHF 52,00
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Noch vor wenigen Jahren hätte man ihn als "Protagonisten der zweiten Reihe" bezeichnet. Inzwischen aber wurde er wiederentdeckt, oder besser: in seiner Bedeutung neu bewertet. Die Rede ist von Philippe de Mézières (1327-1405), einem der letzten großen Propagandisten der Kreuzzugsidee, der nicht nur zehn Jahre lang als Kanzler des Königreichs Zypern, sondern auch als Ratgeber Karls V. von Frankreich fungierte. Sein Leben beschloss er im Pariser Cölestinerkonvent. Von dieser Renaissance zeugen nicht nur neue kritische Editionen seiner Hauptwerke [1], sondern auch umfangreiche Sammelbände zu unterschiedlichen Aspekten seiner Vita. [2] Was bisher fehlte, war eine Untersuchung seiner literarischen Sprache. In diese Lücke stößt der vorliegende Sammelband, der, in fünf große Abschnitte gegliedert, insgesamt 13 Beiträge umfasst (I. La rhétorique dans tous ses états; II. Stratégies oratoires; III. L'herméneutique mézièrienne; IV. Théâtralité et rite; V. Poétique de l'alchimie chez Philippe de Mézières). Erklärte Absicht ist es, "d'apprécier la nouveauté de la langue de Mézières, ou au contraire d'en explorer et d'en définir le conservatisme, de baliser les limites du champ où évolue sa poétique" (10). Was darf als "neu", was als "konservativ" in seiner Sprachverwendung gelten?
Die Antworten sind vielschichtig und verdeutlichen, was Philippe de Mézières den Traditionen sowohl der lateinischen als auch der mittelfranzösischen Literaturproduktion verdankt, wie stark sein Werk sprachlich aber auch nach vorne weist. Maria Colombo Timelli demonstriert dies anhand des Umgangs mit Sprichwörtern in seinem Hauptwerk, dem Songe du Viel Pelerin (31-50). Sie tritt dabei mit dem Anspruch an, ein "relevé relativement complet" (32) der im Songe verwendeten Sprichwörter zu liefern, die vornehmlich dazu dienen, das, was sich inhaltlich in z. T. komplexen Allegorien verdichtet, dem Leser besser verständlich zu machen. In Appendix I werden diejenigen 65 Sprichwörter aufgelistet, die explizit als "proverbes" bezeichnet werden, während Appendix II denjenigen Fällen vorbehalten ist, in denen Form-, Kontext- und Sinnanalysen eine solche Zuordnung nahelegen, ohne dass im Text mit der Bezeichnung "proverbe" operiert worden wäre. Michelle Szkilnik bewegt sich in einem ähnlichen thematischen Rahmen, wenn sie Reim, Rhythmus und rhetorische Figuren (colores rhetorici) im Songe du Viel Pelerin untersucht (51-69). Die Schrift präsentiert sich zwar als Prosawerk, kann die Abhängigkeit von einem heute verlorenen Vorgänger in Versform (Le Pelerinage du Povre Pelerin et Reconfort de son Pere et de sa Mere) aber nicht verleugnen. Dies erklärt die häufigen "échos sonores et les effets de rythme" (51). Joël Blanchard hatte diese Phänomene für den Prolog und die ersten beiden Kapitel des Songe in seiner Edition bereits nachgewiesen, die Autorin führt diese Arbeit nun für den Rest des Werks weiter. Deutlich wird, wie Philippe de Mézières seine Prosa durch die Einfügung von Reim, Rhythmus und rhetorischen Figuren aufwertet und dabei regelmäßig diejenigen Stellen hervorhebt, die von zentraler Bedeutung sind.
Mit rhetorischer Erfindungsgabe setzt sich auch Helen Swift mit Blick auf Philippe de Mézières Testament (1392) auseinander (207-225). In diesem Testament, das weder ars moriendi noch geistliches Testament ist, werden von Philippe Verfügungen getroffen, die den Umgang mit ihm und seinem Körper kurz vor und nach seinem Tod regeln sollen. Wonach er strebt, ist ein monastischer, d.h. der Welt "entfremdeter" Tod. Die Autorin plädiert dafür, die Schrift als "deathbed meditation" (215) zu verstehen.
Philippe schöpft aus vielerlei literarischen Traditionen, darunter auch das Genus der Trostschriften (consolationes). Sébastien Cazalas weist diesen Einfluss vergleichend in Werken des Cölestiners (†1405) und des Jean Juvénal des Ursins (†1473) nach (73-90) und konstatiert für beide: "Leur esprit était tourné vers Rome et la Cité céleste, leurs yeux ne pouvaient contempler que le chaos." (75) Aus rhetorisch-stilistischem Blickwinkel heraus wird untersucht, wie sich die Lamentatio als kulturelle Praktik mit eigenen Codes und Zielen präsentiert. Auch Jean-Claude Mühlethaler wirft einen Blick auf den rhetorischen Rahmen, in den hinein sich Emotionen und Entrüstung (indignatio) als Antriebskräfte von Satire einschreiben (91-118).
Philippe de Mézières bringt es zu einiger Meisterschaft im Umgang mit Allegorien. Dem widmen sich gleich mehrere Beiträge, so etwa Philippe Frieden, der ketzerisch fragt, ob es sich beim Songe überhaupt um ein allegorisches Werk handle (137-161). Natürlich wird diese Frage positiv beantwortet, allerdings unter Inkaufnahme einer massiven Verschiebung der Aufgabe von Allegorie. Dem Autor zufolge dient der allegorische Diskurs nicht mehr dazu, die Welt zu normieren, sondern ihr in anagogischer Weitung Sinn zu verleihen. Im Akt des Dechiffrierens von Allegorie wird die Welt beherrschbar. Diesen Gedanken verfolgt Andrea Tarnowski in einer Untersuchung weiter, die sich mit der Verbindung von Allegorie und visueller Gestaltung in einer der Haupthandschriften des Songe beschäftigt (187-203).
Daisy Delogu analysiert den Gebrauch des Gleichnisses von den anvertrauten Talenten (Mt. 25,14-30) im Songe du Viel Pelerin (163-185). Die Talente stehen im allegorischen Kosmos des Philippe de Mézières für die besans (Münzen) Christi, die jede Person "sagement marchander et prester a usure" soll. Geld bzw. Münzen bilden somit das allegorische Gerüst, das den gesamten Songe in spiritueller, politisch-ethischer und literarischer Hinsicht stützt: Christen müssen ihre Talente gegen Geld "verleihen", d.h. ein Mehr an spirituellem Reichtum generieren, um so eine Welt zu erschaffen, die den Geboten Gottes folgt.
Catherine Gaullier-Bougassas verortet den Songe innerhalb der literarischen Tradition der Fürstenspiegel und wählt das Secretum secretorum des Pseudo-Aristoteles als Vergleichsschrift (251-269). Philippe dürfte die französische Übersetzung des Secretum gekannt haben, allerdings stieß das darin vertretene Ideal von absoluter Herrschaft bei ihm auf harsche Ablehnung. Stärker interessiert zeigte er sich an den alchemistischen Aspekten des im 11./12. Jahrhundert entstandenen arabischen Traktats. Bei ihm wird allerdings der ideale König zum Vertreter einer "sainte alchimie" (261), die "alchimie spirituelle" (264) zum Garanten einer moralisch-spirituellen Reform der Christenheit. Auf Grundlage dieser Bilder schreibt Philippe (niemals explizit, aber sehr wohl implizit) gegen die zentralen Aussagen des Secretum secretorum an.
Der Band zeigt, dass es sich bei Philippe de Mézières um einen "engagierten Schriftsteller" handelt, dessen ganz eigene Sprache ebenso weit von der Welt der Schulen und Universitäten wie von der Welt der Marktplätze entfernt ist. Sein Umgang mit Allegorien mag zwar aus den Vorgaben der Tradition schöpfen. Ihre Entschlüsselung aber ist auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet: die Reformierung der Christenheit als Grundlage für die Schaffung einer neuen Ritterschaft zur Rückeroberung des Heiligen Landes.
Anmerkungen:
[1] Songe du Viel Pelerin, hgg. von Joël Blanchard / Antoine Calvet / Didier Kahn (= Tome; Bd. 1), Genf 2015; Oratio tragedica, hgg. von Joël Blanchard / Antoine Calvet, Genf 2019.
[2] Philippe de Mézières et l'Europe: nouvelle histoire, nouveaux espaces, nouveaux langages, hgg. von Joël Blanchard / Renate Blumenfeld-Kisinski, Genf 2016; Philippe de Mézières and His Age. Piety and Politics in the Fourteenth Century, hgg. von Renate Blumenfeld-Kosinski / Kiril Petkov, Leiden 2012.
Ralf Lützelschwab