Pietro Delcorno: In the Mirror of the Prodigal Son. The Pastoral Uses of a Biblical Narrative (c. 1200-1550) (= Commentaria; Vol. 9), Leiden / Boston: Brill 2018, XIII + 550 S., ISBN 978-90-04-31507-5, EUR 160,00
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Das Gleichnis vom verlorenen Sohn gehört zu den bekanntesten Passagen des Neuen Testaments. So lobte etwa der italienische Prediger Bernardino von Siena in überschwänglichen Worten: "Dieses Gleichnis ist so voller Bedeutung, dass, selbst wenn nichts anderes existierte, um Sünder zur Buße zu bewegen, dies schon genug wäre." [1] Prediger nutzten das dem Gleichnis innewohnende Potential: der Werdegang des "Verlorenen Sohnes" konnte zur Beschreibung der wichtigsten Lehrsätze der Kirche dienen. Theologische, im Bereich christlicher Anthropologie und Soteriologie angesiedelte "Dauerbrenner" waren anhand seines Schicksals überaus eindrücklich darstellbar: Freiheit und Gnade, Sünde und Umkehr, Gerechtigkeit und Vergebung, Beichte und Lossprechung - zentrale theologische Lehrsätze, deren Erläuterung auf die intellektuelle Fassungskraft des jeweiligen Publikums zugeschnitten werden konnte. Das Gleichnis wurde zur flexiblen Matrix, aus der ein normativer Diskurs religiöser Unterweisung hervorging: "In this study, the parable of the prodigal son functions like Ariadne's thread to enter the intricate and intriguing forest of texts of religios instruction [...]" (4).
Im Umfeld der Pastoral entstandene Texte bilden wenig überraschend die Basis der vorliegenden Untersuchung und eröffnen aufgrund ihrer Vielfalt ein erstaunlich facettenreiches Panorama. Die Analyse von Bibelkommentaren, Musterpredigtsammlungen, tatsächlich gehaltenen Sermones, geistlichen Spielen, Frömmigkeitstraktaten, Liedern und Bildern offenbart, in welcher Form biblische Texte in der Gesellschaft zirkulierten, wie sie angeeignet, adaptiert, verändert und verbreitet wurden. Delcorno liefert mithin einen wichtigen Beitrag zur "practice of the Bible".
Die aus einer Dissertation hervorgegangene und von einem Vor- und Nachwort umschlossene Untersuchung ist in sechs große Abschnitte gegliedert (I. The Medieval Exegesis on the Parable of the Prodigal Son, 18-98; II. The Voice of the Preacher: Late Medieval Model Sermons, 99-186; III. Italian Preaching on the Prodigal Son: From Bernardino da Siena to Savonarola, 188-250; IV. The Layman, the Woman, and the Priest: Three Florentine Dramas on the Prodigal Son, 251-309; V. Fifty Sermons on the Prodigal Son: Johann Meder's Quadragesimale novum de filio prodigo, 310-369; VI. The Sixteenth-Century Prodigal Son: A Mirror, 370-431). Untersucht wird die Relevanz, Funktion und Variationsbreite des Gleichnisses vom 13. Jahrhundert bis zur Reformation.
Der erste Abschnitt widmet sich der Rezeptionsgeschichte des Gleichnisses von der Spätantike bis ins frühe 14. Jahrhundert. Damit wird der Boden für die nachfolgende Untersuchung bereitet. Bereits hier demonstriert der Autor seine Gabe, komplexe Sachverhalte kurz und gut verständlich zu erläutern und sich selbst angesichts großer Quellenmassen nicht in (zumeist entbehrlichen) Einzelheiten zu verlieren.
Im zweiten Abschnitt findet sich zunächst eine der besten Einführungen in das Phänomen der mittelalterlichen Musterpredigtsammlungen, die derzeit zur Verfügung stehen. Analysiert wird dieses Phänomen unter dem Blickwinkel der Massenkommunikation: dass sich Predigten über das Gleichnis vom verlorenen Sohn so schnell verbreiten konnten, ist diesen Sammlungen zu verdanken. Von großer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die enge Verbindung von Predigt und Liturgie: In den maßgeblichen Lektionaren war die Lesung des Gleichnisses für den Samstag nach dem zweiten Fastensonntag (sabbatum post Reminiscere) vorgesehen - eigentlich keine sonderlich prominente Stellung. Da sich im 13. Jahrhundert freilich die Praxis durchsetzte, an jedem Tag der Fastenzeit zu predigen (und dazu mitunter eigens berühmte Prediger zu engagieren), fand das Gleichnis die nötige Aufmerksamkeit. Dokumentiert findet sich dies in einflussreichen Sammlungen von Fastenpredigten (sermones quadragesimales) wie denjenigen des Jacobus de Voragine oder Conrad Grütsch. In ihnen wird nicht nur auf die dem Text inhärenten Aspekte von Buße, sondern auch auf die (spirituellen) Verbindungslinien zu Maria eingegangen.
Im dritten Abschnitt verengt sich die Perspektive auf Predigten, die im Italien des 15. Jahrhunderts gehalten worden sind. In den Blick geraten damit nicht nur Prediger vom Schlage eines Bernardino da Siena, Giovanni da Capestrano, Giacomo della Marca oder Savonarola, sondern auch die Formen, in denen die jeweiligen Predigten überliefert sind. Die Forschungen zu den insbesondere im italienischen Raum reich überlieferten Predigtmitschriften (reportationes) fasst Delcorno auf der Grundlage neuester Forschungen zusammen und vergleicht (von Überlieferungszufällen profitierend) diese reportationes mit den jeweiligen Endfassungen, wie sie nach mitunter umfassenden Überarbeitungen in Musterpredigtsammlungen aufgenommen worden sind.
Gegenstand des vierten Abschnitts ist eine weitere, im gleichen kulturellen Kontext verortete Form der Aneignung des Gleichnisses: das geistliche Spiel. Drei dieser Spiele (verfasst von Piero Muzi, Antonia Pulci und Castellano Castellani), die sich an junge Mitglieder einiger in Florenz tätiger Bruderschaften richteten, werden analysiert und zeugen von der großen Bandbreite in der theologischen und katechetischen Interpretation des Gleichnisses.
Im fünften Abschnitt rückt ein Predigtzyklus in den Blickpunkt des Interesses, den der Franziskaner Johann Meder (†1518) 1494 in Basel hielt. Meder vermittelte seinem Publikum die im Gleichnis enthaltene Botschaft in (an Bernardino da Siena angelehnter) semi-dramatischer Form und forderte die Zuhörer explizit zu einer Identifikation mit dem Hauptprotagonisten der Geschichte auf. Enthalten ist ebenfalls eine Meditation über das Leiden und Sterben Christi, in der der verlorene Sohn zur sponsa Christi wird. Die 50 im Quadragesimale novum de filio prodigo enthaltenen Predigten wurden sehr schnell auch gedruckt (1495) und mit Holzschnitten versehen - und Delcorno nutzt die Gelegenheit zu einer konzisen Analyse des Zusammenspiels von Wort und Bild.
Der abschließende sechste Abschnitt beschreibt die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit dem Gleichnis in der frühen Reformationszeit, als nicht nur im Disput zwischen Luther und Eck, sondern auch in den Werken von Melanchthon, Nikolaus Ferber oder Georg Witzel immer wieder darauf Bezug genommen wurde. Einer eingehenderen Analyse wird der Fastenpredigtzyklus des Mainzer Franziskaners Johann Wild (†1554) unterzogen, in dem das Gleichnis vom verlorenen Sohn dazu dient, zeitgenössische theologische Debatten zu erläutern und damit neue religiöse Identitäten zu stärken. Vier Indices (Sachen; Namen und Orte; Bibelzitate; Handschriften) leisten bei der Erschließung der Arbeit gute Dienste. 43 qualitativ hochwertige Abbildungen erleichtern das Verständnis weiter Textpassagen.
Delcornos Arbeit wird man als großen Wurf bezeichnen können. Sie wartet mit einer Fülle neuer Erkenntnisse auf, von denen nur die wichtigsten abschließend genannt seien. Die Predigt über das Gleichnis vom verlorenen Sohn präsentiert sich in den allermeisten Fällen als wohlstrukturiertes Modell, das Vorstellungen von kirchlicher Doktrin und Moral vermittelte und die Schaffung dessen ermöglichte, was Delcorno (unter Rückgriff auf Paul Ricœur) als "narrative Identität" bezeichnet. Fiktionaler Erzählstoff und reale Biographie der Zuhörer bzw. Leser gingen eine enge gegenseitige Verbindung mit der Absicht ein, zur Selbsterkenntnis der Gläubigen beizutragen.
Delcorno schenkt der Dynamik von Kontinuität und Wandel große Beachtung und liefert so den ersten brauchbaren Überblick zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte des Gleichnisses im späten Mittelalter. Und auch die Reformationsgeschichte wird von neuen Erkenntnisse profitieren: der "late medieval consensus" (13) hinsichtlich der Interpretation des Gleichnisses, in dem vor allem Aspekte der Bußpraxis eine große Rolle spielten, wurde im 16. Jahrhundert aufgekündigt und durch strittige Punkte innerhalb der Theologie der Zeit überlagert bzw. ersetzt, etwa die Stellung des freien Willens oder die Wirkkraft göttlicher Gnade. Kirchen-, Theologie- und Predigthistoriker werden von der gut geschriebenen und in einigen Passagen gar vergnüglich zu lesenden Untersuchung ebenso profitieren wie Vertreter der allgemeineren Kulturgeschichte.
Anmerkung:
[1] "El vangelo di domani è tanto pieno di sentenze, che se niuna altra cosa non ci fusse che questo a fare tornare un peccatore o più a penitenza, basterebbe", in: Bernardino da Siena: Le prediche volgari, hg. v. Ciro Cannarozzi, 2 Bde., Pistoia 1934, hier I, 254-55.
Ralf Lützelschwab