Julia C. Böttcher: Beobachtung als Lebensart. Praktiken der Wissensproduktion bei Forschungsreisen im 18. Jahrhundert (= Wissenschaftskulturen. Reihe I: Wissenschaftsgeschichte; Bd. 2), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2020, 422 S., 13 Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12721-9, EUR 62,00
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Dem Reisen wird in der Frühneuzeitforschung schon länger vermehrte Aufmerksamkeit zuteil. Im 18. Jahrhundert wurde es besonders intensiv betrieben und gehört - so kann man sicher ohne Übertreibung sagen - zu den Charakteristika dieses Jahrhunderts. Die Praktiken der Wissenserzeugung sind dabei erst in neuerer Zeit in den Fokus gerückt. Um erste Schneisen in dieses attraktive, aber unübersichtliche Forschungsfeld zu schlagen, konzentrieren sich viele neuere Studien auf einzelne Personen oder bestimmte Regionen. [1]
In ihrem aus einer Regensburger Dissertation hervorgegangenen Buch geht Julia C. Böttcher einen anderen, vielleicht schwierigeren und deshalb bemerkenswerten Weg. Sie untersucht sieben Fahrten in unterschiedliche Weltgegenden, an denen teilweise zahlreiche Forscher beteiligt waren, und gewinnt daraus einen breit angelegten Querschnitt: Beginnend mit Joseph Pitton de Tourneforts Levantereise (1700-1702) über die Expeditionen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften (1768-1774) und James Cooks zweite Pazifikexpedition in Begleitung von Johann Reinhold und Georg Forster (1772-1775) bis hin zu Alexander von Humboldts und Aimé Bonplands Amerikareise (1799-1804) erstreckt sich ihr Untersuchungszeitraum über das gesamte 18. Jahrhundert. Die umfangreiche Materialbasis der Arbeit bilden einerseits normative Texte wie die bisher kaum systematisch ausgewerteten Instruktionen und andererseits die Dokumentation der Reisen in Form von Berichten, Korrespondenzen und anderen, teils gedruckten, teils archivalischen Quellen.
Aus diesem reichen Fundus entfaltet Böttcher das, was sie in Anlehnung an eine Formulierung der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston "Beobachtung als Lebensart" nennt: ein "Handlungsmuster Beobachtungspraxis auf Reisen" (11), ja: eine "Lebensweise", die "ganz der Wissensproduktion unterworfen" war und deren übergeordneter Zweck darin bestand, Wissen zu generieren, das "vom Entstehungskontext losgelöst kommunizierbar" und anschlussfähig sein sollte. Dafür, so die zentrale These, war eine strikte "Regulierung der Beobachtungspraxis" notwendig (13-15). Bei variierenden Bedingungen stellte sich dies unterschiedlich dar, konnte aber durch individuelle Habitualisierung und literarische Kanonisierung nach und nach stabilisiert und verstetigt werden. Indem Böttcher hier ansetzt, bedient sie ein Desiderat, denn die Befunde der einflussreichen Laborstudien lassen sich nicht ohne Weiteres auf das mobile Forschen übertragen. Daraus resultiert auch der Entschluss, bewusst nicht auf das viel beachtete Experimentieren, sondern allgemeiner, prozessorientiert und historisierend auf das Beobachten als Forschungspraxis zu fokussieren. Böttcher lässt sich dabei von den wissenschaftsgeschichtlichen Field Studies inspirieren.
Neun übersichtlich strukturierte Kapitel folgen dem Ablauf der Forschungsreisen, indem sie nacheinander alles in den Blick nehmen, was zeitgenössisch mit ihnen verbunden war: die intellektuellen Voraussetzungen, die Forschungsreisende erfüllen mussten; die Arbeitsanweisungen, die sie an die Hand bekamen; die erforderliche körperliche und charakterliche Disposition; die benötigte Ausstattung; die Art, wie sie ihrer mobilen "Beobachtungstätigkeit" nachgingen, ihre Materialien sammelten und ordneten; die schwierigen und mitunter durch Konflikte noch erschwerten Arbeitsbedingungen "im Feld"; die Interaktion mit lokalen Bevölkerungen, Helfern und Kollegen.
Eindrucksvoll zeigt die Arbeit, wie die Forschungsreisenden bereits bei der Auswahl und der Vorbereitung, dann unterwegs und schließlich auch nach ihrer Rückkehr stets in die Scientific Community eingebunden blieben. Ihre Beobachtungen wurden auch im Feld von den Erwartungen und Konventionen dieser Community geleitet. Anders als in zeitgenössischen Publikationen und in der älteren Forschung erscheinen die Forschungsreisenden hier nicht als heroische Einzelkämpfer, sondern als Teil verschiedener Kollektive, ja: als verlängerter Arm bzw. "ausgestreckter Fühler" (371) der Akademien und anderer, ortsgebundener Institutionen und Gruppen. Bis in kleinste Details (Körperhaltung, Aufschreibtechniken usw.) wurden ihre Arbeitsweisen von deren Gepflogenheiten bestimmt und auf eine spätere Verwert- und Überprüfbarkeit abgestellt. Das reisende Forschen, so lässt sich daraus lernen, war zwar eine soziale Praxis auf Distanz, doch dadurch wurden die sozialen Beziehungen, die es prägten, nicht minder verbindlich - im Gegenteil.
Die Arbeit zielt auch darauf, aus zahlreichen Einzelbefunden eine "Persona" (37), "den Wissenschaftler selbst" (39), "den reisenden Naturforscher, wie ihn das 18. Jahrhundert konzeptualisierte" (180), den "Akteur Forschungsreisender" (372) herauszudestillieren. Dieses Ziel wird gut nachvollziehbar definiert, und die Befunde werden akribisch belegt. Aus einer kriteriengeleiteten Querschnittsanalyse Idealtypen zu generieren, hat freilich Konsequenzen. Dies grenzt nicht nur den Forschungsgegenstand ein, sondern setzt auch dem Erkenntnispotenzial von vornherein Grenzen. Dementsprechend wirft die Arbeit viele neue Fragen auf: Wie verhält es sich mit Abweichungen von dem so herausgeschälten Idealtyp? Was passierte, wenn normative Vorgaben nicht erfüllt wurden? Wie wirkten sich Kontrollverluste aus? Was, wenn zum Beispiel das von den Reisenden geforderte emotionale Engagement aus dem Ruder geriet? Welche Rolle spielten Scheitern und Versagen? Zweifellos sind diese Fragen angesichts der von Böttcher offengelegten Regulierungsbemühungen besonders schwer zu beantworten - und dies hätte vermutlich auch den Rahmen der Arbeit gesprengt. Abweichungen und Normverletzungen, so haben Forschungen zu Expeditionen in früheren und späteren Jahrhunderten gezeigt, waren jedoch keine Seltenheit und erwiesen sich bisweilen sogar als ausgesprochen folgenreich. [2]
Unter dem Strich legt Böttchers Studie erste große Linien einer Wissensgeschichte des Reisens als sozialer Praxis des 18. Jahrhunderts frei und bietet der aktuell boomenden Reiseforschung richtungsweisende Anregungen. Mit diesem lesenswerten Buch ist der Anfang für ein womöglich noch vielgestaltigeres, gelegentlich vielleicht auch ambivalentes oder widersprüchliches Bild gemacht.
Anmerkungen:
[1] Siehe etwa Anne Mariss: "A world of new things.: Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster, Frankfurt a.M. 2015.
[2] Beispiele finden sich bei Franziska Hilfiker: Sea Spots. Perzeption und Repräsentation maritimer Räume im Kontext englischer und niederländischer Explorationen um 1600, Köln / Wien / Weimar 2019; Johannes Fabian: Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München 2001.
Sünne Juterczenka