Michael Gehler / Wilfried Loth (Hgg.): Reshaping Europe. Towards a Political, Economic and Monetary Union, 1984-1989 (= Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften; Bd. 20), Baden-Baden: NOMOS 2020, 524 S., ISBN 978-3-8487-6674-1, EUR 112,00
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Wilfried Loth / Marc Hanisch (Hgg.): Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München: Oldenbourg 2014
Michael Gehler: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, 3., komplett überarb. u. erheb. erw. Aufl., München: Olzog Verlag 2017
Michael Gehler / Oliver Dürkop (Hgg.): Deutsche Einigung 1989/1990. Zeitzeugen aus Ost und West im Gespräch, Reinbek: Lau-Verlag 2021
Die Historiker-Verbindungsgruppe bei der Europäischen Kommission ist ein transnationaler Kreis von zumeist akademischen Historikern, die selbst bereits zur Geschichte der Europäischen Integration dazugehört. Sie entstand 1984 durch eine Initiative des Straßburger Historikers Raymond Poidevin. Das Ziel war es, die Geschichte der Europäischen Einigung seit dem Zweiten Weltkrieg zu erforschen, wobei vor allem die Kolloquien Bedeutung erhielten, die thematisch dem Einigungsprozess mit einem Abstand von dreißig Jahren, das heißt mit der Öffnung der Archive, folgten. Publiziert wurden Beiträge, die auf der Basis von neu zugänglichen Archivalien die Geschichte der Europäischen Integration untersuchten und zumeist einem politikhistorischen Ansatz verpflichtet waren. Diese Bände schlugen erste Schneisen in ein großes Forschungsfeld, an denen sich dann weitere Spezialforschungen orientierten. Der vorliegende zwanzigste Band reiht sich in dieses Konzept ein und wirft einen Blick auf die Europäische Integration in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre.
Die Zeit zwischen 1984 und 1989 erweist sich im Rückblick als Wendepunkt in der Geschichte der Europäischen Integration. Das durch die Verträge von 1951 und 1957 geprägte Sechser-Europa, das Anfang der 1970er Jahre auf neun Mitgliedstaaten erweitert worden war, begann sich tiefgreifend zu verändern. Entscheidend hierfür waren nicht nur die Entwicklungen in der Gemeinschaft selbst, sondern auch auf der globalen und nationalen Ebene der Politik. Sehr deutlich wird dies in verschiedenen Beiträgen über die Bedeutung der Entspannung im Ost-West-Konflikt, die mit dem Regierungsantritt Michail Gorbatschows in der Sowjetunion eingeleitet wurde. Mit der zunächst propagandistisch gemeinten, dann aber schrittweise mit Realität gefüllten Konzeption vom "Gemeinsamen Haus" strebte Gorbatschow einen Wandel in Europa an, der sich auf den politischen Rahmen der KSZE bezog. Die Oppositionsbewegungen in Osteuropa, insbesondere in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, erhielten schrittweise größeren Handlungsspielraum, und auch die westeuropäischen Regierungen begannen, ihre Europapolitik neu zu gestalten. Insbesondere die Beiträge von Wilfried Loth und Deborah Cuccia betonen diese entscheidende Rolle des sowjetischen Staats- und Parteichefs, auf die der Westen reagieren musste.
Es waren jedoch nicht nur die politischen Entwicklungen auf der globalen Ebene, die die Europäische Integration beeinflussten, ebenso wichtig waren die ökonomischen Probleme. Bereits in den 1970er Jahren war Japan ein Faktor für die EG-Wirtschaft geworden, weil es im Bereich der Elektronik und des Fahrzeugbaus auf die Weltmärkte drängte. In den 1980er Jahren setzte die Digitalisierung ein, insbesondere vorangetrieben durch US-amerikanische Unternehmen. Hierauf reagierten die europäischen Unternehmerverbände und forderten eine Reform der europäischen Wirtschaft, um mit dieser neuen Herausforderung konkurrieren zu können (Anjo G. Harryvan). Diese wurde in der Europäischen Kommission, zumal unter der Leitung von Jacques Delors, aufgegriffen und zu einem politischen Programm weiterentwickelt (Laurent Warlouzet, Eric Bussière).
Die Entwicklungen auf der globalen Ebene beschleunigten die Prozesse in der Europäischen Gemeinschaft. Diese war ebenfalls in Bewegung geraten, nicht zuletzt durch die Europa-Politik von Margaret Thatcher. Unter ihrer Führung verlangten die Briten eine Neuordnung der europäischen Finanzen (Piers Ludlow) und eine Weiterentwicklung des Gemeinsamen Marktes. Vor allem das Projekt des Binnenmarktes für Güter, Dienstleistungen, Kapital und Arbeit wurde von Thatcher vorangetrieben und geprägt (Maria Eleonora Guasconi). Aber auch die niederländische Regierung unterstützte das Konzept nach Kräften (Jan van der Harst). Gleichzeitig wurden an anderen Stellen weitere Teilprojekte der Integration gestartet. Hierzu gehörte die Abschaffung der Grenzkontrollen, die zunächst im Benelux-Raum und im deutsch-französischen Grenzverkehr realisiert und dann mit dem Schengen-Abkommen auf die Gemeinschaft und einige andere Staaten ausgeweitet wurde (Simone Paoli). Hinzu kam die fundamentale Reform der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, die noch in den 1960er Jahren als "Leuchtturm" der Europäischen Integration angesehen worden war und nun als Beispiel für Ineffizienz und Verschwendung galt (Marko Lovec). Gleichzeitig entstanden im Europäischen Parlament durch den italienischen Abgeordneten Altiero Spinelli vorangetriebene Ideen für eine europäische Verfassung (Daniela Preda). Alle diese Initiativen existierten zunächst unabhängig voneinander, verdeutlichen aber insgesamt den großen Reform- und Innovationswillen der Akteure.
Eine besondere Rolle kam auch in den 1980er Jahren dem deutsch-französischen Bündnis zu, das aber keineswegs reibungsfrei funktionierte. Das zeigte sich beim Beginn der Debatten um die Europäische Währungsunion. Für Präsident François Mitterrand war die Währungsunion ein Ziel, das er im Kontext der britisch-niederländischen Initiative für den Gemeinsamen Markt erreichen wollte. Auf deutscher Seite war es zunächst Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der das Projekt aufgriff, während Helmut Kohl es erst nach einigem Zögern und innerparteilichen Auseinandersetzungen kraftvoll unterstützte (Wilfried Loth). Erst nach dieser Übergangsphase setzte der deutsch-französische Mechanismus in der Währungspolitik (Frédéric Bozo) und der Verteidigungspolitik (Frederike Schotters) ein.
Die Veränderungen Mitte der 1980er Jahre wirkten sich allerdings nicht nur auf die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten, sondern auch auf andere Nationalstaaten aus. Das betraf zum einen Portugal und Spanien, die nach dem Ende der autoritären Regime von Salazar und Franco in den 1970er Jahren demokratische Strukturen aufgebaut hatten und 1986 der Europäischen Gemeinschaft beitraten. Dies war insbesondere im spanischen Fall mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen verbunden (Marta Alorda, Alice Cunha). Auch in Österreich begannen innenpolitische Diskussionen um eine Mitgliedschaft in der EG, die (für die Zeitgenossen noch nicht absehbar) zum Beitrittsantrag nach dem Ende des Ost-West-Konflikts führen würden (Michael Gehler). In der Bundesrepublik Deutschland führte die Europäische Integration zu einer tiefgreifenden Veränderung des föderalistischen Systems, die mit der Verfassungsänderung von 1992 deutlich wurde (Kiran Klaus Patel). In Italien zeigte das Referendum, das 1989 eine Weiterentwicklung der EG zu einer politischen Gemeinschaft anstrebte, den Wunsch nach strukturellen Veränderungen (Georg Kreis).
Insgesamt macht der Band deutlich, dass Mitte der 1980er Jahre ein tiefgreifender Wandel in Europa einsetzte. Er vereinigte Entwicklungen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene, wobei alle drei Ebenen eigenständigen Mustern folgten, sich aber trotzdem wechselseitig beeinflussten. Es ging hierbei nicht alleine um die Fragen von politischer Herrschaft, sondern auch um die Veränderungen im Bereich der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtung. Die Liberalisierung des Handels und die technischen Veränderungen (Digitalisierung) beschleunigten und intensivierten die transnationalen und internationalen Beziehungen. Es begann für die Europäische Gemeinschaft ein Veränderungsprozess, der sich auch in der schnellen Abfolge neuer Verträge zwischen der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) und dem Vertrag von Lissabon (2009) zeigte. Die Beiträge werfen die Frage auf, ob nicht dieser Zeitraum zwischen 1984/85 und 2009 als eigenständige Phase der Integration interpretiert werden muss. Sie ist gekennzeichnet durch einen intensiven und beschleunigten Wandel in politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Weitere Forschungen sollten sich daher auf die Verflechtung zwischen diesen Sektoren und ihre wechselseitige Beeinflussung konzentrieren.
Guido Thiemeyer