Rezension über:

Julia Becker / Julia Burkhardt (Hgg.): Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa (= Klöster als Innovationslabore; Bd. 9), Regensburg: Schnell & Steiner 2021, 464 S., ISBN 978-3-7954-3627-8, EUR 59,00
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Rezension von:
Annelen Ottermann
Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Annelen Ottermann: Rezension von: Julia Becker / Julia Burkhardt (Hgg.): Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa, Regensburg: Schnell & Steiner 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/35751.html


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Julia Becker / Julia Burkhardt (Hgg.): Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa

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"Klöster als Innovationslabore" - ein Reihen-Senkrechtstarter, dem hohe Verbreitung und eine Auszeichnung als verlegerische Glanzleistung zu wünschen ist! Seit Begründung der Reihe 2014 im Regensburger Schnell & Steiner-Verlag erschienen bisher neun Bände, im Zweijahresrhythmus, jährlich und 2020 sogar dreimal in einem Jahr.

Die Reihe erwuchs aus dem Verbundprojekt "Klöster im Hochmittelalter. Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle" der Heidelberger und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Ihr erklärtes Ziel ist es, "in Editionen und Darstellungen [zu erschließen], wie Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt Innovationen durch Deuten und Gestalten schufen." [1]

Nach den bereits vorliegenden Rezensionen der Bände 4, 6 und 7 in den sehepunkten [2] gilt es nun, Band 9 vorzustellen. Er wurde herausgegeben von Julia Burkhardt, Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der LMU München, deren Habilitationsschrift im Vorjahr als Band 7 der Reihe erschien, und von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin im Heidelberger Akademieprojekt "Klöster im Mittelalter" Julia Becker, die auch bereits den vorausgegangenen Band edierte. Beide zeichneten auch für die der Publikation zugrunde liegende Heidelberger Tagung "Kreative Impulse und Innovationsleistungen religiöser Gemeinschaften im mittelalterlichen Europa" 2019 verantwortlich. [3]

Der Zuschnitt des Sammelbandes ist interdisziplinär und international. Ein Blick auf die wissenschaftliche Beheimatung der an Universitäten und Institutionen in Deutschland, Österreich, Belgien, der Schweiz, Frankreich, Italien, der Tschechischen Republik und Indiana (USA) arbeitenden Autoren (hierzu hätte man sich am Schluss ein Verzeichnis mit CVs gewünscht) lässt das allen gemeinsame Interesse am Spätmittelalter, deutliche Schwerpunkte im Bereich der Frömmigkeits- und Ordensgeschichte, aber auch individuelle Ansätze in Kunst- und Architekturgeschichte, sozial- und wirtschaftshistorischen Fragestellungen und der Geschlechterforschung erkennen.

Die beiden Herausgeberinnen eröffnen mit einer umfassenden Einführung, mit der sie einen Überblick zu den Innovations- und Transferleistungen religiöser Gemeinschaften bieten und Erläuterungen zum Aufbau des Bandes geben.

In vier Sektionen schließen sich 16 Aufsätze an, die das programmatische Generalthema der Reihe in unterschiedlichen Akzentuierungen vertiefen.

Sektion I geht der Frage nach Auslösern und Impulsgebern innovativer Leistungen durch das Charisma mendikantischer und eremitischer Persönlichkeiten und über inspirierende Strömungen zwischen klösterlichem und säkularem Sektor nach. Neben biographischen Einzelstudien ist der Beitrag der Mediävistin Annick Peters-Custot aus Nantes zur Inspirationskraft des italienisch-griechischen Mönchtums auf die monastischen Reformen der lateinischen Welt hervorzuheben. Der als "transkulturelle[r] Kontrapunkt" (S. 17) annoncierte, unstrittig kluge Essay des Heidelberger Religionswissenschaftlers Axel Michaels zur hinduistischen Askese wirkt in diesem Kontext gleichwohl fremd.

Die Beiträge der zweiten Sektion analysieren die Äußerungsformen klösterlicher Innovationen unter technischen, wirtschaftlichen und architektonischen Aspekten und leisten damit eine deutliche Binnendifferenzierung. Hier findet sich zusätzlich zu drei lokalen, regionalen und ordensspezifischen Untersuchungen ein Essay von grundsätzlichem Zuschnitt: die Überlegungen des Kieler Historikers Oliver Auge zum kreativ-innovatorischen Potential der klösterlichen Welt in den Bereichen von Technik und Ökonomie.

Die unter der Überschrift "Netzwerke und Gemeinschaftsbildung" versammelten Texte in Sektion III zeigen eindrücklich, dass das heutigen Forschern selbstverständliche 'Networking' mutatis mutandis bereits im Spätmittelalter eine entscheidende Rolle für die von innen nach außen wirkende Strahlkraft und das Behauptungsvermögen religiöser Gemeinschaften sowie deren Wahrnehmung jenseits der Klostermauern spielte. Den exemplarischen Untersuchungen zu einzelnen Ordensgemeinschaften und der Situation in ausgewählten Landstrichen folgt erneut eine allgemeine Darlegung: Die Wiener Mittelalterhistorikerin Christina Lutter greift mit ihren "Verflechtungsgeschichten religiöser Gemeinschaften" einen ihrer Forschungsschwerpunkte auf, in dem sie die Interaktionen und Beziehungen zwischen Kloster, Stadt und höfischem Umfeld und deren wechselseitige Beeinflussung freilegt. [4]

Sektion IV schließlich nimmt die Macht der religiösen Gemeinschaften als Wissenszentren in den Blick. Die innovativen Impulse, die von ihnen im Hochmittelalter als Ratgeber und Wissensvermittler, in Ausbildung, Schulung des politischen Denkens, schriftstellerischer Tätigkeit und Kulturpolitik ausgingen, werden exemplarisch für den Hof der französischen Könige Karl V. und Karl VI. sowie des böhmischen Königs Karl IV. analysiert. In Prag sollten die Klöster bis zum Aufblühen der Universität am Ende des 14. Jahrhunderts die wichtigsten Orte des Wissens bleiben. Besonderes Augenmerk gilt auch den dynamischen Wechselwirkungen zwischen Welt und Kloster unter dem Aspekt der Teilhabe von Laien an religiösen Praktiken. Eva Schlotheuber, die Düsseldorfer Lehrstuhlinhaberin für Mittelalterliche Geschichte, übernimmt in dieser Sektion den souveränen Grundsatzessay mit "Überlegungen zu Wissenszugang und Selbstverständnis der Mönche und Nonnen im Mittelalter", in dem sie aus der Fülle ihres ordensgeschichtlichen Wissens schöpfen kann.

Der Sammelband erfährt eine Abrundung durch die zusammenfassende Schlussbetrachtung von Mirko Breitenstein und Jörg Sonntag zur Schubkraft, die von der vita religiosa im Innovationskreislauf ausging. Die beiden Historiker aus der Dresdener Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte waren beide maßgeblich auch im erwähnten Verbundprojekt tätig.

Der vorgestellte Band setzt die herausragende Qualität der Reihe fort. Dies gilt für die spürbar waltende Umsicht und Erfahrung der Herausgeberinnen, das überzeugende inhaltliche Konzept mit markanten Grundaussagen und einer klaren Gliederung in konsistente Themenbereiche sowie eine hilfreiche Lese- und Benutzungsunterstützung durch gelungene Einführung und Schlussbetrachtung und die von Isabel Kimpel vorbildlich erarbeiteten Namens- und Ortsregister.

Es gilt gleichermaßen für sein äußeres Erscheinungsbild, das von großer verlegerischer Sorgfalt zeugt. Die hohen ästhetischen, typographischen, illustratorischen und bindetechnischen Ansprüche, die Schnell & Steiner durchgängig zum Maßstab seiner Publikationen macht, bestätigen sich auch hier und finden ihren Ausdruck in der Gesamtgestaltung. Erwähnung verdienen die angenehme Haptik des matten Bilderdruckpapiers, hochwertige farbige Vorsätze, der ausgewogen-harmonische, lesefreundliche Satzspiegel, die Qualität der Farb- und s/w-Illustrationen und die geschickte Bildauswahl aus dem höfischen Roman "Pontus und Sidonia" für das Cover des stabilen Einbands. Das Motiv der Heidelberger Überlieferung aus der Werkstatt Ludwig Henfflins [5] leistet eine hervorragende Visualisierung eines der Grundanliegen des Sammelbandes.

Eine in jeder Hinsicht wegweisende, nachhaltige Publikation; ein gelungenes, ein stimmiges, ein wichtiges - und nicht zuletzt: ein schönes Buch!


Anmerkungen:

[1] https://www.schnell-und-steiner.de/artikel_8288.ahtml?NKLN=12_RSA [30.6.2021].

[2] http://www.sehepunkte.de/2018/07/31053.html; http://www.sehepunkte.de/2021/02/34489.html; http://www.sehepunkte.de/2021/04/34268.html [30.6.2021].

[3] Cf. dazu den Tagungsbericht von Isabel Kimpel: H-Soz-Kult, 30.03.2019, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8196?title=kreative-impulse-innovations-und-transferleistungen-religioeser-gemeinschaften-im-mittelalterlichen-europa&recno=1&q=Kreative%20Impulse%20und%20Innovationsleistungen%20religi%C3%B6ser%20Gemeinschaften%20im%20mittelalterlichen%20Europa&sort=newestPublished&fq=&total=1 [30.6.2021].

[4] Cf. dazu: https://viscom.ac.at/project-team/late-medieval-central-europe/christina-lutter [30.6.2021].

[5] UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 142, fol. 41v: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg142/0088 [30.6.2021].

Annelen Ottermann