Jana Osterkamp: Vielfalt ordnen. Eine föderale Geschichte der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918) (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum; Bd. 141), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, X + 531 S., 20 s/w-Abb., 10 Tbl., ISBN 978-3-525-37093-3, EUR 70,00
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Ob die Habsburgermonarchie mittel- bis langfristig Bestand gehabt hätte, wäre der Erste Weltkrieg nicht - von ihren eigenen Machteliten - entfesselt und verloren worden, gehört zu den geläufigen Themen kontrafaktischer Geschichtsdeutung. Interpretationen, die einer Teleologie des Nationalen folgen und dem sprichwörtlichen "Vielvölkerreich" daher eher wenig Entwicklungspotential attestieren, haben in den letzten Jahrzehnten an Plausibilität eingebüßt. Die Dynamik gesellschaftlicher und politischer Aushandlungsprozesse spricht dann, wie etwa Peter Judson herausgearbeitet hat, für die Zukunftsfähigkeit der späten Habsburgermonarchie. Die Suche nach den Faktoren, die dabei hilfreich hätten sein können, um die Weiterentwicklung zu ermöglichen, bildet geradezu einen Topos der Habsburgforschung.
Die Frage nach einer Restrukturierung der Habsburgermonarchie beschäftigte schon in den Jahrzehnten vor dem Untergang des Reiches die Zeitgenossen. Auch Wissenschaftler setzten sich intensiv damit auseinander, vor und nach 1918. Staatsrechtliche Perspektiven spielten dabei eine zentrale Rolle. Robert A. Kanns Studie zur Reichsreform ist ein klassisches Beispiel dafür. Die dezentralen Elemente der politischen Struktur Österreich-Ungarns waren dabei immer von besonderer Bedeutung. In der neueren Forschung zur Geschichte der Habsburgermonarchie ist dies zwar auch der Fall, aber eine systematische Darstellung der Realverfassung auf den Fluchtpunkt des Föderalen hin fehlt.
Hier setzt Jana Osterkamp mit ihrer Studie an. Das Ordnen der Vielfalt - an Sprach- und Glaubensgemeinschaften, ökonomischen Strukturen, politischen Traditionen - in der Habsburgermonarchie seit 1815 untersucht sie als "föderale Politik- und Herrschaftsgeschichte" (3). In Abgrenzung von den staatsrechtlichen Diskursen des 19. Jahrhunderts, die um die Verortung von Souveränität kreisten, stellt Osterkamp im Einklang mit neueren Ansätzen der Föderalismustheorie die Mehrstufigkeit von Herrschaftsordnung in den Mittelpunkt ihres Begriffsverständnisses. Sie nimmt auch die Zusammenhänge und Überlagerungen einer so verstandenen föderativen Ordnung mit imperialen Aspekten und einer als Aushandlungsprozess aufgefassten Staatlichkeit in den Blick.
Die aktuelle Föderalismustheorie, auf die sich Osterkamp bezieht, verdankt der Beschäftigung mit der Europäischen Union wichtige Impulse. Wie es in der neueren Habsburgforschung nicht selten der Fall ist, spielt auch bei Osterkamp für die Bewertung der Chancen und Belastungen, denen sich das Kaiserreich Österreich bzw. die "Doppelmonarchie" Österreich-Ungarn gegenübersah, der Bezug zur politischen Ordnung Europas durch die Europäische Union mit: "In der föderalen Geschichte der Habsburgermonarchie lesen wir daher eine Vorgeschichte des heutigen Europa." (18)
Der Bogen der Untersuchung ist weit gespannt und die immerhin rund einhundert Jahre analysierende Studie steht auch auf einem breiten und soliden Quellenfundament. Osterkamp stützt ihre Darstellung auf eine Vielzahl zeitgenössischer Debattenbeiträge in der Publizistik und in den Parlamenten oder auch staatsrechtlicher Abhandlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Einige Kapitel beruhen außerdem auf bislang kaum intensiver beachteten Archivbeständen, so beispielsweise der Abschnitt über die galizischen "Petitionsstürme" 1848/49.
Als Einstieg in die Analyse der historischen Entwicklung wählt Osterkamp das "Völkermanifest" Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918. Es bildete den Abschluss einer ganzen Reihe von Versuchen, die Habsburgermonarchie gegen Ende eines verlustreichen und letztlich erfolglosen Krieges vor dem Zerfall zu bewahren. Noch einmal tauchten Topoi auf, die im politischen Diskurs und in der politischen Praxis des Imperiums in den Jahrzehnten davor wichtig gewesen waren, vom Nationalitätenbundesstaat über einen Umbau des Dualismus und die Personalautonomie bis hin zum Kronländerföderalismus.
Osterkamp geht in ihrer Darstellung nicht streng chronologisch vor, aber ihre analytischen Zugriffe fügen sich doch weitgehend einer zeitlichen Abfolge ein. Zunächst gibt sie einen Überblick über "Herrschaftsvielfalt im Vormärz", Territorialisierung, Räume, Zugehörigkeiten. Der Abschnitt über den "Verwaltungsförderalismus" ist zeitlich breit gespannt, reichen doch die Vorhaben und Ansätze einer administrativen Verklammerung des vielgestaltigen Reichs vom frühen Vormärz bis zum Ausgleich. Ganz auf die Jahre der Revolution von 1848/49 sind dagegen die Kapitel zu den Bemühungen um einen Nationalitätenbundesstaat, den Vielvölkerföderalismus, sowie zu den galizischen Petitionen konzentriert, bei denen es um die Teilung des Kronlandes in einen ruthenischen Osten und einen polnischen Westen ging. Die recht kurzlebigen Verfassungsexperimente 1849 und 1860/61 und ihr rasches Scheitern 1851 bzw. 1865 behandelt Osterkamp als Versuche einer Restrukturierung im Sinne eines Föderalismus der historischen Kronländer.
Für die Jahre ab 1867 nimmt Osterkamp die unterschiedlichen Strukturebenen und deren Interdependenzen in den Blick, die seit dem Ausgleich die Habsburgermonarchie prägten. Die Verbindung von Vielfalt und Gemeinsamem wird auch heute gerne mit der Metapher des Hauses begreiflich gemacht. Osterkamp nutzt dieses Sprachbild zur Veranschaulichung der Situation nach 1867. Das konföderative Doppelhaus aus den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern und den Ländern der Stephanskrone wurde von den Zeitgenossen, je nach politischer Agenda, ganz unterschiedlich bezeichnet, als Personalunion in Ungarn, als Realunion in Österreich. Während in Ungarn nur Kroatien-Slawonien einen Sonderstatus besaß, kam es innerhalb einiger Kronländer Österreichs das Bestreben, nationale Gegensätze durch innere Föderalisierung, "föderale Eigenheime", zu entschärfen.
Worauf Osterkamp aber bei der Betrachtung der österreichischen Kronländer besonderes Augenmerk richtet, sind die Ansätze zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und zwar nicht nur durch die einzelnen Kronländer, sondern auch durch deren Zusammenarbeit. Dieser Hinweis auf Möglichkeiten und Grenzen eines "kooperativen Imperiums" macht zusammen mit dem sich anschließenden Kapitel zur föderalen Finanzordnung den Erkenntnisgewinn besonders deutlich, den die von Osterkamp konsequent verfolgte Perspektive auf die föderale Praxis in der Habsburgermonarchie ermöglicht.
Die Abschnitte zu den Reformüberlegungen in den letzten Friedensjahren und während des Ersten Weltkriegs runden die Untersuchung ab. Hier ist es Osterkamp gelungen, den Kontext des "Thronwechselprogramms" von 1914 aus dem Umfeld Erzherzogs Franz Ferdinand genau zu rekonstruieren. So kann sie zeigen, wie eng die Reformüberlegungen in den letzten Regierungsjahren Kaiser Karls an Pläne seines Onkels anknüpften. Aber sie kamen, wie bereits im ersten Kapitel nach der Einleitung von Osterkamp demonstriert, zu spät: "Karls Völkermanifest, mit dem dieses Buch beginnt, traf nicht mehr den Ton, um im alten Imperium der Habsburger die Nationen und ihren Nationalismus mittels einer föderalen Neuordnung zu versöhnen." (412)
Das "Legitimitäts- und Loyalitätsfundament" der Habsburgermonarchie erwies sich als zu "fragil" (415). Dennoch, so kann Osterkamp resümieren, war sie jahrzehntelang ein einzigartiges Experimentierfeld für das Ordnen von Vielfalt in Theorie und Praxis. Es gelingt Osterkamp, die Voraussetzungen und die Entwicklungsdynamik des Föderalen in der Geschichte der späten Habsburgermonarchie klar herauszuarbeiten und damit viele Stufen der Verfassungs- und Politikgeschichte in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Besonders in den Abschnitten zur Kooperation der Kronländer Österreichs und zur föderalen Finanzordnung wird das innovative Potential von Osterkamps Ansatz offensichtlich. Ihr Buch leistet damit insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Debatte über die Entwicklungschancen der Habsburgermonarchie und über deren besondere Bedeutung für die Narrative europäischer Geschichte.
Günther Kronenbitter