Dieter Langewiesche: Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2020, 112 S., ISBN 978-3-520-90005-0, EUR 19,90
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"Dieses schmale Buch erzählt eine andere Geschichte" - so kündet der Autor es programmatisch an, und was er dann auf 118 Seiten vorlegt, mutet an wie ein historiographisches Manifest, das die Bilanz eines langen Forscherlebens zieht. Es rückt das Problem deutscher Nationswerdung im Besonderen und nationaler Staatsbildung im Allgemeinen in den Mittelpunkt. Es ist keineswegs das einzige, wohl aber ein dominierendes Themenfeld Langewiesches, worin er eine Standortbestimmung gegenüber den bedeutenden Synthesen zur deutschen Geschichte, den sogenannten großen "Meistererzählungen", vornimmt, welche die breitere Öffentlichkeit vor allem mit den Namen Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler verbindet.
Man kann in diesem Manifest durchaus das Plädoyer für einen Paradigmenwechsel sehen oder, wie der Autor sich ausdrückt, für einen "anderen Blick auf die deutsche Geschichte". Es ist die Absage an jegliche Art von Teleologie, der zufolge die Entwicklung in der "Longue durée" seit dem Mittelalter auf den 1871 begründeten und dann in der Bundesrepublik Deutschland vollendeten deutschen Nationalstaat hinauslaufe. In der Sicht der Zeitgenossen und auch des Autors war 1871 im Gegenteil ein "Geschichtsbruch". Er fragt nicht nach einer Teleologie, sondern nach einem Kontinuum über den "Geschichtsbruch" hinaus: es ist das "föderative Grundmuster der deutschen Geschichte", dem der Nationalstaat 1871 quasi aufgepfropft wurde. Das ist folgerichtig zugleich eine Absage an jeglichen deutschen "Sonderweg" gegenüber der angeblichen "Normalität" des "Westens" sowie an die immer noch - bevorzugt in Geschichtsbüchern und der meinungsbildenden Journalistik - vorherrschende preußenzentrierte Geschichtspädagogik.
Der Autor entwickelt in einem großen zeitlichen Bogen zunächst das Konzept der "föderativen Nation" bis 1871 (Kapitel 1-3) und gelangt dann mithilfe dessen zu einer Revision des traditionellen Bildes vom Deutschen Kaiserreich, dem vermeintlich verpreußten, zentralistischen Bismarckreich (Kapitel 4). Sein Blickwechsel auf die Nation hat dabei viele Konsequenzen für grundlegende wertende Geschichtskategorien. Das Alte Reich und sein Erbe erscheinen nicht mehr als "Mythenkäfig" und "Bürde", als Gehäuse für "Partikularismus" oder Zersplitterung, als ein Flickenteppich und deshalb überholt und fortschrittswidrig, weil nicht zukunftsfähig, und die Deutschen gelten auch nicht mehr als "verspätete Nation" (Helmuth Plessner). Und der Föderalismus - in alter Redeweise der "Partikularismus" - habe nach seiner These alle Geschichtsbrüche (1871 / 1918 / 1945 / 1990) überlebt, indem er paradoxerweise nicht als Gegenpol zu staatsnationaler Einheit fungierte, sondern sich "zu den wirksamsten Kräften politisch-gesellschaftlicher Integration in einen Nationalstaat" entwickelte (21).
Sein Blick zurück auf die Anfänge der deutschen Geschichte stellt auch das bisherige Bild auf den Kopf: nicht aus dem "Volk" folgte der Staat, sondern die Herrschaftsbildung ging der Ethnogenese voran. Ein darstellerisches Kabinettsstück ist die auf knappstem Raum verdichtete Darstellung der Vielgliedrigkeit und Entwicklungsdynamik der Alten Reiches bis 1806, die Gegenpositionen innerhalb der Forschung einschließend. Stärken und Schwächen dieses komplexen historischen Gebildes werden ohne Idealisierung freigelegt. Konsequenterweise erhält der Deutsche Bund als Nachfolgeorganisation seit 1815 auch eine Berechtigung in diesem föderalen Geschichtsbild, freilich aber nicht mit der Behauptung einer verpassten Chance zum realisierten andersartigen Nationalstaat. Zu Recht wird die - eben nicht restaurative - Rolle des Wiener Kongress-Systems und des Deutschen Bundes in der Festschreibung des Erbes der "territorialen Revolution" von 1803 bis 1815 betont. ("Vernichtung und Aufbau war[en] ein Gemeinschaftswerk von Revolutionären und Monarchen", 59), wobei die komplexe föderative Verfassungskonstruktion nach 1815 "der Reaktion" im Innern Grenzen setzte. Neu ist der Blick, den von Preußen seit 1833 vorangetriebenen Zollverein nicht als Antipoden zum Deutschen Bund zu bewerten, sondern als Verstärkung des Bundesföderalismus auf wirtschaftspolitischer Ebene.
Die Revolution 1848/49 wird hier erstmals in der fragwürdigen Stringenz ihrer in Frankfurt und Wien erarbeiteten Verfassungskonstruktionen betrachtet, d.h. der Autor spielt in Gedanken die Österreich-Problematik in der damaligen historischen Realität einmal konkret durch und stößt bei der angestrebten Staatsbildung auf Unvereinbarkeiten, um die wegen der Niederschlagung der Revolution durch preußische, österreichische und russische Truppen die verhinderten Parlamente nicht mehr streiten konnten. Das Potential zu kriegerischen Konflikten zwischen den konkurrierenden Nationalitäten innerhalb und außerhalb "Deutschlands" steht dabei außer Frage.
Die Forschung zum Deutschen Bund hat inzwischen durch das Münchner Akademie-Projekt viel Auftrieb bekommen. Die zutage geförderten Bundes-Quellen und Zeitpublizistik nimmt Langewiesche zum Anlass, die Inhalte des Nationsbegriffs für die 1840er Jahre genauer zu betrachten; er erkennt in den zeitgenössischen Diskursen den Willen, den Bund als Objekt der Hoffnung auf eine nationale Einheit im Gehäuse der Mehrstaatlichkeit zu begreifen. Er relativiert damit das vermeintlich allein gültige Leitbild der zentralstaatlichen Nation und behandelt es als eine Option unter verschiedenen Möglichkeiten, besonders, wenn man die Attraktivität der konkurrierenden Föderativnation parallelisierte mit den damals realisierten Modellen der Eidgenossenschaft oder der Niederlande. Bei genauer Betrachtung erweist sich der Deutsche Bund ebenso im Diskurs wie in der realen Politik als "zu den Kräften der inneren Staatsbildung" gehörig (58), aber auch als strukturbildender Teil der mitteleuropäischen Geschichte.
Um es argumentativ zu pointieren, nimmt der Autor sich aus der Reihe der oft verächtlich als "Bismarcks Zaunkönige" verhöhnten Kleinstaaten einen heraus - Sachsen-Weimar-Eisenach -, um ihn als Paradigma einer Staatengeschichte von unten zu behandeln. Um die eigene Staatlichkeit zu retten, ging Carl August 1816 mit einer Verfassung voran - in der Hoffnung, den eigenen Staat zu retten, indem er die Gemeinsamkeiten der anderen deutschen Staaten teilte und die Verfassung als Legitimation und Ausweis des Fortschritts benutzte.
In dem vierten Kapitel über "Nation und Nationalstaat seit 1871" wird für das Deutsche Kaiserreich einmal nicht die beliebte Perspektive "Top down" gewählt, sondern konkret dargelegt, wie durch das föderative Prinzip Kommunen, Landesebenen und Zentralgewalt verschränkt wurden, indem die Standardisierungen der Maße, Währung, des Rechts, der Steuern und kultureller Inhalte alle Ebenen durchdrangen. Bemerkenswert ist dabei die Feststellung, dass gerade Konkurrenz und Konflikt auf föderativem Feld die Integration in das anfangs bei Vielen ungeliebte Reich bewirkten und die Unitarisierung durchbrachen. Die These vom "Konkurrenz- und Wettbewerbsföderalismus" lenkt den Blick auf den wenig gesehenen Vorgang, wie die gesamtstaatlichen Vorgaben in den Einzelstaaten und selbst in den Kommunen unterschiedlich intensiv vorangetrieben wurden. Gleiches gilt für die fundamentalen Konflikte des Kulturkampfs und des Sozialistengesetzes, die letztlich zur politischen Integration der Katholiken und Sozialdemokratie in den Gesamtstaat führten. Gleiches lässt sich für die nationalen Minderheiten und Juden beobachten. Allerdings scheint dem die These zu widersprechen, dass auch die radikalnationalen und völkischen Organisationen und Bewegungen zur inneren Nationsbildung gehört und integrierend gewirkt hätten (93), hatten doch gerade Gruppierungen wie die Alldeutschen, die Antisemiten, der Ostmarkenverein usw. zur Ausgrenzung und zur Desintegration der Gesellschaft beigetragen, so dass sich z.B. der zionistische Teil der Juden nicht mehr in dem Reich, das sie doch eigentlich emanzipiert hatte, repräsentiert fühlten.
Der im Reich verankerte Föderalismus erwies sich - besonders durch die Rolle des Bundesrats und fehlende Zentralregierung - freilich auch als eine "Parlamentarisierungsblockade", was spätere Verfassungsstifter wie Theodor Heuss als einen schwerwiegenden Mangel der Reichsverfassung ansahen und für künftige Verfassungen vermieden sehen wollten.
Dieses "Büchlein" ist so reich an Gedankenanstößen, neuen Zuordnungen und Schlussfolgerungen, dass man es mehr als einmal zur Hand nehmen sollte. Dieser noch längst nicht hinreichend wahrgenommene neue Horizont der nationalen Geschichte sollte endlich auch zu den Lehrenden an Gymnasien, in die Lehrpläne und Schulbücher durchdringen. Es könnte helfen, die Grundannahmen in den überkommenen - oder soll man besser sagen: überholten? - Meistererzählungen mit ihren Suggestionen, Ausblendungen und ihren teleologischen Eindimensionalitäten durch einen neuen, eben "einen anderen Blick", auf die deutsche Geschichte abzulösen.
Wolfram Siemann