Rezension über:

Silke Mende: Ordnung durch Sprache. Francophonie zwischen Nationalstaat, Imperium und internationaler Politik, 1860-1960 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 47), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, 488 S., ISBN 978-3-11-065236-9, EUR 59,95
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Rezension von:
Christoph Kalter
University of Agder
Empfohlene Zitierweise:
Christoph Kalter: Rezension von: Silke Mende: Ordnung durch Sprache. Francophonie zwischen Nationalstaat, Imperium und internationaler Politik, 1860-1960, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35247.html


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Silke Mende: Ordnung durch Sprache

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In ihrem zweiten Buch hat sich Silke Mende, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte in Münster, viel vorgenommen - und viel erreicht. Sie betrachtet ein Jahrhundert französischer Sprachpolitik, von den eifrigen Schulpolitikern und Kolonialexpansionisten der Dritten Republik über die Etappenniederlagen des Französischen als Sprache der Diplomatie nach zwei verheerenden Weltkriegen bis hin zum Zusammenbruch des Kolonialreichs in der Fünften Republik. Nicht zuletzt diese langen Linien machen ihr Buch zu einer spannenden Lektüre. Der Text basiert auf ihrer 2018 in Tübingen angenommenen Habilitationsschrift. Trotz ihrer bewusst frankozentrischen Perspektive hat Mende keine eng gefasste Geschichte der Francophonie als eines Konglomerats nationaler Institutionen, Politiken und Befindlichkeiten vorgelegt - auch wenn sie Leserinnen und Leser über all diese Aspekte kompetent informiert. Sie deutet Frankreichs Sprachpolitik zwischen 1860 und 1960 als spezifisch republikanisches "Projekt der Normverbreitung und Normdurchsetzung" (4), das zugleich nach innen und außen und erst im "Wechselspiel zwischen dem französischen Nationalstaat, seinem Imperium und der Ebene des 'Internationalen'" (11) wirksam wurde. Sie zeigt, wie jene Eliten, die ihre vermeintlich rationale und moderne Sprache als Geschenk Frankreichs an die Welt betrachteten, eine dynamische, zugleich über Jahrzehnte hinweg stabile Verflechtung sprachpolitischer Institutionen und Ideen stifteten. Silke Mende führt uns unter anderem in die laizistischen Elementarschulen des ländlichen Frankreich; sie erkundet ein blühendes bürgerliches Vereinswesen zur Sprachpflege mit Pariser Schwerpunkt, aber interkontinentalem Netzwerk; sie zeigt uns den Platz der Francophonie im grenzübergreifenden Projekt der Sprachwissenschaften im Hochimperialismus; sie analysiert die Kontinuitäten der selbsterteilten Zivilisierungsmission in Frankreichs Völkerbundmandat Syrien-Libanon; und sie schildert die Rückzugsgefechte französischer Sprachpolitiker in den Versailler Friedensverhandlungen oder im Zweiten Weltkrieg.

Silke Mendes Studie ist im Gespräch mit mehreren Forschungsfeldern. Dazu zählen die Historiografie zu Sprachpolitik und Kulturdiplomatie als soft power, die Versuche, internationale Geschichte aus dem Korsett einer staatszentrierten Diplomatiegeschichte zu befreien, oder die gewiss nicht mehr neue, aber immer noch überzeugende new imperial history, die Frankreich analytisch als imperial nation-state (Antoinette Burton / Gary Wilder) fasst. Daraus ergibt sich auch, noch spezifischer, Mendes Beitrag zur Diskussion über die République coloniale, also über die Frage, wie die Spannung zwischen universalistischem Sendungsbewusstsein und partikularer, ja rassistischer Herrschaftspraxis nicht mehr als Widerspruch, sondern als eigentliches Charakteristikum der französischen Geschichte im Untersuchungszeitraum gedeutet werden kann.

Doch natürlich kommen auch diejenigen auf ihre Kosten, die aufgrund des Schlagworts Francophonie zu diesem Buch greifen. Der Begriff selbst, 1880 erfunden vom Kolonialgeographen Onésime Reclus, bezeichnet heute ein formal etabliertes, für viele aber "belächelnswertes Politikfeld" (5), konstituiert von einer Reihe seit den 1960er Jahren entstandener Institutionen, die seit 1997 in der Organisation Internationale de la Francophonie (OIF) zusammengefasst sind. Doch Mende zeigt: Die Geschichte dieses Politikfeldes reicht weit zurück, und mehr noch: die eigentliche Hochphase der Francophonie als ordnungspolitischem Instrument müssen wir im sprachpolitischen Dispositiv suchen, das sich als "Francophonie républicaine" (149) im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts konstituierte. Dieses Dispositiv - für Silke Mende nun nicht mehr Vorgeschichte, sondern die eigentliche Geschichte der Francophonie -, findet hier seine erste Biografin; keine andere Studie ist der vorliegenden in Umfang, systematischer Analyse oder Quellensättigung vergleichbar. Zugleich leistet Mende mehr, als eine Forschungslücke zu schließen. Ihr geht es um den "staatlichen Zugriff auf Sprache sowie mittels Sprache auf Gesellschaft und Bevölkerung" (81 f.) oder, abstrakter noch, um die machtpolitischen Interessen, für die Sprache im beginnenden "Zeitalter der Territorialität" (Charles Maier) "eine wichtige Komponente bei der Erschließung, Kontrolle und Durchdringung von Territorium sowie der Organisation von Verwaltung" (432) darstellte.

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Der erste skizziert zunächst die Vorläufer seit der Frühen Neuzeit, dann die Schwellenzeit der Francophonie républicaine in den 1880er Jahren. Das Argument lautet, dass Ausdifferenzierung und Verzahnung von staatlichem Handeln, Wissenschaft und zivilgesellschaftlicher Initiative eine neue Sprachpolitik hervorbrachten, deren Institutionen und Denkfiguren mächtige Pfadabhängigkeiten schafften. Wie dieses frankophone Dispositiv seit Ende des 19. Jahrhunderts bis an die Schwelle des Zweiten Weltkriegs ausgestaltet wurde, ist Gegenstand des zweiten Teils. Hier geht es um imperiale Sprachpolitik im Libanon und Syrien, um Französisch als internationale Sprache - in Abgrenzung nicht nur zu Plansprachen wie Esperanto, sondern vor allem auch zum Englischen -, sowie um die Frage, wie Sprachkompetenz nicht nur in kolonialen, sondern auch metropolitanen Kontexten zunehmender Einwanderung zum Werkzeug wurde, um fremde Bevölkerungsgruppen zu integrieren, zu assimilieren - oder auszugrenzen. Ein spannendes Kapitel beleuchtet den sprachpolitischen Wettbewerb zwischen de Gaulles Freiem Frankreich und Pétains Vichy-Frankreich; nur das letzte Jahrzehnt des Untersuchungszeitraums, dasjenige intensiver Auseinandersetzungen um Frankreichs Dekolonisierung in den 1950er Jahren, wird leider kaum behandelt.

Die Kapitel sind detailreich, doch wer nicht alles lesen will, dem bieten eine klare Gliederung und konzise Zusammenfassungen gezielten Zugriff. Vor allem aber: Die Details sind eben auch ein Reichtum, der die Autorin zu differenzierten Urteilen führt und ihr zudem erlaubt, jedes Kapitel mit interessanten (und exzellent übersetzten) Quellenzitaten zu spicken. Die Aktenbestände des Völkerbundes sowie französischer Politiker und Ministerien (v.a. des Außenministeriums), die Zeitschriften von Vereinen wie der Alliance Française, der Mission Laïque Française oder Alliance Israélite Universelle und eine große Menge anderer gedruckter Quellen sind das Fundament der flüssig geschriebenen Arbeit, deren Autorin ihre stupende Literaturkenntnis zu sorgfältiger Kontextualisierung nutzt.

Nur zwei Kritikpunkte will ich kurz umreißen: Der erste betrifft Mendes Narrativ, das von der Entstehung eines (nach der Niederlage von 1871 bereits defensiv angelegten) sprachpolitischen Dispositivs alsbald zur Geschichte seines unaufhaltsamen Niedergangs fortschreitet. So sehr es einleuchtet, Frankreichs sprachpolitische Bemühungen auch als Spiegel des machtpolitischen Niedergangs des Landes im amerikanischen Jahrhundert zu deuten, so sehr hätte mich interessiert, welche konstruktiven Potenziale sich jenseits dieser Geschichte des Scheiterns ausmachen lassen (hier bleibt es bei Andeutungen z.B. zur UNESCO). Das würde auch bedeuten, die postkoloniale Geschichte seit den 1960er Jahren ernster zu nehmen, sie also gerade nicht als Nachgeschichte der eigentlichen Francophonie des 19. Jahrhunderts aufzufassen, sondern zu reflektieren, was Dekolonisierung mit der französischen Sprachpolitik - und der französischen Sprache - gemacht hat, und inwieweit neue Akteurinnen oder Akteure des globalen Südens europäische Idiome und Sprachpolitiken fortgeführt, aber auch dezentriert haben.

Die zweite Nachfrage ist zweifelnder vorgetragen, zugleich grundsätzlicher: Ist Sprachpolitik nur eine spannende Ergänzung zur bereits geläufigen Geschichte republikanischer Nationalstaatsbildung und Kolonialexpansion, zur Versailler Nachkriegsordnung oder den années noires der Besatzungsherrschaft? Gewiss, Mende stellt überzeugend die Kontinuitäten der Sprachpolitik heraus, die französische Weltgeltungswünsche und Ordnungsvorstellungen über konventionelle Zäsuren der Politikgeschichte hinweg, aber auch über Lagergrenzen (Republikaner und Konservative, Laizisten, Katholiken und Juden) hinaus artikulierte. Auch überzeugt ihr Versuch, qua Sprachpolitik auf die Verflochtenheit internationaler, nationaler, und imperialer Geschichten zuzugreifen. Dennoch: Könnte Sprache, ähnlich wie Geschlecht oder Migration, auch eine Linse sein, durch die man nicht nur andere Facetten der bekannten Geschichten sieht, sondern substanziell andere Geschichten? Kann man die Relevanz von Sprachgeschichten für unser Fach noch genauer fassen? Sicher ist so viel: Silke Mendes Geschichte der Francophonie vor 1960 ist eine rundum beeindruckende Leistung. Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser sowie eine rasche Übersetzung - ins Französische oder vielleicht doch lieber, Ironie der Geschichte, ins Englische.

Christoph Kalter