Sebastian Knoll-Jung: Vom Schlachtfeld der Arbeit. Aspekte von Männlichkeit in Prävention, Ursachen und Folgenbewältigung von Arbeitsunfällen in Kaiserreich und Weimarer Republik (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 80), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 597 S., 20 s/w-Abb., 8 Tbl., ISBN 978-3-515-12972-5, EUR 88,00
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Was für Massaker: 72 verlorene Arme, 1.937 Verletzungen am Kopf und im Gesicht im Jahr 1887. Drei Jahre später 3.597 Tote und im Jahr 1900 5.108 Tote. Es handelt sich um Opfer auf dem "Schlachtfeld der Arbeit", wie Sebastian Knoll-Jung sein Buch überschrieben hat. Freilich handelt es sich dabei nicht um ein reißerisches Splatter-Buch, in dem das Blut nur so spritzt. Es ist vielmehr eine überzeugende, tief im empirischen Material verankerte Dissertation, die dadurch doch den einen oder anderen Grusel-Effekt zu Tage fördert. Etwa, wenn 1929 eine Berufsgenossenschaft berichtete, wie ein Arbeiter einem Lehrling mit Gewalt einen Pressluftschlauch mit sieben bar Druckluft in den After einführte: "da der Dickdarm völlig durchlöchert war, konnte auch eine Operation den Lehrling nicht mehr retten. [...] Der Täter wurde mit Gefängnis bestraft" (317f.).
Sexualisierte Gewalt gehörte nicht zu den häufigen Ursachen für Arbeitsunfälle. Gleichzeitig ist diese Straftat Teil einer verrohten Männerwelt - und um Männlichkeit und ihre Brüchigkeit durch Arbeitsunfälle geht es in Knoll-Jungs Dissertation ganz zentral. Sein Leitgedanke ist, "die konkreten Auswirkungen der Arbeitswelt auf den Arbeiterkörper vor dem Hintergrund der Industrialisierung am Beispiel der Arbeitsunfälle offenzulegen, die Auswirkungen der Implementierung der Unfallversicherung herauszustellen und Einflüsse auf die abhängigen Lohnarbeiter durch die Kategorie Männlichkeit in diesem Spannungsfeld zu verorten" (14).
Dieser Ansatz erfordert die Auseinandersetzung mit zahlreichen Forschungsfeldern. Knapp und souverän stellt der Autor die Themen vor, die von der Männlichkeitsforschung, der Alltagsgeschichte, Geschlechtergeschichte bis zur Arbeiter- und Körpergeschichte reichen. Das Konzept des Betriebs als soziales Handlungsfeld und - damit verbunden - praxeologische Ansätze geben den methodischen Untersuchungsrahmen. Die Breite der Ansätze ist dabei kein bloßes Sammelsurium an derzeit genutzten theoretisch-praktischen Prämissen, sondern auf Knoll-Jungs Ansatz abgestimmt.
In seiner Grundstruktur ist das Buch übersichtlich in fünf Hauptkapitel eingeteilt. Einführend werden Begriffe und der institutionelle Rahmen der deutschen Sozialpolitik und Unfallversicherung abgehandelt. Anschließend geht es um das "Gefahrenbewusstsein und Gefahrenverhalten" der Arbeiter. Das folgende Kapitel handelt Präventionsmaßnahmen ab. Danach untersucht der Autor Unfallerfahrungen und -ereignisse, ehe das abschließende umfangreichste Kapitel sich mit der Bewältigung der Unfälle auseinandersetzt. Unterhalb dieser übersichtlichen Struktur verliert sich die Darstellung gelegentlich in eine Vielzahl an Unterpunkten, um die umfangreiche Materialfülle in eine Struktur zur bringen. Insgesamt fügt sich aber die Darstellung zu einem Ganzen.
Mit der gesetzlichen Regelung von Entschädigung nach Arbeitsunfällen sahen sich die Unternehmen in der Pflicht, präventiv tätig zu werden. Der technische Unfallschutz wurde verstärkt, Vieles blieb noch in Ansätzen stecken; doch das Bewusstsein für Prävention als entscheidendem Mittel zur Unfallvermeidung stieg.
Mit der Frage nach den Unfallursachen verband sich zwangsläufig die Schuldfrage. Daher versuchten die Berufsgenossenschaften und Gutachter der Unfallversicherungen die Arbeitsunfälle zu kategorisieren. Bei mangelhaften Betriebseinrichtungen, fehlenden Anweisungen und Schutzvorrichtungen traf den Arbeitgeber die Schuld. Leichtsinn, Mutproben, derbe Späße, Unachtsamkeit, ungeeignete Kleidung führten zu einer Schuldzuweisung an die Arbeiter.
Hatte sich ein Unfall ereignet, mussten die Folgen bewältigt werden. Aus drei Blickrichtungen geht Knoll-Jung diese Aspekte an. Zum Ersten galt es, die Gesundheit der Verletzten wiederherzustellen. Unfallkrankenhäuser und Heilanstalten wurden dabei zwiespältig gesehen. Die Versicherungsträger sahen in ihnen sinnvolle Institutionen zu schneller und spezieller Hilfe. Die Unfallopfer dagegen nahmen sie oft als "Rentenquetschen" wahr, in denen ihre Gesundheit notdürftig wiederhergestellt wurde, um ihre Rentenansprüche zu kürzen.
Das führt zur zweiten Perspektive der Folgenbewältigung: die finanzielle Seite und Entschädigungspraxis. Im Vergleich zur Zeit vor Einführung der Unfallversicherung stellten die Unfallversicherungen eine deutliche Verbesserung dar. Auf der anderen Seite gehörte das "Hinauszögern der Schadensregulierung" wie das Überwachen, Kontrollieren und Nachbehandeln der Unfallrentner zum Standardrepertoire der Unfallversicherungen. Besonders perfide war das Argument der Gewöhnungseffekte, wonach die angebliche "Gewöhnung an den Verlust eines wichtigen Gliedes des menschlichen Körpers" vorgeschoben wurde, um Renten zu kürzen (444).
Hinter solchen Einschätzungen stand die zunehmende Bedeutung von ärztlichen Gutachtern, die sich auf ihre angebliche wissenschaftliche Objektivität zurückziehen konnten. In den "kommunikativen Praktiken" waren die Gutachten dagegen konfliktträchtig und führten zu oft langwierigen Verhandlungen. Dadurch dass die Gutachten die körperliche Versehrtheit im Arbeitsumfeld verorteten, konnten trotz anderslautender Männlichkeitsbildern wiederum Unfallrentner "Schwächen und Behinderungen als arbeitsbedingt rechtfertigen" (442). Politisch setzten die Arbeiterbewegungen auf ein Opfernarrativ, um auf das "Schlachtfeld der Arbeit" aufmerksam zu machen.
Die dritte Perspektive auf die Folgenbewältigung sieht Knoll-Jung in einer sozialen Dimension. Ein Arbeitsunfall ging mit dem zeitweisen oder dauerhaften Verlust der männlichen Ernährerrolle einher. Auf die Ehefrauen kam noch mehr Arbeit zu. Gleichzeitig musste die in Arbeiterhaushalten erhoffte (oder praktizierte) Idealvorstellung der nicht einer Lohnarbeit nachgehenden Hausfrau aufgegeben werden. Ansehensverlust war die Folge. Kam das Unfallopfer doch wieder zu Gelegenheitsarbeiten, war dies oft mit einem Statusverlust verbunden.
Abschließend weist Knoll-Jung darauf hin, dass es nach einem Unfall galt, das Überleben zu sichern. Auf Rollenbilder des starken Mannes konnte da nicht mehr rekurriert werden. Solche Männlichkeitsbilder seien dagegen bei den Unfallursachen auszumachen gewesen. Knoll-Jung zeigt hier allerdings noch einmal, dass es nicht die eine hegemoniale Männlichkeit, sondern unterschiedliche Arbeitermännlichkeiten gab. Das Spektrum der Verhaltensweisen reichte dabei von den (unter ökonomischem Zwang) unvorsichtig Handelnden bis zu den umsichtigen Familienvätern.
Knoll-Jung ist eine überzeugende Arbeit zur Unfallversicherung gelungen, die sich diesem Thema ganz aus der Akteursperspektive nähert. Angesichts der Vielzahl an Ansätzen gerät gelegentlich der Männlichkeitsaspekt etwas in den Hintergrund, aber als roter Faden ist er durchgehend zu erkennen. Es stellt sich die Frage, ob die Dissertation mit der Veröffentlichung nicht hätte gestrafft werden sollen. Andererseits wäre mehr Raum für die konkreten finanziellen Aspekte sinnvoll gewesen: Wie viel Geld bekamen die Unfallrentner? Wie ließ sich damit ein Haushalt finanzieren? Solche Brot- und Butter-Fragen hätten integriert werden können. Schließlich leuchtet die Einschätzung nicht ganz ein, dass die Arbeiterbewegungen sich mit dem Opfernarrativ zufrieden gaben: "Der Verlust der Arbeitsfähigkeit wurde zum individuellen Problem und nicht zum Klassenproblem" (556). Die von Knoll-Jung aus verschiedenen Arbeiterzeitungen zusammengetragenen Zitate sprechen meiner Meinung nach dagegen für die Instrumentalisierung der Unfallopfer unter klassenkämpferischen Vorzeichen.
Jürgen Schmidt