Chiara Santini: Adolphe Alphand et la construction du paysage de Paris, Paris: Éditions Hermann 2021, 350 S., ISBN 979-10-370-0375-1, EUR 32,00
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Chiara Santini legt mit ihrem umfangreichen Buch zu Adolphe Alphand, dem Techniker und Bürokraten hinter den Kulissen des Haussmannschen Paris, eine etwas andere Geschichte der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts vor. Folgt man der Verfasserin, verdankt sich das Erscheinungsbild von Paris im Zweiten Kaiserreich und der Dritten Republik weniger den Architekten, Dekorateuren und Bildhauern als einem Heer von Tiefbauingenieuren, Vermessern, Hydraulikern, Botanikern und Gartenbauern. Letztere legten unter der Leitung von Alphand Parks und Promenaden an und bepflanzten die Boulevards mit endlosen Baumreihen. Es entstand ein begrüntes Paris, eine Stadt der Flanerie, die als das Produkt einer kommunalen Administration bzw. eines technokratischen Apparats erscheint. Wiewohl Alphand an dessen Spitze stand und das Planungsgeschehen in seiner Person vereinte, wurde er, Santini zufolge, in der Forschung bislang vom Schatten des übergroßen Präfekten George-Eugène Haussmann verdeckt. Santini unternimmt es, ihren Protagonisten gleichsam aus dem Fußnotendasein in den Fließtext der Pariser Stadtbaugeschichte zu heben. Bemerkenswert an ihrem Ansatz ist, dass das neue Stadtbild von Paris von seinem Apriori, d.h. der technischen Tiefenstruktur her beschrieben wird. Es werden deshalb weniger Fragen der Repräsentationalität als Fragen der Gouvernementalität behandelt. Im Mittelpunkt steht also nicht so sehr die Macht der Bilder als die Macht der Strukturen, als deren wirkmächtige Unterströmungen Bürokratie und Technik identifiziert werden. [1] Es werden dabei jene Schnittstellen detektiert und aufgedeckt, an denen die Fäden der Macht und die sozialen Fortschrittsparadigmen des Jahrhunderts zusammenliefen, will heißen: Hygiene, Sicherheit, Komfort, Sittlichkeit und Egalität.
Während sich der erste Teil des Buches auf die Rekonstruktion der Lebens- und Karrieregeschichte Alphands fokussiert, wird im zweiten Teil der bislang weitgehend unbekannte Kontinent seiner Administration bzw. seines immensen Mitarbeiterstabs kartiert. Damit kombiniert Santini das, was man nicht erst seit dem Poststrukturalismus vorzugsweise trennt, nämlich Subjekt- und Strukturgeschichte. Gleichzeitig verliert sich die vielversprechende Perspektive in der empirischen Fülle, die das Buch beherrscht. Zu den systematischen Überlegungen, die dadurch nachgeordnet erscheinen, seien einige Bemerkungen erlaubt.
Alphand, der als Abgänger der École des ponts et chaussées für Frankreichs Funktionselite prädestiniert war, wurde 1854 von Haussmann als Leiter des neu eingerichteten Service des promenades et plantations berufen. Santini beantwortet ihre Ausgangsfrage, die sich Alphands Beitrag an den Planungen und Entwürfen der über 60 in seiner Amtszeit errichteten Park- und Grünanlagen widmet, negativ. Alphand habe Pläne als Projektverantwortlicher, nicht als Autor unterzeichnet. Das lässt sich insofern als eine Botschaft der Ernüchterung lesen, als der tradierte Begriff der Autorschaft wie auch jener des Werks hier den projektorientierten Kategorien von Planungsarbeit und Problemlösungsroutinen weicht. Santini, die sich der quellennahen Herausarbeitung der individuellen Seiten von Alphand und seiner Mitarbeiter verschreibt, geht es um die Verdrängung der Vorstellung vom (Künstler)Funktionär als eines Sozialtypus, wie ihn Haussmann in einem Passus seiner Memoiren idealiter auf Alphand gemünzt hatte. [2] Wer Haussmann indes aufmerksam liest, bemerkt, dass seine Auffassung davon, dass der Typus von Struktur den Typus von Akteur bedinge oder anders: Verwalten, Verhalten und Gestalten eine Trias bilde, die einem einzigen Regime unterstehe, nämlich jenem der instrumentellen Vernunft, ein besonders eloquentes Zeugnis für die machtförmig erpresste Aufrichtung von Ordnung ist, der sich das neue Paris verdankte.
Im Titel des Buches wird das Problem der Stadtlandschaft von Paris, Sozialität und Urbanität inbegriffen, als eine Frage des (technisch) Herstellbaren indiziert. Santini macht implizit klar, dass Stadt hier ein operativer Raum ist, dessen lineare Ordnungen eine strukturelle Entsprechung in den administrativen Operationsketten und technischen Steuerungsdispositiven haben. Das zeitspezifische Denken in Modellen ist allererst an den Boulevards samt ihrer Endlosfassaden und seriellen Ausstattung mit Laternen, Sitzbänken und Baumreihen nebst Ver- und Entsorgungssystemen ablesbar. Indem sich die Eingriffe nicht wie ehedem auf punktuelle Bereiche beschränkten, sondern zu einem Integral verschaltet und zu einem Netz gefügt wurden, entstand ein neuer öffentlicher Raum, dem im postrevolutionären Frankreich zumal die Aufgabe zufiel, das Soziale neu zu formatieren und zu formen. Systeme und Funktionen des Stadtraums sind das eine, das andere ist seine Materialität und Dinglichkeit, die Santini einprägsam als Schwund- und Abriebgeschichte erzählt. Mit der Diagnose, dass Park- und Straßenbäume im 19. Jahrhundert unter dem hohen Benutzerdruck weniger lebten als überlebten, wird die Janusköpfigkeit der nouvelle Paris enthüllt, wo der Eingemeindung der 'Natur' letztlich ihr Konsum folgte. Dass die neuen Stressfaktoren, obenan erhöhte Zirkulation und verdichtete Infrastruktur, selbst das Wurzelwerk der Bäume nicht verschonten, beschreiben emblematisch dessen Schäden, die Fuhrwerke von oben und poröse Gasleitungen von unten verursachten.
Santinis Interesse gilt im Näheren nicht den Boulevards, sondern den zahlreichen neuen Grünanlagen, die, indem sie neue Vorstellungen und Diskurse über den öffentlichen Raum als Bühne der Partizipativität generierten, das tradierte Stadtbild von Paris (als eines der großen Monumente und Plätze) auf den Prüfstand stellten. Einlässlich werden Parks, Squares und Promenaden auf ihren Sozialcharakter hin beschrieben. Ein den Alltag und das Identitätsgefühl der Stadt ausgesprochen prägendes Phänomen betraf den Umgang mit dem neuen 'grünen' Gemeingut. Das hierzu von Santini zusammengetragene Material zeichnet ein buntes Tableau, das vom Pflanzendiebstahl über die Belästigung von Parkbesuchern und Wachpersonal bis zur Vandalisierung der Grünanlagen reicht. Illustriert werden die ethischen Verhaltensdefizite der, wenn man so will, Analphabeten des öffentlichen Raums, deren Zivilisierung Alphands umfassende Begrünungs- und Möblierungskampagne von Paris galt.
Santini behandelt durchweg und doch mehr inhärent als explizit wesentliche Fragen des partizipativen Raums, des espace partagé, der das Gemeinsame bezeichnet, das man teilt bzw. zu teilen hat. Grundsätzlich folgen die Erörterungen der Vorstellung, dass Nutzungen in die Begrünung eingeschrieben sind und die Arrangements von Sitzbänken, Wegen und Einzäunungen damit ein Handlungs- und Erziehungsprogramm enthalten. Dieses bestimmt Santini primär text- und diskursorientiert. Dass ihre Durchforstung der Pariser Kommunalarchive sowie Gazetten- und Guidenliteratur des 19. Jahrhunderts nicht mit der üblichen kunsthistorischen Trüffelsuche zu verwechseln ist, erweist sich nicht zuletzt an negativen Befunden, die wichtige Einsichten bergen. Eine zentrale Diagnose betrifft Alphand, den vermeintlichen Verfasser der Handlungsskripte, die den öffentlichen Raum choreographierten. Santini zeigt auf, dass Alphand an dem berühmten, zweibändigen Folioband Les Promenades de Paris, erschienen 1867-1873, mit dem die Kunstgeschichte seinen Namen eng verbindet, keinerlei Autorschaft reklamieren darf. Denn Texte und Entwurfsillustrationen stammen von seinem engsten Mitarbeiterteam. Im Ergebnis regt Alphands vermeintlich unkonventionelles Œuvre ohne Werk an, entsprechende Perspektivverschiebungen in der Erforschung des Haussmannschen Paris vorzunehmen.
Anmerkungen:
[1] Zur Komplexität des facettenreichen Verhältnisses zwischen Verwaltung und Technik am Beispiel der Stadtbaugeschichte des 19. Jahrhunderts vgl. jüngst Christa Kamleithner: Ströme und Zonen. Eine Genealogie der 'funktionalen Stadt', Basel 2020.
[2] Haussmanns Passus ist durchaus verdächtig, dem Strukturalismus als locus classicus zu gereichen; vgl. Georges-Eugène Haussmann: Mémoires, hg. von Françoise Choay, Paris 2000, 869.
Salvatore Pisani