Markus Götz: "Hier ist Krieg". Afghanistan-Tagebuch 2010. Im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr herausgegeben von Christian Hartmann (= Bundeswehr im Einsatz; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 486 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-525-31136-3, EUR 45,00
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Ende August 2021 zogen sich die letzten westlichen Truppen aus Afghanistan zurück und überließen das Land den Taliban. Enthält man sich aller rhetorischen Verbrämungen, muss man konstatieren: Das westliche Eingreifen in Afghanistan hat seine Ziele nicht erreicht - weder als Sicherheitsunterstützung für die im Herbst 2001 nach dem Sturz des ersten Taliban-Regimes an die Macht gekommenen Regierungen in Kabul, noch als Programm für den Aufbau einer gegenüber westlichen Werten mehrheitlich aufgeschlossenen Gesellschaft. Und schon gar nicht als Kampfeinsatz in dem inner-afghanischen Bürgerkrieg, der seit 2005/06 immer heftiger wurde.
Hat es, wie der Herausgeber dieses erstaunlichen Buches in seiner Schlussbilanz vorsichtig postuliert, wirklich eine realistische Chance gegeben, das durch eine diffuse Vergesellschaftung der Gewalt geprägte und politisch wie wirtschaftlich weitgehend ruinierte Land durch äußere Einwirkung zu sanieren? Über diese Frage und die, was denn von der angestrebten Sanierung übrigbleiben wird, die von den (ganz überwiegend) westlichen Staaten mit militärischen und zivilen Mitteln angestrebt wurde, werden die öffentlichen und die Fachdiskussionen so bald nicht abreißen. Wobei es zunächst einmal notwendig ist, das Kriegsgeschehen und die Hintergründe der Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppierungen in Afghanistan empirisch zu erfassen - und zwar ohne den jahrelang in westlichen Hauptstädten, gerade auch in Berlin, gepflegten Hang, nicht ins Bild passende Informationen zu verdrängen.
Dabei werden sich Bücher wie dieses als höchst nützlich erweisen. Es handelt sich um die fast täglichen Aufzeichnungen eines Hauptfeldwebels der Bundeswehr, der von März bis Juni 2010 im nordafghanischen Kunduz als Gruppenführer in einem Panzergrenadierzug eingesetzt war. In den 122 Tagen seines Einsatzes befand sich Markus Götz mit seiner Gruppe an 57 Tagen außerhalb des Feldlagers. In den Ruhephasen dazwischen gab es zudem wochenlang Alarmbereitschaft. Für Götz war es bereits der zweite Einsatz in Afghanistan. Er gestaltete sich erheblich anstrengender und gefährlicher als der erste. Denn 2010 hatte die hoffnungsvoll-freundliche Phase des Einsatzes im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF) schon länger aufgehört. Unbewaffnete Patrouillen und ungeschützte Begegnungen mit der afghanischen Bevölkerung gehörten der Vergangenheit an. Stattdessen trafen die Bundeswehr-Soldaten vom 22. Kontingent auf rapide geschwundenes Vertrauen der einheimischen Bevölkerung. Sie mussten sich auf Überfälle aus dem Hinterhalt, Sprengfallen und einen nach den Methoden des Guerilla-Kampfes geführten Zermürbungskrieg einstellen. Und dies alles war mit etlichen Handicaps verbunden: unzureichende Ausrüstung, durch Befehle der zivilen und militärischen Führung der Bundeswehr systematisch eingeschränkte militärische Handlungsfähigkeit vor Ort und ein nicht abreißender Fluss von Besuchern aus Deutschland (politische Prominenz und Medienvertreter), denen die Dramatik der Vorgänge kaum bewusst war.
Das Tagebuch von Markus Götz schildert das, was ein britischer Offizier in der wegweisenden Analyse seines eigenen Einsatzes als Kompaniechef in Afghanistan "War from the Ground up" [1] genannt hat. Die raue und oft ruppige Sprache dieser Aufzeichnungen vermittelt ein ungeschöntes Bild der alltäglichen Mühen und Gefahren des Einsatzes. Er ist in starkem Maße geprägt von Problemen mit der Ausrüstung. Über diese Probleme und die mal pfiffigen, mal halb verzweifelten Versuche, sie vor Ort mit Eigeninitiative und Erfindungsgeist, soweit es geht, zu minimieren, liest man mit Verwunderung, manchmal auch mit Bestürzung. Soldaten in einen Einsatz zu schicken, ohne ihnen die für seine Erfüllung notwendigen Waffen und Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung zu stellen, grenzt an Fahrlässigkeit.
Patrouillen aus dem befestigten Feldlager in Kunduz in die militärisch zu überwachenden Gebiete wurden permanent von großer Unsicherheit überschattet. Denn jederzeit konnte die eigene Truppe in Hinterhalte geraten oder angegriffen werden. Derlei feindliche Attacken häuften sich. Das verlangte äußerste Anspannung und im Notfall konzentriertes Handeln. Nach der Rückkehr ins Feldlager und dem Absinken des Adrenalin-Spiegels blieben tiefe physische und psychische Erschöpfung, Wut und Trauer über eigene Verluste, nicht unbedingt funktionierende Ablenkungsversuche, Leere und Langeweile, alles manchmal auch unterlegt von leisem, aber nicht wegzudrückendem "Zweifel an dem Sinn und Zweck hier" (193). Man kann darüber streiten, ob der Ausdruck "postheroische Gesellschaft" der Bundesrepublik Deutschland wirklich angemessen ist. Jedoch sind die beträchtlichen kognitiven und emotionalen Lücken zwischen der Kriegserlebnis-Welt der Soldaten in Afghanistan (jedenfalls der kämpfenden Truppe) und ihrer Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit unübersehbar. Das Tagebuch von Markus Götz schildert typische Ausschnitte dieser Kriegserlebnis-Welt, und zwar auf anschauliche, zuweilen drastische Weise. Es hilft, diesen Krieg besser zu verstehen und leistet einen begrüßenswerten Beitrag für die umfassende Analyse von Ursachen, Verlaufsformen und Folgen des westlichen Eingreifens am Hindukusch.
Der Text des Tagebuchs macht nur den kleineren Teil des Buches aus, das in der Schriftenreihe "Bundeswehr im Einsatz" erschienen ist. Das Potsdamer Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) als Herausgeber hatte durchaus Glück, dass es auf dieses Tagebuch aufmerksam gemacht wurde. Die detaillierte und viel Platz einnehmende Editionsarbeit hat Christian Hartmann übernommen, und sie ist wegen ihrer Informationsfülle insgesamt überaus lobenswert. Den langen und nachdenklichen Einleitungsessay und den bilanzierenden Schlussessay liest man mit Gewinn. Bei den zahlreichen in Fußnoten untergebrachten Erläuterungen zu dem Tagebuch-Text drängt sich zuweilen der Eindruck auf, der Herausgeber habe etwas zu viel des Guten getan. Im Anhang schließlich gibt es Übersichten über die militärischen Stäbe, über die vor Ort gebräuchlichen Waffen und Waffensysteme, eine Reihe Biogramme und eine sehr umfangreiche Liste mit Quellen und Sekundärliteratur. Über das ganze Buch verstreut sind zahlreiche Karten, Graphiken und Übersichten sowie eine große Anzahl von Fotos.
Anmerkung:
[1] Emile Simpson: War from the Ground Up. Twenty-First-Century Combat as Politics, New York 2012.
Wilfried von Bredow