Christian Ganzer: Kampf um die Brester Festung 1941. Ereignis - Narrativ - Erinnerungsort (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 115), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2021, X + 490 S., ISBN 978-3-506-70448-1 , EUR 89,00
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Am 22. Juni 2021 fand anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die UdSSR in der Gedenkstätte "Brester Heldenfestung" eine pompöse Veranstaltung statt. Im Rahmen dieser Gedenkveranstaltung hielt der belarussische Staatschef Aleksandr Lukašėnka eine emotionale Ansprache, in der er an das seit dem Beginn der Belarus-Krise im August 2020 verbreitete radikal antiwestliche Narrativ anknüpfte: Ähnlich wie 1941 befinde sich Belarus in einem Existenzkampf, den die Brester Festung verkörpere. Dort sei der deutsche Blitzkriegsplan vereitelt worden; noch drei Wochen nach dem Überfall hätten die Verteidiger der Festung gegen die Deutschen gekämpft. [1] In den nächsten Monaten nach dieser Gedenkveranstaltung bürgerten sich in der belarussischen Staatspropaganda die NS-Gewaltherrschaft verharmlosende Vergleiche zwischen der Gegenwart und dem Zweiten Weltkrieg ein. Die Republik Belarus wurde zu einer neuen "Brester Festung" stilisiert, die an der vordersten Front sich selbst und gleichzeitig auch Russland verteidige. [2]
Angesichts dieser politischen Instrumentalisierung und erneuten Aufwertung des (neo-)sowjetischen Mythos "Brester Heldenfestung" erscheint die 2021 veröffentlichte Dissertation des Leipziger Historikers Christian Ganzer besonders wichtig und aktuell. In seiner Arbeit geht Ganzer auf die Kämpfe um die Festung Ende Juni 1941 ein, analysiert das Narrativ "heldenhafte Verteidigung der Brester Festung" und setzt sich mit dem Erinnerungsort "Brester Festung" auseinander. Während sich die sowjetische und postsowjetische Forschung dieser Themenkomplexe - in erster Linie der Kämpfe - gründlich annahm und dabei vor allem apologetische Heldenmythen verbreitete, wurden sie in der westlichen Geschichtsschreibung bisher selten behandelt. Da Ganzer sowohl das Ereignis als auch das Narrativ und den Erinnerungsort erforscht, verwendet er "positivistische[]" und "diskurstheoretisch orientierte[] Arbeitsformen" (6), wobei sich die methodische Vielfalt als zielführend erweist.
Die Brisanz des Themas, seine Aktualität sowie vor allem Ganzers Weigerung, das sowjetische Heldennarrativ zu übernehmen, führten zu ideologisch und politisch motivierten Archivverboten, wodurch der Verfasser die Bestände der Gedenkstätte "Brester Heldenfestung" lediglich in einem sehr begrenzten Umfang verwenden konnte. Trotzdem wurden umfangreiche Bestände sowjetischer und deutscher Provenienz aus deutschen, österreichischen, russischen und belarussischen Archiven und Museen ausgewertet. Hierzu gehören etwa Schriftgut der Wehrmacht (zum Beispiel Akten der 45. Infanteriedivision, Karteikarten und Fragebögen aus deutschen Kriegsgefangenenlagern), Egodokumente (Tagebücher, persönliche Briefe), Fotographien (Aufnahmen von Wehrmachtsangehörigen), Erinnerungsberichte, Pressepublikationen, Filme, Festungsführer sowie weitere Veröffentlichungen des Museums der Verteidigung der Brester Festung.
Zunächst werden die Kämpfe um die Brester Festung akribisch rekonstruiert - wie Ganzer betont - "wahrscheinlich der erste Ortskampf" (433) im Krieg. Der Historiker unterscheidet dabei insgesamt drei Phasen: 1. schwere Kämpfe auf dem gesamten Territorium der Festung zwischen dem 22. und dem 24. Juni 1941; 2. Kämpfe um "einzelne Widerstandsherde" am 25. und 26. Juni; 3. Kämpfe um das Ostfort zwischen dem 27. und 29. Juni. Die blutigen Kämpfe forderten zahlreiche Opfer; etwa 6.800 sowjetische Soldaten und Offiziere gerieten in deutsche Gefangenschaft. Die sowjetische Meistererzählung, die Verteidigung der Festung habe bis zum 23. Juli 1941 gedauert, weist Ganzer als falsch zurück.
Die von der sowjetischen Seite behauptete wochenlange Verteidigung der Festung durch meistens aus dem europäischen Teil der UdSSR stammende Rotarmisten, die den Tod der Gefangenschaft vorgezogen hätten, stellt ein zentrales Element des noch im Spätstalinismus entstandenen offiziellen Narrativs dar, das von Journalisten, Schriftstellern, Militärs und Parteifunktionären entwickelt wurde. Man stellte Selbstlosigkeit, Tapferkeit, Treue und Vaterlandsliebe der Verteidiger in den Mittelpunkt, während das unangenehme Thema Kriegsgefangenschaft bewusst weitestgehend ausgeblendet wurde.
Ganzer weist auf ehemalige Kriegsgefangene hin, die bei der Entwicklung dieses Mythos mitgewirkt und sich dadurch die Verbesserung ihrer eigenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation (materielle Vorteile und soziale Anerkennung) versprochen hätten. Eine zentrale Rolle im sowjetischen Erinnerungsprojekt "Brester Heldenfestung" kam dem Moskauer Schriftsteller Sergej S. Smirnov (1915-1976) zu, der in den 1950er und 1960er Jahren das vorhandene Quellenmaterial sortierte, Zeugenaussagen sammelte und das Heldennarrativ maßgeblich prägte.
In den nächsten Jahrzehnten wurde diese Erzählung den Anforderungen der aktuellen innenpolitischen Konjunktur angepasst, wobei Stalin im Zuge der Entstalinisierung nicht mehr gefeiert und die Rolle der KPdSU nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ausgeklammert wurde. Die in der UdSSR hervorgehobene Tatsache, dass unter Verteidigern etliche Kommunisten und Komsomolzen waren, rückte nach 1991 in den Hintergrund, während Patriotismus, Heroismus und Kühnheit der Rotarmisten noch mehr an Bedeutung gewannen. Die Verteidigung der Festung wurde als "würdiger Anfang des Krieges" dargestellt; eine bittere Niederlage wurde zum "Beginn des Sieges" und "erstem Ziegel im Fundament des Sieges" umgedeutet (306). Aus einem Ort der Trauer sei dadurch ein Ort des moralischen Triumphes geworden, in dem eine religiös-christlich anmutende "Heiligenlegende" vermittelt wurde (434 f.).
Ganzer kommt zu einem niederschmetternden Urteil: "[D]as Narrativ über die 'heldenhafte Verteidigung der Brester Festung' basiert auf Phantasien, Verzerrungen, Fälschungen, Übertreibungen, Überbewertungen und Verschweigen, einem mehr als problematischen Umgang mit Quellen - vor allem aber auf dem übergroßen Wunsch, der Krieg möge wirklich so gewesen sein, wie man ihn sich gewünscht hätte." (313)
Dieses überzogene, durch offene Manipulationen und gezielte Verzerrungen untermauerte Narrativ lässt sich in der Gedenkstätte "Brester Heldenfestung" wiederfinden. Die Themen "Tapferkeit" und "Heldentum" ziehen sich wie ein roter Faden durch die Dauerausstellung, während das in der UdSSR marginalisierte Phänomen Kriegsgefangenschaft erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nach und nach ins offizielle Narrativ integriert wurde, ohne jedoch letzteres grundsätzlich in Frage zu stellen.
Insgesamt lässt sich das gesamtsowjetische Erinnerungsprojekt als Erfolg einschätzen, denn es hat Anerkennung und Legitimation der Machthaber erhöht und einen Beitrag zur Entwicklung der gemeinsamen Wir-Identität geleistet. Auf diese Besonderheit lassen sich auch aktuelle Versuche der belarussischen Diktatur zurückführen, die "Brester Heldenfestung" propagandistisch zu vereinnahmen.
Christian Ganzer trotzte forschungswidrigen Umständen in Belarus und verfasste eine lesenswerte, fundierte und aktuelle Studie, die einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung des Zweiten Weltkrieges und seiner politischen Instrumentalisierung in der UdSSR und im postsowjetischen Raum leistet.
Anmerkungen:
[1] Vystuplenie Aleksandra Lukašėnko na ceremonii vozloženija venkov v memorial'nom komplekse "Brestskaja krepost' - geroj", in: Belta, 23.06.2021; www.belta.by/president/view/vystuplenie-prezidenta-belarusi-aleksandra-lukashenko-na-tseremonii-vozlozhenija-venkov-v-memorialnom-447186-2021/ [08.02.2022].
[2] Lukašėnko pozdravil kollektiv memorial'nogo kompleksa "Brestskaja krepost' - geroj" s 50 letom so dnja osnovanija, in: Belta, 24.09.2021; www.belta.by/president/view/lukashenko-pozdravil-kollektiv-memorialnogo-kompleksa-brestskaja-krepost-geroj-s-50-letiem-so-dnja-461225-2021/ [08.02.2022]; Lukašėnko: popytka udušit' Belarus' nachoditsja v obščem kontekste bor'by protiv Rossii, in: Belta, 02.12.2021; www.belta.by/president/view/lukashenko-popytka-udushit-belarus-nahoditsja-v-obschem-kontekste-borby-protiv-rossii-472656-2021/ [08.02.2022].
Alexander Friedman