Alexander Loose (ed.): Compilatio singularis exemplorum (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 308), Turnhout: Brepols 2021, CXL + 853 S., ISBN 978-2-503-59308-1, EUR 495,00
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Ian P. Wei: Intellectual Culture in Medieval Paris. Theologians and the University c. 1100-1330, Cambridge: Cambridge University Press 2012
Im Jahr 1711 entdeckte Étienne Baluze (1630-1718) unter den Handschriften des Martinsklosters in Tours eine Exempelsammlung, von der er einige Auszüge anfertigte. Dies markiert den Beginn eines gelehrten Interesses an dem Text, dem man später in Ermangelung eines eigentlichen Titels den Namen Compilatio singularis exemplorum geben sollte. Für die Erschließung der Arbeit waren die editorischen Bemühungen des Romanisten Alfons Hilka (gestorben 1939) von größter Bedeutung. Er präsentierte nicht nur Auszüge aus der Sammlung, sondern plante eine Gesamtedition, von der er 1929 behauptete, sie liege bereits druckfertig vor. Dies entsprach wohl nur bedingt der Wahrheit. Carsten Wollin entdeckte das weit fortgeschrittene, aber noch nicht fertige Arbeitsexemplar Hilkas in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen um die Jahrtausendwende. Dieses Exemplar diente nun Alexander Loose als Grundlage und Ausgangspunkt seiner eigenen Edition, die als Habilitationsschrift an der Universität Halle eingereicht wurde.
Direkte Hinweise auf einen Redaktor fehlen im Text. Da die Häufung von Exempeln dominikanischen Inhalts ins Auge springt, liegt die Vermutung nahe, die Sammlung könnte von einem anonymen Dominikaner in den Jahren zwischen 1277 und 1285 zusammengestellt worden sein. Mit Blick auf die Toponyme fällt neben der steten Bezugnahme auf die Stadt Paris die häufige Erwähnung von Orten in der Gegend um Tours, Le Mans und Chartres auf. Man kann wohl davon ausgehen, dass der Redaktor "in dieser Gegend gelebt und z.T. lokale Traditionen dieser Gegend aufgegriffen hat" (XVIII), wie Loose in seiner umfangreichen, lesenswerten Einführung ausführt.
Die Sammlung ist in drei Handschriften überliefert, die heute in Uppsala (Universitätsbibliothek, Ms. C 523; erste Hälfte 14. Jh.), Tours (Bibliothèque municipale, Ms. 468, um 1400) und Bern (Burgerbibliothek, Ms. 679, um 1400) verwahrt werden. Beim Berner Codex handelt es sich freilich nicht um eine bloße Abschrift, sondern um eine redaktionelle Neufassung der Compilatio. Jede der drei Handschriften überliefert einen anderen Titel. Wird die Sammlung im Codex aus Uppsala als Liber miraculorum bezeichnet, findet sich in Bern (von späterer Hand hinzugefügt) der Titel Liber Exemplorum cum fabulis Aesopi. Die Handschrift aus Tours verfügt über keinen eigenständigen Titel, doch schenkt man den Aussagen Hilkas Glauben, dann muss auf deren Einbandrücken noch 1912 der Vermerk Compilatio singularis exemplorum zu lesen gewesen sein. Die Verwendung des Adjektivs singularis könnte dabei der Tatsache geschuldet sein, dass es die Gliederung der Compilatio nach dem Vorbild der mittelalterlichen Ständeordnung war, die den Bibliothekar, der für die Beschriftung und bibliographische Erfassung des Bandes zuständig war, beeindruckte und ihn zur Wahl des Wortes veranlasste.
Denn tatsächlich folgen in der Compilatio die Exempel der sozialen Stellung ihrer Hauptakteure und werden dementsprechend gruppiert und hierarchisiert - von der Jungfrau Maria hin zu den in eine Fülle von Unterkapiteln ausdifferenzierten Laien (De hominibus in statu seculari existentibus). Die Mitte der Sammlung (VII-IX) bilden die drei Hauptstände Säkularklerus, Regularklerus und Laien. Diese tria genera hominum werden "einerseits in Beziehung zur Transzendenz des Göttlichen und der himmlischen Geschöpfe (I-VI) und andererseits in Beziehung zur durch den Teufel vom Heil getrennten nichtchristlichen Menschheit (Comp. 795-823)" (XXXII) gesetzt. Umfasst der siebte, dem Säkularklerus gewidmete Abschnitt (144-204) elf unterschiedliche Gruppen (Päpste - Kardinäle - Erzbischöfe - Bischöfe - Erzdiakone - Pfarrer - Kleriker - Philosophen - Fabeln des Äsop - Ärzte - Anwälte), finden sich in der achten Sektion (205-239) acht Gruppen (Äbte - Mönche - Eremiten - Novizen - Konversen - Äbtissinnen - Nonnen - Beginen). Im neunten, den Laien vorbehaltenen Abschnitt (240-374) werden hingegen nicht weniger als 31 unterschiedliche Gruppen von Kaisern und Königen über Bauern und histriones bis hin zu Exkommunizierten und Heiden behandelt. An seinem Ende stehen die Frauen: eingegangen wird auf Königinnen, Gräfinnen, adlige Frauen, Hausfrauen (domicellae) und unehrenhafte Frauen (mulieres ignobiles), darunter Kupplerinnen und Zauberinnen.
Ein Prolog, der Aufschluss über die Wahl genau dieses Gliederungsprinzips geben würde, fehlt. Der Redaktor lässt sein Werk ohne Einleitung mit einem ersten Exempel beginnen und verzichtet auf Zwischenbemerkungen (vgl. zu einer Auflistung der Exempla, XXVIII-XXX). Die Gliederung selbst offenbart einiges an thematischer Unwucht. Während die Abschnitte I-VI nur aus jeweils einem Kapitel bestehen, bestechen die folgenden Teile durch ein hohes Maß an kleinteiliger Binnendifferenzierung. Der umfangreichste, den Laien gewidmete Abschnitt umfasst nahezu 400 Exempel.
Mit Blick auf die ersten sechs, Marien- und Eucharistiemirakel behandelnden Abschnitte kann man sich des Eindrucks des Hinzugesetzten und Vorangestellten nicht erwehren. Sie müssen wohl als eine Art Vorspann interpretiert werden, durch den der Redaktor sein dogmatisches Weltbild in die Darstellung miteinbeziehen wollte. Der zehnte Teil weicht vollständig vom Gliederungsprinzip ab: poetische Stücke in gebundener Sprache (Sprichwörter, Verse des Hugo Primas, Epitaphe) dürften nicht zum ursprünglichen Bestand der Sammlung gehört haben.
Das Gliederungsprinzip der Compilatio ist ungewöhnlich, aber nicht einzigartig. Der Einfluss von Mirakel- und Ständepredigtsammlungen wie derjenigen des dominikanischen Generalmagisters Humbert de Romans ist spür- und nachweisbar (zum aufgegriffenen Überlieferungsgut vgl. XLV-LXV). Der Versuch einer Abbildung der mittelalterlichen Gesellschaft im Medium des Exempels (unter Einschluss eines von Maria, Christus und den Engeln konstituierten dogmatischen Überbaus) wird vom Redaktor selbst in seinem Epilog als eher flüchtig angelegte Stoffsammlung ohne jedwede literarische Ambition charakterisiert. Und tatsächlich präsentiert sich die durch altfranzösische Einsprengsel gekennzeichnet Prosa kunstlos und einfach. Man wird die Compilatio wohl als eine Art Handbuch zur Predigtvorbereitung interpretieren dürfen - reich an Material und praktisch in der Handhabung, wovon nicht zuletzt eine Fülle werkimmanenter Querverweise zeugt. Die Rezeption der Sammlung war überschaubar. Es ist lediglich ein einziger Text bekannt, in dem sich eine direkte Abhängigkeit von der Compilatio nachweisen lässt: das vierte Buch der Mensa philosophica.
Die vorliegende kritische Edition (vgl. die editorischen Vorbemerkungen, CI-CVI) operiert mit vier Apparaten (Bibelstellen, Quellen, Textüberlieferung, Textkritik). Der apparatus criticus ist grundsätzlich negativ konzipiert. Damit er ohne weiteres Blättern sofort verstanden werden kann, ist ihm auf jeder Seite ein kleiner Apparat vorangestellt, in dem sich die Textüberlieferung der einzelnen Handschriften verzeichnet findet.
Ausgesprochen nützlich sind die Fontes Exemplorum (427-790), in denen die einzelnen Exempel nacheinander inhaltlich erschlossen und etwaige Vorlagen nachgewiesen werden. Hiervon dürften auch diejenigen profitieren, die des Lateinischen nur (noch) bedingt mächtig sind, wird der Inhalt der Exempel doch jeweils kurz paraphrasiert. Bequem kann sich der Leser so beispielsweise bei der Erzählung über die "geschmierten" Kardinäle (n. 226) darüber informieren, auf welche Vorlagen zurückgegriffen wurde, wenn widerspenstige Kardinäle (cardinales) mit ungeölten, beeinflussbare und der Bestechung zugängliche Purpurträger mit geölten Türangeln (cardines) verglichen werden.
Eine mit großer Akribie und noch größerem Sachverstand erarbeitete Edition, die das Corpus der zur Verfügung stehenden (spät-)mittelalterlichen Exempelsammlungen entscheidend erweitert. Profitieren wird von ihr nicht allein die Predigtforschung, sondern jede Disziplin, in der kulturgeschichtliche Fragestellungen eine Rolle spielen. Tolle et lege.
Ralf Lützelschwab