Rezension über:

Lorenz M. Lüthi (ed.): Cold Wars. Asia, the Middle East, Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2020, 784 S., ISBN 978-1-108-40706-9, GBP 26,99
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Rezension von:
Pai-Li Liu
München
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Pai-Li Liu: Rezension von: Lorenz M. Lüthi (ed.): Cold Wars. Asia, the Middle East, Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 5 [15.05.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/05/34821.html


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Lorenz M. Lüthi (ed.): Cold Wars

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Der Systemkonflikt zwischen der Sowjetunion und den USA gilt seit langem als dominierender historiographischer Erklärungsrahmen der internationalen Beziehungen nach 1945. Darunter versteht man die ideologische Konkurrenz zwischen dem liberal-kapitalistischen und dem sozialistisch-kommunistischen Block sowie den atomaren Rüstungswettlauf zwischen Moskau und Washington. Der globale Kalte Krieg steht in diesem Sinne für einen erdumspannenden Wettkampf zwischen dem sowjetischen Kommunismus und dem US-amerikanischen Kapitalismus. Diese systemische Interpretation des Kalten Krieges und die damit zusammenhängende Vernachlässigung der Eigendynamik der Entwicklungen in verschiedenen Weltregionen bildet den Ausgangspunkt des neuen Forschungswerks von Lorenz M. Lüthi.

Der Associate Professor an der McGill University in Montreal setzt sich in seiner Monografie kritisch mit dem systemischen Interpretationsrahmen des globalen Kalten Krieges auseinander. Seine Leitfrage lautet: "How did regional and national actors influence and transform the structure of the global Cold War, and thereby produce the necessary conditions for its end?" (7) In den Forschungsmittelpunkt rückt er die Pluralität der regionalen Kalten Kriege in Asien, im Nahen Osten und in Europa. Die beiden Supermächte erscheinen so nicht mehr als die einzigen "exclusive driving forces of change in the international system". (1) Vielmehr vertritt Lüthi die These, dass nicht allein der Systemkonflikt zwischen beiden Supermächten, sondern die strukturellen Veränderungen auf regionaler Ebene den Entwicklungsverlauf des Kalten Krieges mitgestalteten. Mit diesem Ansatz der "multiple foci" (3) will er die Geschichte des Kalten Krieges in dreierlei Hinsicht neu konzipieren. Zunächst soll die Geschichtsschreibung dezentralisiert werden, denn die weltweiten Konkurrenzkämpfe der Großmächte seien oft mit vorher existierenden lokalen oder nationalen Konflikten eng verflochten gewesen. Insofern hatten die regionalen Kalten Kriege eigenständige Ausgangslagen, Verlaufsformen und Bedingungen für die Beendigung des globalen Kalten Krieges. Zweitens sollen "middle powers" und "small actors", die in der herkömmlichen Historiografie im Schatten der Supermächte stehen, ans Licht kommen. Denn "regional actors" waren "not just lifeless punching bags that only responded to the strikes of the Big Three or the two superpowers. On the contrary, they possessed agency - i.e. the ability to shape their own future through their own actions". (4) Im Anschluss daran sollen drittens die Ereignisse und Konflikte auf regionaler Ebene "horizontally and not only vertically to the great powers" verbunden werden. (3) Lüthis Grundthese entsprechend lässt sich somit ein paralleles, aber verflochtenes "double development" der Machtstruktur im internationalen System seit dem Zweiten Weltkrieg beobachten: (2) Während sich das trianguläre Machtverhältnis zwischen den USA, der Sowjetunion und Großbritannien bis in die 1960er Jahre auf das "nuclear superpower duopoly" reduzierte, (41) stießen Interventionen der Großmächte in eigenen Einflusszonen zunehmend an Grenzen und führten dabei eine Dezentralisierung beziehungsweise Diffusion der politischen, militärischen sowie ökonomischen Macht auf regionaler und nationaler Ebene herbei.

Entsprechend dem "double development" strukturiert Lüthi sein Buch. Kapitel 1 und 23 bilden den äußeren Rahmen der Monografie, der sich mit der Entstehung der systemischen globalen Konfrontationsstruktur von 1917 bis 1957 beziehungsweise ihrer Beendigung in den späten 1980er Jahren befasst. Der innere Rahmen besteht aus zwischenliegenden 21, mit arabischen Ziffern gekennzeichneten Kapiteln, die sich wiederum in sieben römisch bezifferte Teile gliedern. Zu jedem Teilbereich gehören drei Kapitel, deren Kernaussage der Autor jeweils in einer kurzen Einleitung zusammenfasst. Teil I (Kap. 2-4) beschäftigt sich mit dem Aufbau der regionalen Einflusszonen der Großen Drei, die die globalen Bezugsstrukturen der regionalen, sub-systemischen Konflikte von den 1960er bis in die 1980er Jahre ausmachten. Teil II (Kap. 5-7) und III (Kap. 8-10) behandeln die regionalen ideologischen und militärischen Systemkonflikte in Asien und im Nahen Osten: Der Volksrepublik China, dem geteilten Vietnam und dem post-kolonialen Britisch-Indien wird jeweils ein Kapitel gewidmet, während der Autor die arabisch-israelischen Beziehungen chronologisch und den "Palestinian mass activism" thematisch darstellt. (241) Dabei wirft der Autor seinen Forschungsblick nicht nur auf die Aktivitäten der regionalen beziehungsweise nationalen Akteure mit vertikalen Bezügen zur Interventionspolitik der Supermächte. Vielmehr werden die horizontalen Kontakte der mittelgroßen Staaten und das transregionale Nebeneinander von "unrelated" Ereignissen hervorgehoben. So werden in Kapitel 7 die chinesisch-indischen Beziehungen im Kontext der territorialen Konflikte Indiens mit West- und Ost-Pakistan in den 1950er und 1960er Jahren, der asiatisch-afrikanischen Konferenz von Bandung 1955, der Zerschlagung des "unrelated Tibetan Uprising" (170) durch die Volksrepublik China sowie der globalen Détente-Politik der Supermächte am Anfang der 1970er Jahre analysiert. In der Darstellung der arabisch-israelischen Konflikte wird wiederholt Chinas aktive Rolle im Nahen Osten betont. Teil IV (Kap. 11-13) analysiert systematisch drei Visionen der alternativen Zusammenschlüsse mittlerer Staaten im globalen Süden (Asian-African Internationalism, Non-Alignment Movement und Pan-Islamism).

Der europäische Kontinent kommt erst nach Asien und dem Nahen Osten in Teil V. Auch hier folgt der Autor seinem Ansatz des "decentering the Cold War". (6) So werden im Kapitel zum atomaren Rüstungswettlauf (Kap. 14) die Krisen der Mutually Assured Destruction (MAD) und die Verhandlungen zwischen Moskau und Washington vor dem Hintergrund der regionalen Konflikte zwischen Israel und Ägypten in den 1960er Jahren kontextualisiert sowie die Auswirkung des nuclear superpower duopoly auf die diplomatische Annäherung von Paris und Peking oder auf den atomaren Wettbewerb in Südasien untersucht. Kap. 15 und 16 beschäftigen sich mit der wirtschaftlichen Dimension der Blockbildung in Europa, da diese als entscheidende Grundlage für die Beendigung des Kalten Krieges dort in den späten 1980er Jahren gilt. Während vorherige Kapitel in erster Linie auf die Teilung Europas fokussieren, widmet Teil VI (Kap. 17-19) dem grenzüberschreitenden Détente-Prozess. Dabei rückt Lüthi die Optionen und Spielräume der middle powers von beiden deutschen Staaten, Polen und Tschechoslowakei beziehungsweise von small actors (Vatikan) in den Vordergrund. Teil VII (Kap. 20-22) zum Ende der regionalen Kalten Kriege geht davon aus, dass in den drei untersuchten Weltregionen verschiedene Bedingungen für die Beendigung der ideologischen Systemkonflikte bestanden. Jedoch habe sich eine Reihe gleichzeitiger struktureller Veränderungen auf regionaler Ebene von den späten 1970er bis Anfang der 1980er Jahren ergeben, die am Ende des Jahrzehnts zum Ende des globalen Systemkonfliktes und zur Entstehung neuer Konfliktpotenziale beigetragen habe.

Lüthis erkenntnisreiche Monografie ist eine wichtige Studie zur globalen Diplomatiegeschichte im 20. Jahrhundert. Dass sie sich auf mittlere Staaten und strukturelle Veränderungen auf regionaler Ebene fokussiert, leistet einen sinnvollen Beitrag zum Verständnis der "multiple incarnations" (4) des Kalten Krieges. Durch Lüthis dezentralen Ansatz wird nicht zuletzt die Prägekraft des Kalten Krieges für die Territorialität neuer Staaten wie Polen und Indien oder geteilter Staaten wie Deutschland, Korea und Vietnam aussagekräftig dargelegt. Dabei macht der Autor auch das Engagement von small actors im globalen Systemkonflikt sichtbar. Gleichwohl ist seine Auswahl von Staaten und Akteuren selektiv. Der umstrittene Sukzessionsstaat Republic of China (Taiwan) etwa wird zwar mehrmals erwähnt, aber eine systematische Analyse der Dreiecksbeziehung zwischen Peking, Washington und Taipeh fehlt, die Ostasiens regionale Machtstruktur bis heute prägt. Außerdem bleiben die regionalen und nationalen Akteure in erster Linie Staatsmänner (Ausnahmen: Indira Gandhi, Golda Meir). Es verwundert daher nicht, dass in der Monografie transnationale Dissidentinnen und Dissidenten in Osteuropa und globale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International ausschließlich eine dekorative Funktion besitzen. Internationale Organisationen und nicht-staatliche Akteure, deren Schlüsselrolle in den internationalen Beziehungen bereits Zeitgenossen anerkannten, finden in Lüthis Narrativ kaum Platz. Diese Bemerkungen sind allerdings weniger eine Kritik als ein Ausblick auf weitere Forschung, die sich aus Lüthis aufschlussreicher Monografie ergeben sollte. Für alle, die die agencies mittlerer und kleinerer Akteure in den internationalen Beziehungen herausarbeiten wollen, ist sie ein lesewürdiges Werk.

Pai-Li Liu