Andreas Rutz (Hg.): Die Stadt und die Anderen. Fremdheit in Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (= Städteforschung. Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster. Reihe A: Darstellungen; Bd. 101), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 317 S., 24 Abb., ISBN 978-3-412-52105-9, EUR 45,00
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Marina Stalljohann-Schemmel: Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs, Berlin: De Gruyter 2016
Rinse Willet: The Geography of Urbanism in Roman Asia Minor, London / Oakville: Equinox Pub. Ltd. 2020
Werner Hennings / Uwe Horst / Jürgen Kramer (Hgg.): Die Stadt als Bühne. Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2016
Anna Leone: The End of the Pagan City. Religion, Economy, and Urbanism in Late Antique North Africa, Oxford: Oxford University Press 2013
Sabine Panzram (ed.): The Power of Cities. The Iberian Peninsula from Late Antiquity to the Early Modern Period, Leiden / Boston: Brill 2019
Ruth Schilling: Stadtrepublik und Selbstbehauptung. Venedig, Bremen, Hamburg und Lübeck im 16.-17. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011
Christian Landrock: Nach dem Kriege. Die Nachkriegszeit des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel der kursächsischen Stadt Zwickau, 1645-1670, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2023
Helge Wittmann (Hg.): Tempi passati. Die Reichsstadt in der Erinnerung, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014
Der hier anzuzeigende Sammelband geht zurück auf eine Tagung, die 2018 aus Anlass des 500. Geburtstags von Hermann (von) Weinsberg veranstaltet wurde, von dem mit dem 'Boich Weinsberg' eines der berühmtesten Selbstzeugnisse des 16. Jahrhunderts stammt. Dementsprechend ist der Band auf städtische Selbstzeugnisse und Chroniken mit einem Schwerpunkt im 16. Jahrhundert und auf Mitteleuropa ausgerichtet, auch wenn mehrere der insgesamt 13 Beiträge zeitlich wie räumlich darüber hinausgehen. Der inhaltliche Fokus liegt auf der Wahrnehmung von und der Begegnung mit Fremden bzw. Anderen. Dabei, so Andreas Rutz in seiner Einleitung, ist dies in konstitutiver Weise mit dem verbunden, was als das Eigene angesehen und identifiziert wird. Dies lasse sich in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit gut fassen. Rutz setzt dabei keinen engeren Begriff von Fremdheit voraus, vielmehr greift er auf die Unterscheidung von kultureller Fremdheit im Sinne des Unbekannten und sozialer Fremdheit im Sinne von Nicht-Zugehörigkeit zurück und betont, dass in vormodernen Städten ersteres eher selten, letzteres dafür umso verbreiteter gewesen sei, wobei hier "Differenzkategorien" wie Geschlecht, Körper und Disability eine jeweils spezifische Rolle spielen konnten (24). Den relationalen Charakter von Fremdheit bzw. Fremdsein als "Gegenstand permanenter Aushandlungen" bzw. Annäherungen und Distanzierungen (34) wie auch Prozesse der Entfremdung nimmt Michaela Fenske in ihrem Beitrag mit einem besonderen Fokus auf frühneuzeitliche Märkte in den Blick.
Wie unterschiedlich sich die Autorinnen und Autoren dem Rahmenthema nähern, zeigen bereits die vier Beiträge, die ihr besonderes Augenmerk auf Weinsberg richten. Darin werden von Peter Glasner das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Identitätsbildung unter anderem am Beispiel von (familiären) Gründungs- und Herkunftserzählungen sowie von Eva Büthe-Scheider der Wandel in der Schreibung des (Familien-)Namens 'Weinsberg(h)' mit Blick auf damit verbundene Formen der "Traditionsbegründung" und "Identitätsstiftung" untersucht (181f.). Andreas Rutz nimmt Weinsbergs Beschreibungen des zeitgenössischen Kriegsgeschehens, vor allem unterschiedlicher Gruppen von Kriegsleuten (Spanier, Niederländer) und die von ihnen verübten Gewalttaten in den Blick und fragt danach, welche Bedeutung hierfür den Kategorien von fremd und eigen zukam. Krisztina Péter gibt einen Überblick darüber, wen bzw. welche Gruppen innerhalb des städtisch-kölnischen Umfelds Weinsberg als Andere und Fremde wahrnahm, darunter Pilger, Juden, Händler und Geflüchtete. Sie weist dabei auf die Zunahme exkludierender Haltungen hin, wie sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht nur für Köln zu beobachten sind, und entsprechender Politiken gegenüber 'Fremden' und vor allem Migranten.
Die weiteren Beiträge, in denen Weinsberg allenfalls am Rande auftaucht, behandeln den Umgang mit 'verkörperter Differenz', vor allem mit angeborenen körperlichen Auffälligkeiten (Bianca Frohne) oder die Herstellung und Reproduktion von Unterschieden vornehmlich mit Blick auf die Kategorie des Geschlechts und das Modell des Hausvaters anhand von Familienbüchern und Hausratsgedichten (Marco Tomaszewski). Simon Siemianowski untersucht die Bedeutung der Unterscheidung von 'welsch' und 'teutsch' für die Markierung von Zugehörigkeit in humanistischen Kreisen und speziell bei aus Nürnberg stammenden Studenten an oberitalienischen Universitäten des 16. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt des Beitrags von Sergius Kodera steht die Frage, wie Giordano Bruno das Elisabethanische London und vor allem die in der Bevölkerung verbreiteten xenophoben Einstellungen und Verhaltensweisen wahrnahm. Eine zeitliche Erweiterung stellen zum einen der Beitrag von Marc von der Höh über Haushaltssklavinnen im spätmittelalterlichen Florenz und zum anderen die in das 18. Jahrhundert reichenden Aufsätze von Christian Schlöder und Manfred Groten dar. Schlöder untersucht die Chronik des Hannoverschen Kammerschreibers Johann Heinrich Redecker mit Blick auf die Darstellung von fremden, aus einem nicht deutschsprachigen Land bzw. Kulturraum wie der Türkei und Arabien stammenden Personen. Groten wiederum zeigt am Beispiel von Daniel Defoes "Journal of the Plague Year", wie Epidemieerfahrungen literarisch verarbeitet wurden und welche Rolle dabei Vorgänge des Fremd-Werdens von Vertrautem spielten. Ergänzt wird der Band durch eine Auswahlbibliographie und einen Orts- und Personenindex.
Versucht man, den Band und die durchweg lesenswerten Beiträge zu resümieren, so erweist sich, dass die Art und Weise, wie die übergreifende Thematik und der inhaltliche Rahmen gefasst sind, einige grundsätzliche Probleme aufwirft. Zwar bilden die Konzentration auf Chroniken und Selbstzeugnisse sowie die zeitliche Schwerpunktsetzung eine gewisse Klammer. Die Themen, die in den Beiträgen behandelt werden, sind dagegen ausgesprochen divers. Dies ist an sich weniger problematisch als dass es dem Band nicht gelingt, diese inhaltliche Vielfalt sinnvoll zu integrieren. Dies liegt vor allem an der Art und Weise, wie Fremdheit gerade in der Einleitung gefasst wird. Denn durch das sehr weite Begriffsverständnis fällt die Kategorie des Fremden weitgehend mit derjenigen des Anderen zusammen; beiden wird mit dem Eigenen auch derselbe Gegenbegriff zugewiesen. Eine solche, in der einschlägigen Literatur zu Fremdheit durchaus verbreitete kategoriale Gleichsetzung von fremd und anders führt allerdings, so auch in diesem Fall, zu einer weitgehenden Entgrenzung des Gegenstandsfelds, liegt doch die Unterscheidung von anders/eigen sämtlichen Formen der sozialen und kulturellen Differenzierung und Abgrenzung und damit der Identitätsbildung zugrunde. Dies führt auch dazu, dass der Band keine Antwort auf die Frage anbietet, wie sich Fremdheit bzw. der Umgang mit und die Wahrnehmung von Fremden in Städten längerfristig und insbesondere im Übergang von Spätmittelalter zu Früher Neuzeit wandelte. Insofern erschiene es fruchtbarer, Fremdheit bzw. Fremdsein enger, und zwar als eine spezifische, in der Regel außeralltägliche Form von Alterität bzw. des 'Othering' zu fassen, die mit eigenen Mustern der Identifizierung, Abgrenzung und Selbst- und Fremdbeschreibung verknüpft ist, und zwar gerade auch für den Fall der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt. Denn hier stellte das Fremde eine spezifische (Reflexions-)Figur dar, die mit anderen (z.B. körperlichen, geschlechtlichen, ständischen, räumlichen, religiösen) Differenzkategorien verknüpft werden konnte und daher nicht nur in unterschiedlichen Ausprägungen auftrat, sondern sich auch beständig veränderte. In einigen Beiträgen wie denjenigen von Krisztina Péter und Sergius Kodera wird dies auch deutlich und zeigt sich das große Potential, dem solche xenologischen Ansätze gerade für die Mittelalter- und Frühneuzeitforschung zukommen, zumal es sich bei Fremdheit und damit verbundenen Themen wie Flucht und Migration um ein Forschungsfeld handelt, dem ein hohes Maß an aktueller Relevanz zukommt, das aber bislang gerade für die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städte, zumal im mitteleuropäischen Raum, erstaunlich schlecht erforscht ist. Das Augenmerk hierauf gerichtet zu haben, ist zweifellos ein großes Verdienst dieses Buchs.
Philip Hoffmann-Rehnitz