Benjamin Dürr: Erzberger, der gehasste Versöhner. Biografie eines Weimarer Politikers, Berlin: Ch. Links Verlag 2021, 311 S., ISBN 978-3-96289-116-9, EUR 25,00
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Biographien zu Matthias Erzberger sind seit sechzig Jahren immer mal wieder erschienen [1]. Zum 100. Todestag legt nun Benjamin Dürr eine weitere Lebensbeschreibung vor, die auf einer breiten Literaturrecherche und wenigen, teilweise aber neuen Quellen basiert. Was allerdings mit der Bezeichnung "Versöhner" im Titel gemeint ist, erschließt sich dem Leser wohl auch nach der Lektüre nicht so recht, und soweit ersichtlich, wird es im gesamten Text nicht explizit angesprochen, also auch nicht im Prolog oder im Epilog. Wohl kaum jemandem, der ein wenig über Erzberger weiß, wäre dieser Begriff als Charakteristikum seiner Person eingefallen, während das Attribut "gehasst" zum sich selbst erklärenden und selbstverständlichen Wissensstand gehört.
Doch um von vorne zu beginnen: Dürr schildert die Kindheit und Jugend des 1875 geborenen Erzbergers in einem einfachen Handwerkerhaushalt in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb. Schon früh zeigen sich seine überdurchschnittliche Begabung und schnelle Auffassungsgabe, so dass dem stets stark im katholischen Milieu Verhafteten der Weg in den Volksschullehrerdienst geebnet wird. Dort bleibt er allerdings nicht lange stehen, sondern engagiert sich publizistisch, bald auch politisch in der württembergischen Zentrumspartei. Dies ermöglicht dem begabten Redner schon 1903 die Wahl zum Reichstagsabgeordneten, und mit dem Umzug nach Berlin wird er zu einem der ersten deutschen Berufspolitiker, der nebenbei eine katholische Nachrichtenagentur betreibt und sich damit Netzwerke aufbaut. Unverändert setzt er sich für Arbeiter und einfache Leute ein, wobei sein Engagement nicht auf die Revolution, sondern auf rein praktische Maßnahmen zielt, womit er zu einem Repräsentanten des linken Flügels der politisch-programmatisch nicht sehr homogenen Zentrumspartei wird.
Seine Kenntnisse über den deutschen Etat, die er sich im Haushaltsausschuss erwirbt, bringen ihn zur Kritik an den deutschen Ausgaben im Kolonialhaushalt. Dahinter steht nicht ein grundlegender Antirassismus, sondern die Vorstellung, dass man die Indigenen in den deutschen Kolonien missionieren und erziehen müsse - also ein durch "paternalistische und humanitäre Einfärbungen" gedämpfter Rassismus (51). Seine detaillierte Kritik, die aus der exakten Zahlenkenntnis heraus auf Missstände und Korruption in der deutschen Kolonialverwaltung hinweist, bringt ihm einen lebenslangen Gegner ein: Karl Helfferich, damals einer der leitenden Mitarbeiter in der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts, den Erzberger auch persönlich attackiert. Dahinter stehen unterschiedliche wirtschaftspolitische Ziele: Helfferich will über die Kolonialpolitik Deutschlands Einstieg in den Welthandel, die damalige "Globalisierung"; Erzberger will gerade das nicht, weil es die deutschen Kleinproduzenten und damit die Arbeiter schädigt. In der Folge führt Erzbergers Agitation zur Ablehnung des Kolonialetats durch das Zentrum, zu Reichskanzler Bülows "Hottentottenwahl" von 1907 und damit zum Ausscheiden des Zentrums aus dem Kreis der Parteien, auf die sich die Regierung stützt.
Demgegenüber entwickelt sich Erzberger in den Folgejahren zum zeittypischen Nationalisten und zum Aufrüstungsbefürworter, der Deutschland in der europäischen Politik als "eingekreist" erlebt. Entsprechende Reichstagsreden dokumentieren dies, wobei gelegentlich auch ein antisemitischer Zungenschlag auffällt, der allerdings eher nicht auf einen tief verwurzelten Antisemitismus verweist. 1914 ist er wie die Mehrheit seiner Landsleute und der politischen Eliten vom Kriegsausbruch begeistert und lässt sich in den Apparat der Auslands- und Pressepropaganda eingliedern; von dort aus hat er enge Kontakte zu Reichskanzler Bethmann Hollweg und nimmt an zahlreichen wichtigen Sitzungen teil. Mit der ihm üblichen Betriebsamkeit versucht er, Deutschland nach dem Neutralitätsbruch gegenüber Belgien und den dort verübten Kriegsverbrechen sowie nach der Beschießung der Kathedrale von Reims mit zahllosen Berichten für in- und ausländische Presseorgane und über seine Netzwerke aus der propagandistischen Defensive zu bringen, was ihm aber natürlich nicht gelingen kann. In den ersten Kriegswochen entwickelt er ein ultra-annexionistisches Kriegszielprogramm, bei dessen Umsetzung er auch brutale Methoden gegen die Zivilbevölkerung in Kauf zu nehmen bereit ist: Er lässt sich vom Nationalismus verschlingen und glaubt der Reichsregierung alles, was sie verlautbart.
1915/16 befindet er sich auf etlichen Auslandsreisen, bei denen er (im Ergebnis erfolglos) versucht, Italien in der Neutralität zu halten, ebenso Rumänien, und in Konstantinopel verwendet er sich für die Katholiken unter den Armeniern, verzichtet aber aus Rücksicht auf die verbündeten Osmanen auf eine öffentlichkeitswirksame Agitation. Sein Einsatz für die katholischen Christen in den besuchten Ländern und die katholische Kirche allgemein geht so weit, dass er nach Privataudienzen bei Papst Benedikt XV. und nachdem er von dessen Geldsorgen erfahren hat, im Reich eine Geldsammlung für den Papst startet und sogar mehrere Monate lang den phantastisch klingenden Plan verfolgt, dass jener die Vatikanstadt mit Liechtenstein tauscht - nicht ohne den Hintergedanken, ihn damit aus der italienischen Einflussnahme herauszubringen.
Erscheinen seine Pläne bis dahin oft eher naiv, kommt Ende 1916 die Wende, und er nimmt gegenüber Regierung und Militär eine eigenständigere Stellung ein. Er prüft nämlich anhand der ihm zugänglichen Zahlen, ob die interne Begründung für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg überhaupt zutrifft, und kommt zu dem Schluss, dass sie völlig unrealistisch sei. Ab diesem Zeitpunkt sucht er Wege aus dem Krieg, und nachdem er am 3. Juli 1917 im Haushaltsausschuss erstmals die Frage gestellt hat, wie ein solcher Weg gelingen könne, und darüber in ein heftiges Rededuell mit Vizekanzler Helfferich gerät, entsteht unter seinem führenden Einfluss der "Interfraktionelle Ausschuss", jenes informelle Zusammengehen der Mittelparteien einschließlich der SPD, der die Reichsregierung auf den richtigen Weg zum Kriegsausgang (und zur Parlamentarisierung des Reiches) bringen soll. Ab diesem Zeitpunkt und mit seinen persönlich betriebenen Friedensbemühungen 1918 gegenüber Vertretern der neuen russischen "provisorischen Regierung" sowie dem Papst, bei denen er auch Indiskretionen begeht und beispielsweise einen Brief Kaiser Karls über die schlechte Lage Österreichs öffentlich werden lässt, wird er von der Reichsregierung, zweifellos im Auftrag der militärischen Leitung, mit Repressionen verfolgt und darf keine Auslandsreisen mehr unternehmen. In der Agonie des Kaiserreichs wird er Ende Oktober 1918 Staatssekretär ohne Portefeuille in der Regierung Max von Baden; Anfang November unterbreitet er selbst den Vorschlag, dass ein Zivilist und kein Militär die anstehenden Waffenstillstandsverhandlungen führen soll, und folgerichtig fällt es auf ihn, den etwas Widerwilligen, die Waffenstillstandsdelegation anzuführen. So kommt es dazu, dass er am 11. November die von französischer Seite bewusst demütigend formulierten Bedingungen unterschreiben muss, was ihn nun endgültig zum verhassten Verräter bei jenen macht, die mit der aufziehenden Dolchstoßlegende nach Schuldigen für den Untergang der Monarchie und die Niederlage im Weltkrieg suchen. Auch in der Frage der Unterzeichnung der vorgelegten Friedensbedingungen ist er im Kabinett einer der ersten, die für die Unterzeichnung eintreten: In den Augen der Rechten lädt er also auch noch die Schuld für den "Schandfrieden" auf sich.
Der Hass, der ihm entgegenschlägt, wird nicht geringer durch die Reformen, die er als Finanzminister im Kabinett Bauer umsetzt. Nach der Bahnreform, die eine einheitliche Reichsbahn bewerkstelligt, geht er eine Steuerreform an (die übrigens die Grundlinien für das heutige Steuersystem zeichnet), um dem Reich eigene Einnahmen zu generieren und es damit von den Matrikelbeiträgen der Länder unabhängig zu machen. Das dient dem Ziel, die wachsende Staatsverschuldung und Inflation zu bremsen, verursacht durch die Finanzpolitik während des Weltkriegs, der mit Anleihen statt mit Steuern finanziert worden war. Er will damit aber auch größere Gerechtigkeit schaffen und die ärmeren Schichten entlasten - was bekanntermaßen zu Lasten der Reichen geht. Für die Finanzpolitik im Weltkrieg war neben anderen vor allem Helfferich verantwortlich, und der fühlt sich jetzt herausgefordert, eine regelrechte Kampagne "Fort mit Erzberger", wie der Titel einer Broschüre lautet, zu starten. Erzberger klagt gegen darin enthaltene Verleumdungen, und auch wenn Helfferich im Prozess mit einer Geldstrafe belegt wird, geht Erzberger nicht ungeschoren aus dem Verfahren heraus: Das Urteil vom März 1920 stellt die persönliche Integrität Erzbergers in Frage und lässt offen, ob die gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe nicht doch zutreffen könnten. Erzberger legt sein Ministeramt nieder, zumal er aus dem Zentrum, in dem er nie ganz unumstritten war, keine wirkliche Unterstützung erfährt. Als er zudem nicht nur die Erfüllungspolitik predigt, sondern auch noch mit Schriften versucht, das Zentrum zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu verorten, wird er von der Partei zum Schweigen verpflichtet. Kurz nach seiner Ankündigung der Rückkehr in die aktive Politik wird er von zwei Freikorpsmitgliedern, die in ihm einen der exponiertesten Repräsentanten der verhassten Republik sehen, im August 1921 auf einem Spaziergang im Schwarzwald bei einem Pistolenattentat erschossen.
Dürr erzählt dies alles gut lesbar, allerdings ohne analytisch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Man vermisst außerdem über weite Passagen ein wenig die Betrachtung der Person an sich, die in der Biographie fast ganz in ihrem Tun dargestellt wird; vielleicht ist dies aber auch charakteristisch für den umtriebigen "Macher" Erzberger. Dürr unterlaufen gelegentlich Fehler und einige davon durch Formulierungen, die gut in den jeweiligen Argumentationszusammenhang passen, aber eben nicht stimmen: Dass Erzberger 1903 "einer der wenigen" gewesen sei, die "ohne Adelstitel, Militärdekoration, Landbesitz oder Industriellenverwandtschaft" in den Reichstag eingezogen seien (10), stimmt angesichts von allein 81 SPD-Abgeordneten offensichtlich nicht; dass sich die deutsche Industrieproduktion in bestimmten benannten Leitsektoren "innerhalb weniger Jahre teilweise [!] versechsfachte" (59), trifft wohl nur zu, wenn man unter "wenigen Jahren" den Zeitraum von 1871 bis 1914 versteht; dass England die Entente cordiale mit Frankreich 1907 "durch ein Bündnis [!] mit Russland zur Triple Entente erweitert" habe (72), ist so ungenau, dass es nicht stimmt; Helfferich war seit 1916 nicht Innenminister (119), weil es einen solchen auf Reichsebene nicht gab, sondern Staatssekretär des Reichsamts des Innern; und um die Beispiele abzuschließen: Clemenceau hat Frankreich nicht als Ministerpräsident "vier Jahre durch den Krieg geführt" (160), weil er erst 1917 das Amt des Premierministers übernahm.
Diese Ungenauigkeiten trüben ein wenig den Gesamteindruck. Sie sollten diejenigen, die eine erste Anschauung von der Person und Politik Matthias Erzbergers gewinnen wollen, aber nicht von der Lektüre abhalten.
Anmerkung:
[1] Klaus Epstein: Matthias Erzberger and the Dilemma of German Democracy, Princeton 1959 [dt. Ausg.: Ders.: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Berlin / Frankfurt/M. 1962; Theodor Eschenburg: Matthias Erzberger. Der große Mann des Parlamentarismus und der Finanzreform, München 1973, und Christopher Dowe: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011.
Wolfgang Elz