Johannes Tuchel / Uwe Neumärker: Der 20. Juli im "Führerhauptquartier Wolfschanze", Berlin: Lukas Verlag 2021, 372 S., ISBN 978-3-86732-342-0, EUR 24,90
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In ihrer Studie Der 20. Juli 1944 im 'Führerhauptquartier Wolfschanze' widmen Uwe Neumärker und Johannes Tuchel rund 370 Seiten dem wohl bekanntesten militärischen Umsturzversuch der deutschen Geschichte. Doch muss zu den zahlreichen Büchern, die zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus bereits erschienen sind, noch ein weiteres hinzukommen? Ist dieser Staatsstreichversuch noch nicht ausreichend erforscht? Die Antwort hierauf liefern die beiden Autoren, indem sie sich eben nicht nur mit dem Anschlag Claus Schenk Graf von Stauffenbergs sowie den politischen Aspekten von dessen Vor- und Nachgeschichte beschäftigen. Vielmehr stellen Neumärker und Tuchel die Geschichte der "Wolfsschanze" selbst, als Ort mahnender Erinnerung an Diktatur und Krieg, in das Zentrum ihres Interesses. Selbst wenn dadurch kaum neue Erkenntnisse und nur wenige neue Quellen präsentiert werden, so erleben die Leserinnen und Leser dennoch einen innovativen Perspektivwechsel auf die Besonderheiten dieses "Führerhauptquartiers" wie beispielsweise auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen oder den Alltag der Herrschaftselite in der ostpreußischen Waldlandschaft.
Insbesondere wollen die beiden Autoren "Touristen" zur kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit dem historischen Ort "Wolfsschanze" anregen (7). Bislang erkunden laut Tuchel und Neumärker viele Besucher die Reste der Anlage ohne sinnvolle Kontextualisierung, und am Ende der Besichtigung bestehe sogar die Möglichkeit, diverse Andenken - mit und ohne Totenköpfe - zu kaufen. Dabei werde völlig vernachlässigt, dass an diesem Ort die Geschichte des Zweiten Weltkrieges wie auch die nationalsozialistische Vernichtungspolitik insgesamt maßgeblich beeinflusst wurde.
Um dem entgegenzuwirken stellen die Autoren die Errichtung und Nutzung der Anlage wie auch ihr Ende im Januar 1945 ausführlich dar. Sie berichten vom Tagesablauf - mit den oftmals nachmittags stattfindenden sogenannten Morgenlagen des "Führers" -, den Lebensbedingungen in den verschiedenen Sperrkreisen sowie den zahlreichen Besuchern an diesem Regierungssitz; denn nichts Anderes war diese Bunkerlandschaft. Die Leserinnen und Leser erfahren damit nicht nur Wissenswertes über die Grundzüge der großen Politik, sondern darüber hinaus immer wieder auch, wie sich diese auf das Tagesgeschehen auswirkte - und umgekehrt: So offenbart der Blick auf den Ort hintergründige Mechanismen personenbezogener Herrschaft im NS-Staat. Denn wer sich in der deutschen Kriegs- oder Innenpolitik behaupten wollte, musste auf eine Audienz beim Diktator in der "Wolfschanze" hoffen. Und dann, zwischen den regelmäßigen Treffen mit der Führungselite des "Dritten Reiches", befasste sich Hitler mit seiner Schäferhündin Blondi, als wäre es von ähnlicher staatspolitischer Bedeutung gewesen, meist umgeben von zahlreichen militärischen oder anderen Lakaien und mittendrin - als eine Art graue Eminenz - stets der allmächtige Martin Bormann.
Freilich war die "Wolfsschanze" auch der Ort des Anschlags vom 20. Juli 1944, den die Autoren anhand zahlreicher Dokumente umfassend und detailliert schildern. Neben den Abläufen, wie wir sie seit Jahrzehnten kennen, sind weniger bekannte Informationen aus einigen Dokumenten hinzugekommen, die diesen Tag auch aus der Sicht subalterner Angehöriger des "Führerhauptquartiers" schildern. Akribisch zeichnen Tuchel und Neumärker zudem nach, wie schnell Exponenten der militärischen und politischen Elite des "Dritten Reiches" nach dem missglückten Attentat am Ort des Geschehens auftauchten und wer sich wie in den Vordergrund drängte. Ungeachtet solcher Versuche nahm Himmler als Reichsführer SS die Zügel in die Hand: polizeiliche Ermittlungen und Verfolgungswellen im Rahmen der "Aktion Gewitter" begannen sofort. Durch die geschickte Kombination von Personenbeschreibungen, Ablaufschilderungen und Zeitzeugenaussagen entsteht so eine ebenso dichte wie nachvollziehbare Beschreibung vom Geschehen am 20. Juli 1944.
Zuletzt findet man im Band die ein oder andere Pretiose vom Alltags in der "Wolfsschanze": Zar Boris III. von Bulgarien bekam beispielsweise öfters eine Dampflokomotive bereitgestellt, auf der er hin und her fahren durfte. Heinz Rühmann reiste im Jahr 1944 eigens an diesen Ort, um die Aufführung seiner "Feuerzangenbowle" im Kino zu erwirken. Hermann Göring berichtete Hitler dazu, man habe sich bei dieser - bis heute populären - Verballhornung des Schullebens die Schenkel geklopft. Hitler entschied daraufhin, der Film solle sofort anlaufen. Besondere Bedeutung bei der Bekämpfung der örtlichen Mückenplage an diesem sorgsam ausgewählten Standort besaßen wiederum Frösche, was auch dem "Führer" nicht verborgen blieb.
Es gibt sicher zahlreiche Bücher, die man anstelle dieses Kataloges in die Hand nehmen kann, um die Geschichte des 20. Juli 1944 nachzuvollziehen. Dennoch hat der hier besprochene Band wegen der Kombination eingängiger und schnörkelloser Texte sowie zahlreicher Dokumente und Bilder seinen Wert, insbesondere für die Bildungsarbeit. Für Apologeten des NS-Systems ist er dagegen nicht geeignet: Insgesamt zeichnen die beiden Autoren die "Wolfsschanze" als einen zentralen Tatort, an dem wegweisende Entscheidungen für die zahllosen Verbrechen des 'Dritten Reiches' und vor allem den systematischen Mord an den europäischen Juden getroffen wurden. Ein solides Literaturverzeichnis erweitert schließlich den Horizont für all jene, die noch mehr erfahren möchten.
Heiner Möllers