Annette C. Cremer / Alexander Jendorff (Hgg.): Decorum und Mammon im Widerstreit? Adeliges Wirtschaftshandeln zwischen Standesprofilen, Profitstreben und ökonomischer Notwendigkeit (= Höfische Kultur interdisziplinär; Bd. 4), Heidelberg: Heidelberg University Publishing 2022, 461 S., http://doi.org/10.17855/heiup.818, ISBN 978-3-96822-069-7, EUR 59,90
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Der anzuzeigende Band erscheint in einer Reihe, die die Publikationen des "Rudolstädter Arbeitskreises zur Residenzkultur" fortführt. Er vereint Beiträge zu einem Kolloquium zu Ehren von Horst Carl im Oktober 2019 in Gießen. Alexander Jendorff zeichnet einführend den Spannungsbogen, in dem die ökonomischen Aktivitäten des Adels standen. Sie bewegten sich "zwischen der Welt der Ökonomie und der Standeslogik". (13) Er sieht vorab keine konfessionsspezifischen Determinanten, benennt militärisches Unternehmertum als Feld mit den besten Profitchancen und betont die überregionale Dimension adligen Handelns (13f.). Zugleich war die ökonomische Betätigung in soziale Umfelder eingebettet. Annette C. Cremer konfrontiert das adlige Wirtschaften in der Frühneuzeit mit medial tradierten Bildern wie in der Krimiserie "Purpurne Flüsse". (27) Zugleich führt sie in die zeitgenössische Hausväterliteratur wie in Norbert Elias' "Höfische Gesellschaft" ein. "Adel" erweist sich als "Sammelbegriff für die hierarchisch gestaffelten Adelsränge". (34) Gerade deshalb sind Fallstudien notwendig, die in ihrem Beitrag knapp einer thüringischen Fayencemanufaktur, einer württembergischen Glashütte und der Seidenraupenzucht in der Pfalz gelten. Jendorffs historiographischer Aufriss zum Thema "Adel und Unternehmertum" greift auf seine 2021 erschienene Monographie zurück. [1] Ronald G. Asch vermittelt einen fundierten Überblick zu "Adel und Geld", der Schulden, den finanziellen Zusammenbruch und den entspannten Umgang mit Gläubigern (91) einschließt. "Die Einkünfte aus Grundbesitz" seien "selten ausreichend" gewesen (99). Friedrich Lenger wirft Schlaglichter auf "Adel und Kapitalismus" in terminologischer Absicht und greift dabei auf Werner Sombart und Joseph Schumpeter zurück. Sein Fazit: "Adel und Kapitalismus, das ist also kein Ausschließungsverhältnis, sondern allenfalls ein Spannungsverhältnis, bei dessen Analyse zudem das Spiel wechselseitiger Projektionen zu beachten ist". (122)
Die anschließenden Fallstudien zu adligen Unternehmern in der Frühen Neuzeit sind in drei Blöcke gegliedert. Im ersten Block "Darstellung und Fremdwahrnehmung von wirtschaftlichen Praktiken" stellt Matthias Schnettger den Adel in der Republik Genua vor, die vom Handel geprägt war. Kolja Lichy geht der Karriere des alchemistischen Entrepreneurs Louis de Hatzel nach, der als Baron de Chévremont zwischen 1727 und 1733 mehreren deutschen Fürsten Gewinne verhieß und sich am Ende durch Flucht entzog. Dieter Wunder porträtiert Ermgard von Wehren, die 1604 im hessischen Völkershausen ein Stahlwerk gründete. Es scheiterte bereits 1606; das Engagement war wegen der Risikobereitschaft und Flexibilität der adligen Unternehmerin bemerkenswert. Ein Exkurs gilt der Rolle Nürnberger Kaufleute und Adligen im niederhessischen Bergbau. Stefan Rohdewald befasst sich mit dem Anteil adliger Kaufleute im Rahmen der "Mobilitätsdynamik" zwischen dem Osmanischen Reich, Polen-Litauen, Russland und Indien ("transosmanisch") (233). Stephan Wendehorst untersucht die wirtschaftlichen Bestimmungen von Familienverträgen der deutschen Reichsstände. Ihre langfristigen Folgen reichten wie im Fall von Lippe und Waldeck bis in die Weimarer Republik hinein (280).
Der zweite Block befasst sich mit militärischen Unternehmern. Michael Weise geht dem Wirken der vielerorts übel beleumundeten Kroatenobristen im Dreißigjährigen Krieg nach. Christoph Kampmann zeigt auf, wie sich während des Pfälzischen Kriegs (1688-1697) die Reichsfürsten in Armierte und Nicht-Armierte aufteilten und welche langfristigen Folgen dies für die Landgrafschaft Hessen-Kassel hatte.
Den abschließenden Block "Handel, Investitionen ins Land und andere Risikounternehmungen" eröffnet Birgit Emich mit den Wasserbauunternhmen des Enzio Bentivoglio aus Ferrara, das seit 1598 zum Kirchenstaat gehörte. Siegrid Westphal schildert, wie Wilhelm Heinrich von Sachsen-Eisenach wie andere Landesherren vergeblich versuchte, zwischen 1736 und 1739 mit einer Klassenlotterie seine Finanzen aufzubessern. Eine Frankfurter Akte zu einem Reichskammergerichtsprozess wertet Anette Baumann aus, um zu zeigen, wie das Gesamthaus Löwenstein-Wertheim mit einem Marktschiff zur Messe reüssieren wollte. Bettina Braun erörtert am Beispiel der letzten Essener Fürstäbtissin Maria Kunigunde von Sachsen, ob die frühindustriellen Hüttengründungen in ihrem kleinen Territorium der Landesherrschaft oder ihrem privaten Engagement zuzurechnen seien. Sie belegt mit guten Gründen, dass Maria Kunigunde ihr privates Geld einsetzte. Alexander Jendorff geht unter der Frage "'König von Schlaraffenland' oder visionärer Entrepreneur?" vor allem dem Kolonialisierungsprojekt von Friedrich Casimir von Hanau nach, der 1669 im heutigen Guyana ein "Hanauisch-Indien" begründen wollte. Bei der Faktorenanalyse kommt dem MerkantilistenJohann Joachim Becher wie der Niederländischen Westindien-Compagnie eine zentrale Rolle zu.
Horst Carls zusammenfassende Bemerkungen anstelle eines Nachworts beschließen einen Band, der sowohl wegen der allgemeinen Erörterungen wie auch wegen der Fallstudien ein weites Feld für weitere (regionale wie regionenübergreifende) Forschungen eröffnet. Nicht zuletzt die aufgezeigte Relevanz des Themas "Adel und Unternehmertum" für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte wie für die Politikgeschichte der Frühneuzeit lädt dazu ein.
Anmerkung:
[1] Vgl. Wilfried Reininghaus, Rezension zu Alexander Jendorff: Virtus, Merkur und Moneten. Adeliges Unternehmertum und die Transformation der europäischen Eliten, Baden-Baden 2021, in: sehepunkte 22 (2022) Nr. 3 (15.03.2022) URL: http://www.sehepunkte.de/2022/03/36250.html.
Wilfried Reininghaus