Ricoldus de Monte Crucis: Epistole ad Ecclesiam triumphantem. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Martin Michael Bauer (= Quellen und Untersuchungen zur Lateinischen Philologie des Mittelalters; Bd. 24), Stuttgart: Anton Hiersemann 2021, VIII + 249 S., ISBN 978-3-7772-2036-9, EUR 168,00
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Den Text, der in dieser Edition geboten wird, dieser Tage zu lesen, mutet seltsam an. Non ad te pertinet quia perimus? Diese Frage könnte gegenwärtig ein Latein schreibender Ukrainer formulieren, stammt aber aus dem hier zu besprechenden Band, der eine Edition der Briefe an die triumphierende Kirche des Ricold von Montecroce darbietet. Der ganze Text ist eine (zeitlich verzögerte) Reaktion auf die finale Niederlage der Kreuzfahrerstaaten auf dem Festland mit dem Fall von Accon 1291. Ricold schreibt, er habe zuvor Briefe an weltliche Potentaten geschickt, die ihm jedoch nicht geantwortet hätten. Das steigert seine Verzweiflung über die Zeitläufte, so dass er beschließt, sich direkt an Maria, die Gesamtheit der Heiligen und Gott selbst zu wenden. Nachdem auch hier eine Antwort zunächst ausbleibt, antwortet ihm Gott indirekt doch noch durch die Moralia in Job Gregors des Großen. Ricold ist dankbar, dass er überhaupt eine Antwort erhält, muss aber doch schließen, dass er einen praktischen Anteil der Antwort weiterhin vermisst: Pro responsione denique theorica gracias ago, practicam vero nichilominus affectuose atque indesinenter expecto (170).
Doch genug davon und zurück zur eigentlichen Rezension der Edition. Der Autor ist leidlich bekannt und gehört wohl zu den schillernderen Schriftstellern des lateinischen Mittelalters: Ein Dominikaner, der im Rahmen der dominikanischen Mission in den Orient abkommandiert wurde, dort phasenweise womöglich inkognito leben musste - so zumindest seine Selbstdarstellung - und schließlich noch Prior des Dominikanerkonvents in Florenz wurde (6-11). Die vorliegenden 'Briefe' sind nicht das einzige überlieferte literarische Werk Ricolds, das möglicherweise noch umfangreicher war; jedenfalls dürfte er eine ganze Reihe Predigten verfasst haben, die indes nicht mehr überliefert sind (11-20, zum Verlust 12). Das Œuvre ist insgesamt stark auf den Orient fokussiert: Ricold arbeitete sich immer wieder am Islam und den Muslimen ab. Dabei waren die Epistole ad Ecclesiam triumphantem sicherlich kein Bestseller: Nur in einer Handschrift ist der Text überliefert, einige wenige weitere Überlieferungsträger können erschlossen werden (20-22). Die Epistole sind bereits gedruckt worden. Bis heute ist dabei die Transkription aus dem Jahre 1884 von Reinhold Röhricht heranzuziehen; Emilio Panella hat 1989 die einzige bekannte toskanische Übersetzung des ersten Briefes ediert. [1]
Damit stellt sich die Frage, weshalb es eine Edition dieses Textes braucht. Die einzige erhaltene Handschrift war bereits 1884 in schlechter Verfassung, vieles konnte nicht mehr gelesen werden. Bauer hat von den Möglichkeiten moderner Technologie profitiert und konnte ein Infrarot-Digitalisat bekommen und auf dieser Grundlage die Lesungen deutlich verbessern. Die Frage, weshalb man nun diesen nur unikal überlieferten Text edieren sollte, lässt sich gleichfalls recht einfach beantworten: dadurch wird eine Lücke in der Ricold-'Werkausgabe' geschlossen, die es ermöglicht, auf Grundlage dieses breit gestreuten Oeuvres Überlegungen zur Bindung der Kreativität eines Autors an Genres anzustellen (überzeugend 19-20). Der Text selbst ist ein Ringen, ja ein Verzweifeln an Gott und insofern ein Kommentar zur im allgemeinen Mittelalterbild immer noch zu findenden 'Kirchenhörigkeit' des Mittelalters. Dieses Ringen macht den Text auch außerhalb der Wissenschaft zu einer interessanten Lektüre.
Bauer bietet eine klassische Edition. Das bedeutet, dass der Autor im Rahmen der Möglichkeiten vorgestellt und der gebotene Text in das Gesamtwerk eingeordnet wird. Die Epistole werden sodann literaturwissenschaftlich vorgestellt. Dabei bewegt sich Bauer auf der Höhe der Forschung. Zum Forschungsstand mag man am ehesten im paläographischen Teil Einwände erheben, da für diese im spätmittelalterlichen Italien entstandene Handschrift immer noch Bischoffs Paläographie des römischen Altertums die Leitpublikation bleibt, Derolez wird noch angefügt. Cherubini / Pratesi kommen nicht vor, was meiner Einschätzung nach trotz der Herkunft des Schreibers das bessere Referenzwerk gewesen wäre. [2]
Die literaturwissenschaftliche Vorstellung mag vielleicht punktuell etwas bemüht anspruchsvoll formuliert sein (bspw. 33), manchen literaturwissenschaftlichen Höhenflug muss man nicht unbedingt mitgehen, wenn etwa die "Ereignisse nicht nur erzählt, sondern gleichzeitig auch performativ vergegenwärtigt werden" (39). Parallelen zu anderen Werken werden aufgezeigt, aber Bauer wägt sorgsam und überzeugend ab, ob es sich um gerne unterstellte direkte Abhängigkeiten oder doch nur um gemeinsame Vorbilder handelt. Überlegungen zum möglichen Publikum, wohinein auch Erörterungen möglicher arabischer Lehnwörter fließen, vermögen gleichfalls zu überzeugen.
Zur Qualität der eigentlichen Edition ist erfreulich wenig zu sagen, außer, dass ein guter lateinischer Text geboten wird, der nahezu frei von Flüchtigkeitsfehlern ist. Die Similien werden ebenso sorgfältig nachgehalten wie die Abweichungen von der Handschrift und früheren Ausgaben. Die deutsche Übersetzung ist sehr gut geraten; auch hier wird man in Details immer abweichen können.
Der Kommentar ist gleichfalls gut gemacht, gleichwohl mag ein vorgebildeter Leser, was wohl die Hauptzielgruppe der Edition sein dürfte, hin und wieder zumindest zu anderen Begründungen kommen. Einige wenige Beispiele: Im Kommentar zu I 16 erwägt Bauer zur Ricold'schen Schilderung, dass Dominikaner in Marokko das Martyrium erlitten haben, dass dies die einzige Erwähnung dieses Sachverhaltes sei, verweist auf die bekannten Martyrien von Franziskanern, und schließt dann damit, dass ein dominikanisches Martyrium "im Bereich des historisch Möglichen" gelegen habe. Das mag so sein; freilich ist es mindestens ebenso vorstellbar, dass hier der dominikanische Autor versucht hat, franziskanische Martyrien zu 'usurpieren'. Zu I 19 schließt Bauer aus aliis regibus [et baronibus], dass damit wohl auch Friedrich Barbarossa gemeint sein könnte. Auf diese anderen Könige und Barone folgt zunächst das tödliche Schicksal, dem Mittelmeer ausgeliefert zu sein. Ricoldus erwähnt aber auch welche, die submersi et suffocati in parvis fluminibus, was mir deutlich präziser auf den Tod durch Ertrinken im Saleph anzuspielen scheint. Wie viel durch die vermutlich modernere Bezeichnung des "Ilchane-Reichs" (189) gegenüber dem 'Ilkhanat' gewonnen wird, wie es noch im Ausstellungskatalog zu Dschingis Khan genannt wird, sei dahingestellt.[3] Diese Beispiele sind zugegebenermaßen alle aus dem vorderen Teil der Kommentare, ließen sich aber ohne Weiteres für die folgenden Briefe fortführen.
Die Leserschaft dieses Buches wird vermutlich recht klein sein, was angesichts des gebotenen Textes und der Qualität des gesamten Bandes sehr bedauerlich ist: Alle Kritik, die oben geäußert wurde, ist Klagen auf sehr hohem Niveau. Als Summe der Kritik lässt sich festhalten, dass mitunter ein etwas enges Haften am historischen Schriftsinn auf hohe literarische Abstraktion trifft. Möge mir die Leserschaft nachsehen, wenn ich damit schließe, dass den eingangs hypothetisierten aktuellen Klagen mehr Erfolg beschieden sein möge als Ricolds Flehen.
Anmerkungen:
[1] Reinhold Röhricht: Ricoldi de Monte Crucis Ordinis Praedicatorum Epistolae V de perditione Acconis 1291, in: Archives de l'Orient Latin 2 (1884), 258-296; Emilio Panella: Preghiera e Protesta. La prima Lettera di Riccoldo, in: Archivum Fratrum Praedicatorum 59 (1989), 17-88.
[2] Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Mit einer Auswahlbibliographie 1986-2008 von Walter Koch, Berlin 2009 (4. Aufl.); Albert Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelfth to the Early Sixteenth Century, Cambridge 2003; Paolo Cherubini / Alessandro Pratesi: Paleografia Latina. L'avventura grafica del mondo occidentale, Città del Vaticano 2010.
[3] Dschingis Khan und seine Erben. Das Weltreich der Mongolen, Ausstellung in Bonn 16.06. - 25.09.2005 und München 26.10.2005 - 29.01.2006, hg. von Jutta Frings, München 2005.
Andreas Kistner