Rezension über:

Hannelore Helfer: kein wurm so sich nit krömt als man ihn tritt. Das Leben der Charlotte von Hessen-Kassel Kurfürstin von der Pfalz (1727-1686) (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften; Bd. 122), Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2021, 368 S., 16 Abb., ISBN 978-3-95505-218-8, EUR 29,80
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Rezension von:
Sybille Oßwald-Bargende
Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Sybille Oßwald-Bargende: Rezension von: Hannelore Helfer: kein wurm so sich nit krömt als man ihn tritt. Das Leben der Charlotte von Hessen-Kassel Kurfürstin von der Pfalz (1727-1686), Heidelberg / Ubstadt-Weiher / Basel: verlag regionalkultur 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 7/8 [15.07.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/07/36072.html


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Hannelore Helfer: kein wurm so sich nit krömt als man ihn tritt

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Trotz der jüngeren Forschung zur höfischen Gesellschaft sind manche alten Klischees immer noch wirkmächtig, so zum Beispiel jenes vom "Rosenkrieg" zwischen dem kurfürstlichen Paar Charlotte und Karl Ludwig von der Pfalz, den insbesondere die als kokett, geistlos und zudem zänkisch geschilderte Charlotte befeuert haben soll. Den sensationsheischenden Plot eines Ehezwists vervollständigen ein selbstherrlicher Scheidungsversuch des Kurfürsten sowie dessen mehr oder weniger heimlich geschlossene Zweitehe mit einem Fräulein von Degenfeld. Als leidtragende Nebenfigur erscheint in dieser Erzählung noch die Liselotte genannte kleine Tochter des Paares. Weniger als Opfer eines Ehedramas denn als unermüdliche Briefeschreiberin und scharfzüngige Beobachterin höfischen Lebens hat sich Liselotte von der Pfalz, spätere Herzogin von Orléans und Schwägerin Ludwigs XIV. von Frankreich, ins kollektive Gedächtnis eingeprägt.

Diesem Narrativ stellt nun Hannelore Helfer erstmals eine Biografie der Kurfürstin Charlotte entgegen. Ihre schon im Vorwort erklärte Absicht ist es, das Negativimage der Kurfürstin zu korrigieren. Als Herausgeberin der sogenannten Harling-Briefe, d.h. Liselottes von der Pfalz über Jahrzehnte geführte Korrespondenz mit ihrer Erzieherin und deren Ehemann, verfügt Helfer über profunde Kenntnisse der damaligen Situation am kurpfälzischen Hof und der einschlägigen Quellen. [1]

Den Lebensweg der Kurfürstin Charlotte, einer geborenen Prinzessin von Hessen-Kassel, zeichnet ihre Biografin insbesondere anhand von ausführlichen Briefzitaten und -paraphrasen detailreich nach. Auch in ihrer Darstellung steht der Ehekonflikt mit seiner Quellendichte im Fokus. Der bislang dominanten Perspektive Karl Ludwigs hält Helfer nun allerdings ausgiebig Charlottes Sichtweise entgegen. Darüber hinaus verdeutlichen Äußerungen von Angehörigen der kurpfälzischen und hessischen Dynastien sowie Stellungnahmen der zur Lösung des Ehekonflikts herangezogenen Beamten und fürstlichen Mediatoren das komplexe Geschehen.

Wo für Eheschließungen nicht primär Zuneigung, sondern dynastisches und politisches Kalkül ausschlaggebend waren, lag die Gefahr stets nahe, dass charakterliche Unvereinbarkeiten und sich ändernde Interessenslagen zu Ehekonflikten führten. Hatte sich Karl Ludwig ursprünglich sehr um die 1650 geschlossene Ehe mit Charlotte von Hessen-Kassel bemüht - die Allianz der beiden protestantischen Häuser war ihm zu diesem Zeitpunkt wichtig -, so bezichtigte er Charlotte schon bald nach der Hochzeit eines ungebührlichen und gegen die Norm der unterwürfigen Ehefrau verstoßenden Verhaltens. Rasch beließ es der pfälzische Kurfürst nicht bei Vorwürfen, sondern versuchte, seine Frau etwa mit Stubenarrest oder dem Ausschluss von der höfischen Geselligkeit zu isolieren und zu disziplinieren. Ab 1655 drohte er schließlich mit der Scheidung.

Seinem Scheidungswunsch standen allerdings juristische und theologische Argumente entgegen - und mehr noch die verschlungenen Abhängigkeiten zwischen den Höfen und Dynastien des Reiches. Zwar war nach protestantischem (und damit im Falle der reformierten Kurpfalz ausschlaggebendem) Verständnis eine Ehescheidung aus gewissen Gründen theoretisch möglich, allerdings nur bei erwiesener Schuld. Die eindeutige Schuldzuweisung war jedoch ein schwieriges Unterfangen und gefährdete die Ehre aller Beteiligten - in einer Gesellschaft, die auf sozialem Kapital gründete, ein wesentlicher Gesichtspunkt. Die Streitfrage, welches Gericht und welcher Richter denn für ein fürstliches Scheidungsverfahren eigentlich zuständig wären, erscheint vor diesem Hintergrund eher als Teil einer Drohkulisse.

Unausgesprochen (und so wohl auch nicht intendiert) lässt sich Helfers Biografie der Kurfürstin Charlotte als erhellende Fallstudie über die ebenso wichtige wie fragile Rolle einer Fürstin im Zeitalter der höfischen Gesellschaft lesen. Mit Rekurs auf Norbert Elias' richtungsweisenden Analyseansatz [2] legt das von Helfer in überbordender Fülle ausgebreitete und etwas unübersichtlich dargebotene Material die Schlussfolgerung nahe, dass für Charlottes Handlungsweise und -spielraum primär ihre Position als Fürstin ausschlaggebend war und erst in zweiter Linie ihre wie auch immer geartete Persönlichkeit. Dafür spricht allein schon der andauernde Rückhalt durch ihre Herkunftsfamilie und deren weitgespanntes Familiennetz sowie von Seiten einiger Standesgenossinnen.

Bildlich gesprochen ging es in einer Art von Schachspiel darum, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln - darunter reichlich Klatsch und Tratsch - die "Dame", also die Kurfürstin, entweder im Spiel zu halten oder aus dem Feld zu schlagen. Wobei Charlotte gleichzeitig Spielfigur und Akteurin war. Das langwierige Geschacher war bei Karl Ludwigs Tod im Jahr 1680 immer noch nicht entschieden. Zwar war Charlotte 1662 in ihre Heimat zurückgekehrt, hatte sich das Paar also separiert. Den Anspruch auf den Status als Karl Ludwigs rechtmäßige Ehefrau und Reichsfürstin hielt sie jedoch beharrlich aufrecht. So kam es, dass sie ihre letzten Lebensjahre doch wieder in der Kurpfalz verbrachte, wenn auch als fürstliche Witwe eher auf einer Nebenposition.

Hannelore Helfers in einem letzten Abschnitt über die Langlebigkeit von Legenden geäußerte Sorge, die mit Halbwahrheiten und Verdrehungen konstruierten Klischees könnten an der Kurfürstin Charlotte unverbrüchlich kleben bleiben, kann sich eigentlich nur auf die anhaltende Beliebtheit historischer Skandalgeschichten bei einem breiten Lesepublikum beziehen. Dessen Interesse an ihrer Rehabilitation der Kurfürstin Charlotte von der Pfalz war immerhin so groß, dass ihr Buch im Handel bereits (vorerst?) vergriffen ist.


Anmerkungen:

[1] Hannelore Helfer (Hg.): Liselotte von der Pfalz in ihren Harling-Briefen, Hannover 2007.

[2] Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Darmstadt 1969.

Sybille Oßwald-Bargende