Ricarda Rapp: Pascal Paoli und die Korsische Verfassung, Rom / Madrid / Berlin / London: Europa-Verlagsgruppe 2020, 142 S., ISBN 979-12-201-0314-5, EUR 13,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Matthias Klöppel: Revolution und Reichsende. Der Transformationsprozess von 1789 bis 1806 im Spiegel ausgewählter Leipziger Periodika, Wiesbaden: Harrassowitz 2019
Bettina Braun (Hg.): Konkurrenz und Transfer. Das preußisch-österreichische Verhältnis im 18. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2023
Katalin Polgar: Das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Deutschlands (1820-1879) und seine Richterpersönlichkeiten, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006
Ricarda Rapps Publikation ist sehr verdienstvoll. Sie behandelt Pascal Paoli, den Hauptautor der korsischen Verfassung von 1755 und stellt diese im Detail vor. Das ist deswegen beachtenswert, weil die korsische Verfassung von 1755 in den gängigen Verfassungsgeschichten übergangen wird. Das ist ein Manko, weil die korsische Verfassung von 1755 mit einem allgemeinen Männerwahlrecht ab 25 Jahren, auch einem Wahlrecht für Frauen, wenn sie z.B. als Witwe, einen landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieb führten, weit moderner war als die Verfassungen der USA von 1777 bzw. 1787, nach der Indigene, Sklaven und weibliche Bewohner von der politischen Partizipation ausgeschlossen waren, oder die französischen Revolutionsverfassungen ab 1791, die alle über ein Zensuswahlrecht verfügten, welche die Masse der Wenigerbegüterten sowie alle Frauen vom Wahlrecht ausschlossen. Die Präambel der korsischen Verfassung von 1755 beginnt mit den Worten "Die allgemein Dieta [repräsentative Versammlung] des korsischen Volkes, gesetzmäßig Herr seiner selbst". (38) Das ist eine klare Beschreibung der Volkssouveränität. Zudem waren die Gewalten Exekutive, Judikative und Legislative klar getrennt, sieben Jahre nach dem Erscheinen von Montesquieus "De l'esprit des loix". Allerdings gibt es auch archaische Elemente, wie die Sippenhaft (50, 62). Zudem wird zuweilen die Kenntnis ungeschriebenen Rechts, des Herkommens, beispielsweise hinsichtlich des aktiven Wahlrechts vorausgesetzt. Die korsische Konstitution von 1755 ist daher "nur mit Abstrichen als moderne Verfassung" zu bezeichnen, "denn Charakteristika moderner Verfassungen werden teilweise nicht vollständig erfüllt". (71)
Der Aufbau von Rapps Publikation gliedert sich in sechs Abschnitte. Die Einleitung gibt den dürftigen Forschungsstand wieder. Das zweite Kapitel schildert den historischen Kontext der korsischen Verfassung von 1755 und bietet eine Kurzbiographie Paolis. 1729 begann Korsika sich gegen die genuesische Herrschaft aufzulehnen. Der Unabhängigkeitskampf währte fast ein halbes Jahrhundert und wurde durch die französische Besatzung 1769 beendet. Von 1755 bis 1769 waren die Genuesen fast vollständig vertrieben und Pascal Paoli und seine Mitstreiter unternahmen mittels der Verfassung den Versuch, einen funktionierenden Staat aufzubauen. Am Ende wurde Korsika zur französischen Kolonie. Die Genuesen hatten die widerborstige Insel im Vertrag von Versailles 1768 an Frankreich verpfändet und nie wieder ausgelöst.
Das dritte Kapitel behandelt die Frage, inwieweit die Verfassung Korsikas von 1755 modern gewesen sei und bietet eine Übersetzung des Verfassungstextes mit anschließender Analyse. Der vierte Abschnitt stellt die Rezeption Paolis und Korsikas im zeitgenössischen Europa dar. Der fünfte Teil beschreibt die Zusammenhänge zwischen Paolis Korsika und der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. Dem abschließenden Fazit folgt ein Anhang mit Literaturverzeichnis sowie Vorläufer- und Begleitdokumenten der Konstitution aus den Jahren 1735 und 1755, der Präambel der französischen Verfassung von 1791 und einem Brief Katharinas II. von Russland an Paoli.
Die Fragestellung der Verfasserin richtet sich insbesondere auf die Modernität der Konstitution von 1755 und ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung, wie auch der Ausstrahlung von Paolis Persönlichkeit. Hierfür hat sie eine beeindruckende Zahl zeitgenössischer Quellen versammelt.
Der Forschungskontext ist überschaubar. "In der bisherigen Forschung wurde die Verfassung Korsikas von 1755 entweder als Factum hingenommen, oder aber gänzlich ignoriert". "Zweifelsohne war auch die Verfassung von 1755 ein Novum. Jahrzehnte vor den bekannteren modernen Verfassungen von Frankreich und den USA, stellt sie ein ihnen sehr ähnliches Dokument dar, das man fast als moderne Verfassung bezeichnen kann. Das Dokument als solches wurde im Europa seiner Zeit jedoch nicht beachtet." (Buchrücken).
Nur wenige wie Rousseau, Voltaire und einige Reiseschriftsteller haben sich mit der korsischen Verfassung befasst (13). Das lag daran, dass die Zeitgenossen noch keinen modernen Verfassungsbegriff entwickelt hatten. Die älteste, noch heute mit Änderungen gültige, Verfassung, jene San Marinos von 1600, fand weder bei den Zeitgenossen, noch in jüngeren Verfassungsgeschichten Aufmerksamkeit. Englands erste geschriebene Verfassung, das "Instrument of Government" unter Lordprotektor Oliver Cromwell von 1653, hatte nur kurze Zeit Bestand und war eigentlich nur eine Verfassungsfassade, die eine Diktatur verbrämte, wie heute in Russland und anderswo. Ältere Herrschaftsverträge städtischer Obrigkeiten mit Zünften und Gilden oder von Fürsten mit ihren Ständen wie der "Mecklenburgische Landes-Grund-Gesetzliche Erb-Vergleich" von 1755 haftete noch der Charakter von mittelalterlichen Privilegienbestätigungen gegenüber herausgehobenen Gruppen an, wie auch der berühmten Magna Carta von 1215.
Die These des Rezensenten ist, dass das fundamentale Neue der korsischen Verfassung schlicht nicht erkannt wurde, während Paoli als Freiheitskämpfer und -held in ganz Europa zur Berühmtheit wurde. In diesen Kontext gehört auch, dass es Paoli als General der Insel, als Staatsoberhaupt, mit dem Aufbau eines verfassungsfundierten, mehrstufigen Gerichtswesens gelang, die Vendetta, der bei einer Gesamtbevölkerung von 130.000 pro Jahr 900 Menschen zum Opfer fielen, massiv einzuschränken. Ebenso baute er Landestreitkräfte, eine Marine und einen selbständigen Außenhandel auf, schuf ein Gesetzes-, bzw. Regierungsblatt, gründete in Corte die noch heute bestehende Universität und schaffte die Folter ab. Paoli stellte die Juden gleich und ordnete Pockenimpfungen an (112). Er war ein aktiver, handelnder Aufklärer und wurde so zum Liebling der europäischen Intellektuellen. Auch in der nordamerikanischen Aufklärersozietät "Sons of Independance" wurde auf sein Wohl getrunken. Gleichwohl hielt sich Paoli hinsichtlich der amerikanischen Unabhängigkeitsbestrebungen zurück. Im Exil bezog er eine Pension vom britischen König. Großbritannien stand in Konkurrenz zu Frankreich, welches die Insel erobert und Paoli ins Ausland gezwungen hatte.
Die Stärke der Veröffentlichung, ein großes Verdienst, ist das Sujet. Zu den Schwächen gehören einige historische Ungenauigkeiten. Es wäre sehr erstaunlich, wenn Paoli auf seiner Rückreise aus dem Londoner Exil 1790 in Paris von dem 1774 verstorbenen Ludwig XV. empfangen worden wäre (32). Ein österreichischer König Joseph II. ist der Geschichtswissenschaft ebenso unbekannt wie ein Königreich Österreich oder Holland (86). Gabriel Bonnot de Mablys "Collection complète des œuvres" ist nicht "als Dialekt geschrieben" (96), sondern dialektisch aufgebaut.
Die Übersetzung der Verfassung wirkt über weite Strecken wie von einer Internetübersetzungsmaschine ohne menschliches Lektorat: "Man braucht für die erste Anhörung diesen letzten Vergleich in drei Tagen, um sich zu entgegnen und zu widersprechen, um nicht vom Richter verurteilt zu werden über das, was in der Forderung ausgedrückt ist, auf die der Angeklagte schriftlich kann oder durch Notizen in den Akten des Kanzlers des Hofes, gegen was er widerspricht". (43) Es scheint zweifelhaft, dass Paoli, der Machiavellis "Fürst", Montesquieus "Geist der Gesetze" sowie die antiken Klassiker Virgil, Polybos und Plutarch studiert hatte, so schrieb (27). Zudem gründet die Arbeit ausschließlich auf der überschaubaren italienischen, französischen und englischen Literatur. Archivstudien wurden nicht angestellt. Aber dies ist in Hinsicht auf deutschsprachige Rezipienten wohl eher ein Verdienst, als ein Manko, weil wir auf Deutsch bislang nichts Besseres als Ricarda Rapps Veröffentlichung haben.
In abschließender Würdigung ist der Autorin zuzustimmen: Im "Vergleich mit den Verfassungen der USA und Frankreich lässt sich festhalten, dass die korsische Verfassung in großen Teilen mit dem modernen Verfassungsbegriff übereinstimmt". (118) Warum ist die korsische Staatsordnung von 1755 dann bis heute so wenig bekannt? Korsika wurde 1769 eine französische Kolonie und auch seine Geschichte wurde kolonialisiert. Frankreich identifiziert sich mit Napoleon, der in Korsika geboren wurde. Die Erinnerung an ihn ist dort allgegenwärtig. Das Andenken an Paoli und die Verfassungsgebung von 1755 ist weniger sichtbar. Der historische Hauptidentifikationspunkt der Franzosen ist die Französische Revolution und die angeblich erste moderne Verfassung in Europa, drei Monate nach der polnischen. Zu dieser gloriosen Narration passt es nicht, dass Frankreich 1768/69 ein Land eroberte, das sich kurz zuvor eine weit demokratischere Verfassung gegeben hatte als die revolutionären Verfassungen mit ihrem Zensuswahlrecht. Das wirkt bis in neueste wissenschaftliche Verfassungsgeschichten nach. Auch in einer französischen Arte-Dokumentation von 2021 (Pascal Paoli, der aufgeklärte Korse) kommt die Verfassung nicht vor. Sie ist ganz der Person des Freiheitskämpfers und Gründers eines verhinderten Nationalstaats, Paoli, gewidmet.
Wolfgang Burgdorf