Nikolas Pissis: Russland in den politischen Vorstellungen der griechischen Kulturwelt 1645-1725 (= Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas; Bd. 10), Göttingen: V&R unipress 2020, 502 S., ISBN 978-3-8471-0873-3, EUR 65,00
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Die hier publizierte Dissertation ist in mehrfacher Hinsicht ein gelungener Beitrag zu einem Forschungsfeld, das für die Historiographie zum Moskauer Reich und Petersburger Imperium gelegentlich eine Rolle gespielt hat, in dem aber kaum im Sinne einer Verflechtungsgeschichte einer "intellectual history" politischer Vorstellungen gearbeitet worden ist. Gegenwärtige Annahme und Reden von einer russischen Mission auf der Krim und im Schwarzen Meer zeigen für den russischen geschichtspolitischen Diskurs, wohin diese Introspektion führen kann. Umso wichtiger ist die Dissertation von Nikolas Pissis, der Ekkehard Krafts Arbeit über Moskaus "Griechisches Jahrhundert" [1] konsequent und umfassend erweitert. Als Betrachtungszeitraum wählt er angelehnt an die Regierungszeit der Zaren Aleksej und Peter I. sinnvollerweise eine Periode verstärkten Wandels im Russischen Reich und hinterfragt nebenbei tradierte Periodisierungen der russischen Geschichte, greift aber in der Analyse auch darüber hinaus. Ihn interessieren im Grunde Erwartungshalten und Vorstellungen griechischer Eliten vom Fall Konstantinopels 1453 bis in die Epoche Katharinas II.
Die Arbeit enthält nach einer theoretisch-konzeptionell ausgezeichnet informierten Einleitung - nicht alle Angebote, die er dort aufruft, braucht er für seine empirische Arbeit zwingend - drei Teile. In den "Grundlagen" skizziert er die Position der orthodoxen Kirche im Osmanischen Reich, auch und gerade mit Blick auf politische Handlungsmöglichkeiten. Sodann erörtert er die mit Blick auf sein Thema die so wichtigen Loyalitätsfragen: Was konnte man eigentlich vom Zaren und von Moskau als aufsteigendem Zentrum der Orthodoxie erwarten? Was gebot die Loyalität zum Sultan? Es folgt die - nicht oft genug zu wiederholende - Relativierung der Denkfigur von "Moskau - dem Dritten Rom" als politisches Konzept, ein Überblick über die Verschränkung von griechischer und russischer Kultur nach 1453 sowie eine Erörterung der Orthodoxie im Lichte des Konfessionalisierungsparadigmas. Der zweite Teil enthält einen problemorientierten Durchgang durch Stationen griechisch-russischer Beziehungen dieser Zeit und benennt (politische) Pläne und Projekte, Akteure und Kontexte. Der empirische Hauptteil ist die Herausarbeitung von Denkfiguren und Vorstellungen, etwa einer von der Herrscher- bzw. Kaiseridee geleiteten orthodoxen Theologie, die der Verfasser vergleichend in die gesamteuropäische Geschichte einordnet und in der auch die Position des Sultans verortet wird. Er diskutiert die vielen Überlegungen einer "Translatio Imperii", die teilweise zu einer Überhöhung Moskaus durch griechische Autoren führten, sowie das Aufkommen der Russen als dem "blonden Volk" aus dem Norden, das über Konstantinopel herrschen wird, entnommen aus theologischen Texten und politisch kontrovers genutzt. Schließlich analysiert er den griechischen Blick auf das "veränderte Russland" (Friedrich Christian Weber) unter Peter I., das durch seine Kriege näher rückte. Eine Edition ausgewählter griechischer Texte, die in all diese Denkfiguren Einblick geben, rundet den analytischen Teil ab. So entsteht ein heterogenes Panorama von Topoi von Russland als orthodoxer Führungsmacht, dem Zaren als designiertem Erbe der oströmischen Kaiser sowie Schutzherr und messianischer Erlöser der "gefangenen" Orthodoxie aus der osmanischen Herrschaft, die auf das Selbstverständnis der russischen Autokratie, aber auch die Wahrnehmungen der europäischen Diplomatie und der Hohen Pforte wirkten.
Nikolas Pissis hat ein in jeder Hinsicht grundgelehrtes Buch vorgelegt, das sicher zu einem Standardwerk werden wird. Er überschaut souverän die griechische, sowjetische und russische Forschung sowie die internationale Forschung zum Thema und trägt umfassend zur Differenzierung von tradierten Narrativen in Russland und Griechenland bei, die stark auf Narrativen aus der Zeit der Nationsbildung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beruhen. Immer wieder hinterfragt er sein Thema auf die Relevanz für aktuelle und ältere Forschungsdiskurse, etwa zur Konfessionalisierung, zur Aufklärung, der Angemessenheit von Periodisierungen und Temporalitäten - und kommt immer wieder zu dem Befund, dass Konzepte und Schemata nicht ohne Weiteres auf das 17. und frühe 18. Jahrhundert der griechisch-russischen Beziehungen zu übertragen sind. Ohne Zweifel sind für sein Thema, das immer gesamteuropäisch einbettet, die "Eigenzeit" der miteinander verschränkten Diskurse in den russischen und griechischen Eliten von großer Bedeutung; sie wirkten auf Vorstellungen und Erwartungen insbesondere der griechischen Eliten unter osmanischer Herrschaft, die den Aufstieg der Zaren als orthodoxe Herrscher bewusst wahrnahmen und auf eigene Handlungsmöglichkeiten und Erwartungen hin abklopften. Dem Werk von Pissis ist eine breite Rezeption zu wünschen, es hat es verdient!
Anmerkung:
[1] Ekkehard Kraft: Moskaus griechisches Jahrhundert. Russisch-griechische Beziehungen und metabyzantinischer Einfluss 1619-1694, (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 43), Stuttgart 1995.
Jan Kusber